|57|7.

Francesco trat von der Staffelei zurück und betrachtete das Bild. Der Farbauftrag war ihm gut gelungen. Das schmale Gesicht Angelinas wirkte wie von einfallendem Licht beleuchtet, der Ausdruck war halb ernst, halb schaute sie ihn irgendwie … wissend an. Das tiefe, dunkle Rot des Kleides hatte er schon aufgetragen. Es war ihm, als höre er die Seide knistern. Es fehlten noch die kleinen Blüten aus Goldperlen, Hemd und Unterkleid. Er würde Eierschalen zerreiben müssen, um den Farbton genau zu treffen. Sein Blick blieb auf dem Ansatz ihres Busens hängen.

Den Ausschnitt könnte er noch ein wenig tiefer malen oder Angelina noch einmal bitten, das Kleid über die Schulter herunterzuziehen. Er lächelte. Ob sie es tun würde? Was würde Botticelli, was würde Savonarola dazu sagen? Könnte das Bild nicht schließlich ein Raub der Flammen werden? Andererseits hatte Botticelli selbst Frauen in verführerischen Posen gemalt. Verschleuderte ein Künstler wie Sandro nicht sein ganzes Talent? Und würde nicht auch er sich verschleudern, indem er sich einer Kunstauffassung beugte, die nur Gottgefälligkeit zum Inhalt hatte?

Francesco griff zu einem Tuch, das mit Farbspritzern bedeckt war, und hängte es über das Bild. Er seufzte und begann, die Pinsel auszuwaschen und die Palette zu säubern. Die Gesellen und Gehilfen Botticellis arbeiteten leise und unterhielten sich in gedämpftem Ton. Vom Dom hörte Francesco die Glocke drei Mal schlagen. Angelina musste bald hier sein. Das Knarren der Tür ließ ihn auffahren. Da war sie. Mit einem feinen Lächeln steuerte sie auf ihn zu, ließ sich aus dem Mantel helfen, doch dann erstarrte ihre Miene.

»Seid Ihr nicht wohlauf, Angelina?«, fragte der Maler. »Ist etwas geschehen?«

|58|Sie schlug die Augen nieder, hob dann den Kopf.

»Ich bin von zu Hause fortgelaufen«, platzte sie heraus. »Meine Eltern wollten mir verbieten, hierher zu Euch zu kommen.«

»Und jetzt?«, fragte er und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Ich … ich weiß es nicht«, stammelte Angelina.

»Wollt Ihr es Euch nicht noch einmal überlegen?«, meinte er sanft. »Ihr könnt Eure Eltern gewiss noch umstimmen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie wollen mich verheiraten!«

Etwas blitzte in seinen Augen auf.

»Mit wem denn, wenn ich fragen darf?«

»Mit Tomasio Venduti.«

Francesco begann zu lachen. Als er Angelinas entgeisterten Blick bemerkte, hielt er inne und sagte:

»Verzeiht, wenn mich das belustigt hat. Signor Venduti ist bekannt als ein sehr zurückhaltender, wenn nicht schüchterner Mann, der nur selten in der Gesellschaft auftaucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es gewagt hat …«

»Er hätte um meine Hand angehalten, sagen meine Eltern.«

»Wollt Ihr ihn denn heiraten?«

»Aber nein! Das hat doch überhaupt Zeit mit dem Heiraten, ich meine, es gibt so viele andere schöne Dinge, die ich noch gern tun würde.«

»Zum Beispiel einem Maler Modell zu sitzen, nicht wahr?«

Angelina wurde rot. »Auch das, ja, aber noch vieles mehr!«

»Was glaubt Ihr denn, was ich Euch in einer solchen Lage raten sollte?«, wollte er wissen.

»Wahrscheinlich, zu meinen Eltern zurückzukehren. Was bleibt mir denn anderes übrig.«

»Ihr habt sicher nicht viel Geld bei Euch«, gab Francesco zu bedenken. »Ich kann Euch leider nicht unterstützen, ich bin nur …«

»Ich weiß«, sagte sie.

Angelina wandte sich zum Fenster und blickte eine Weile hinaus. |59|Die Strahlen der Sonne waren schwächer geworden, die Schatten wanderten an den Mauern hinauf.

»Ich glaube, ich weiß, was ich zu tun habe«, sagte Angelina. »Ich werde nach Hause zurückgehen und morgen heimlich wiederkommen. Irgendwie wird es mir gelingen, der Aufmerksamkeit meiner Mutter und der Mägde zu entgehen.«

Francesco schien besorgt. »Aber was ist, wenn es Euch nicht gelingt?«

»Ich werde einen Weg finden, dessen bin ich mir sicher«, meinte sie. »Jetzt muss ich gehen.« Angelina blickte sorgenvoll hinaus.

»Ich werde Lucas beauftragen, Euch ab und zu einen Brief zu überbringen«, sagte Francesco leise. »Er wird sicher nicht erfreut sein, dass Sonia nicht mehr bei ihm vorbeikommt.«

»Aber Sonia wird weiter zum Markt gehen müssen, sie wird nicht eingesperrt wie ich.« Er rechnet wohl damit, das ich nicht so bald wiederkomme, dachte sie und spürte Tränen in sich aufsteigen. Francesco fasste Angelina, die aufgestanden war, an den Armen.

»Es sieht nicht so düster aus, wie Ihr denkt«, meinte er. »Wartet nur, es wird noch alles gut.«

In diesem Moment hatte sie große Sehnsucht, einfach nur von ihm in den Arm genommen zu werden. Er sah es wohl in ihrem Blick, denn er schob sie ein wenig von sich und stammelte: »Seht Euch nur auf der Straße vor, die Pest, ich glaube, sie ist zurückgekommen.«

»Ich werde mir meinen Schal vor das Gesicht halten, damit die Krankheit nicht durch die Luft zu mir geflogen kommt«, gab Angelina zurück und wandte sich zum Gehen. Francesco ergriff ihre Hand und drückte sie lange.

 

Doch etwa eine Stunde später war Angelina wieder da.

»Habt Ihr Eure Eltern angetroffen?«, fragte er behutsam.

»Ich bin gar nicht so weit gekommen«, entgegnete sie. »In den Straßen habe ich zwei dieser Leichenwagen gesehen.«

»Ach, das muss nicht viel heißen. Im vergangenen Frühjahr ist |60|die Krankheit ebenfalls kurz aufgetaucht und war dann bald wieder verschwunden.«

»Ja, aber direkt danach begegnete ich Signor Tomasio Venduti. Es war, als hätte er schon auf mich gewartet. Er sagte mir, dass er gerade von einem Besuch bei meinen Eltern zurückkehre und dass sie geäußert hätten, ihre Tochter sei entlaufen. Ich sei nicht mehr ihre Tochter. Meine Familie will in wenigen Tagen auf das Landgut reisen, um den Auswirkungen der Pest zu entgehen.«

Francesco pfiff durch die Zähne.

»Oje, das ist eine höchst verzwickte Lage«, meinte er. »Hier könnt Ihr allerdings nicht bleiben. Botticelli würde es nicht dulden, und es würde ein schlechtes Licht auf Euch werfen.« Er zwinkerte ihr zu, und sie musste an sich halten, um nicht wütend zu werden. Francesco trat an die Staffelei, zog das Tuch von dem Bild und blieb einige Augenblicke versonnen davor stehen.

»Mir ist etwas eingefallen«, sagte er dann und strahlte sie an. »Heute Nacht könnt Ihr in einer der alten Mägdekammern übernachten. Morgen versuche ich Euch zu Eleonore Scroffa zu bringen, einer Base von mir, die sich mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe auf einem Landsitz befindet.«

»Und Ihr, Francesco, was ist mit Euch?«

»Ich habe die Pest schon einmal überlebt«, gab er zurück. »Aber alles, was Ihr jetzt braucht, ist eine Unterkunft. Kommt, wir gehen zu Lucas hinüber, vielleicht kann er uns einen Rat geben.«

Lucas Bandocci bediente gerade einige Kundinnen, als sie in den Laden kamen. Nachdem er sie abgefertigt hatte, wandte er sich den beiden zu.

»Womit kann ich Euch helfen?«, fragte er, an Angelina gewandt.

»Wir brauchen deinen Rat«, gab Francesco zur Antwort. »Angelina kann nicht mehr nach Hause zurück. Ich will sie morgen auf das Landgut meiner Base, nach Grassina, bringen. Nun hat sie aber weder Kleidung noch finanzielle Mittel.«

»Du meinst, wie eine dahergelaufene Küchenmagd?« Lucas lächelte breit.

|61|»Ich habe meine Beziehungen«, sagte er. »Bring sie mit einem Pferdekarren dorthin, für Kleider und Geld werde ich sorgen.«

Angelina stellte sich vor, wie er sich heimlich mit Sonia traf. Sie war in diesem Moment unendlich dankbar dafür, dass sie offensichtlich Freunde hatte. »Morgen früh werde ich zur Stelle sein«, murmelte sie verlegen.

Den Abend verbrachten Francesco und sie mit einer Sitzung, doch Angelina fiel es schwer, stillzuhalten. Francesco malte schweigend, bis er schließlich den Pinsel hinwarf mit den Worten:

»Das wird heute nichts mehr, liebe Angelina! Gehen wir zu Bett.«

Die Mägdekammer war klein und roch etwas muffig. Angelina war jedoch zu müde, um sich daran zu stören, kleidete sich aus bis auf das Hemd und kroch in das Bett, das mit einer Strohmatratze, Kissen und Decke ausgestattet war. Ob Francesco noch einmal zu ihr hereinschauen würde? Sie wünschte es sich ganz stark und fürchtete sich gleichzeitig davor.

Fast war sie eingeschlafen, als sie ein Geräusch hörte. Angelina zuckte zusammen. Jemand hatte an ihre Tür geklopft. Francesco huschte herein und setzte sich an den Rand ihres Bettes. Angelina setzte sich befangen auf, ihr war heiß. Hatte er ihre Gedanken erraten?

»Ich wollte Euch noch eine gute Nacht wünschen«, sagte er, »und Euch fragen, ob Ihr nicht doch noch einmal zu Euren Eltern gehen wollt. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, Euch aus der Stadt wegzubringen.«

Bei der Aussicht, zu ihren Eltern zurückzukehren, eingesperrt zu werden und Signor Venduti heiraten zu müssen, sträubte sich alles in Angelina. Sie würden sich schon wieder mit ihr versöhnen. Zusammen mit Francesco aufs Land zu fahren war viel aufregender!

»Ich habe es mir gut überlegt.« Sie verschränkte die Arme. »Ich kann nicht zurückkehren, das verbietet mir mein Stolz. Meine Eltern haben mich behandelt wie eine …«

|62|»Wie eine Hure?«

»Ja«, sagte Angelina und senkte den Kopf.

»Ich bin ihnen nicht gut genug, das weiß ich«, entgegnete Francesco. Seine Stimme klang traurig. Er küsste sie auf die Haare und wünschte ihr eine gute Nacht. Er hätte ruhig noch eine Weile bleiben können. War er auf ihren Ruf bedacht? Aber der war sowieso dahin, wie ihre Eltern zu glauben meinten. Sie warf sich wütend in die Kissen und weinte.

Am anderen Morgen wurde Angelina durch die Karren geweckt, die durch die Via Nuova rumpelten. Es war Anfang Juni und versprach ein heißer Tag zu werden. Francesco hatte seinen Meister wohl schon unterrichtet, denn als Angelina die Küche betrat, begrüßte Botticelli sie höflich.

»Ich hoffe, Ihr bekommt bald eine gute Unterkunft«, sagte er und biss in ein Stück Kuchen. »Ich fahre heute nach Rom. Francesco hat mir mitgeteilt, dass Ihr zum Landgut seiner Base wollt. Ihr könnt mit mir fahren.«

Er versank wieder in Schweigen und schaute mit einem Blick vor sich hin, als suche er nach einer Antwort auf eine Frage, die ihm viel Kopfzerbrechen bereitete. Die anderen Gesellen und Lehrlinge kamen herein, ließen sich am Küchentisch nieder, griffen nach Brot, Kuchen und Würzwein. Sie unterhielten sich lebhaft über ihre Aufträge, über bestimmte Farbmischungen und die politischen Ereignisse in der Stadt.

»Savonarola soll gar nicht mehr so angesehen sein«, meinte einer. »Der Papst hat ihn exkommuniziert, das ist jetzt allgemein bekannt. Dann dürfen wir aber nicht mehr zu seinen Predigten gehen, sonst werden wir ebenfalls aus der Kirche rausgeworfen!«

»Schäm dich!«, fuhr Botticelli auf. Sein gewichtiger Körper bebte, seine sorgfältig gepflegten Locken leuchteten rot im Schein eines Sonnenstrahls, der sich durch das Fenster stahl.

»Wie kannst du«, er wandte sich an alle, »wie könnt ihr unseren Meister gerade jetzt in dieser schweren Zeit im Stich lassen? Er und das, was er im Begriff ist zu errichten, braucht all unsere Kraft, auch |63|und gerade unsere künstlerische Gabe, um das Wort Gottes in unserer Stadt wahrhaftig werden zu lassen!«

»Aber ich …«, kam es von dem Getadelten.

»Du brauchst nichts mehr zu sagen!«, fuhr ihn der Maler abermals an. Alle schwiegen betroffen. Eine Magd kam herein und räumte das Geschirr ab.

»Kommt in einer halben Stunde vors Haus«, sagte Botticelli, zu Angelina gewandt. »Ich mache mich noch reisefertig.«

Vor der Tür stand eine elegante, hochrädrige Kutsche mit zwei Pferden, die mit bunten Tüchern und Federn geschmückt waren. Der Kutscher, ein derber Bursche mit schwarzen, öligen Haaren, lehnte an seinem Gefährt und kaute auf einem Strohhalm. Angelina überquerte zusammen mit Francesco die Gasse, um sich von Lucas Bandocci zu verabschieden. Der Gemüsehändler wies den Händlern mit den frischen Waren die Plätze an. Als er die beiden erblickte, kam er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

»Ihr brecht auf, wie ich gehört habe? Nehmt meine Segenswünsche mit auf die Reise! Und hier habt Ihr ein wenig Wegzehrung, Angelina.« Er überreichte ihr ein Körbchen mit getrockneten Weinbeeren, Trüffel-Pralinen und frühen Kirschen.

»Ich werde dafür sorgen, dass Ihr alles bekommt, was Ihr benötigt«, fuhr der Gemüsehändler fort. »Sonia wird Eure Sachen holen, und wir werden sie morgen nach Grassina bringen. Da wohnt doch deine Base, nicht wahr, Francesco?«

»Ja, sie wohnt im Sommer auf einem Hügel draußen vor der Stadt, die Glückliche«, gab Francesco zurück.

Botticelli kam mit einem ledernen Reisesack aus dem Haus, verabschiedete sich von den Umstehenden und kletterte auf den Rücksitz der Kutsche. Angelina setzte sich neben ihn. Der Maler war vornehm gekleidet, und selbst der Kutscher trug eine dunkelrote Samtkappe sowie Wams und Mantel aus edlen Stoffen. Lucas winkte zum Abschied und rief: »Ich möchte Euch gesund und glücklich wiedersehen, Signorina!« Francesco trat zu ihr heran, nahm ihre beiden Hände in seine und meinte:

|64|»Ihr werdet mir fehlen!«

»Ihr mir auch, Francesco«, gab Angelina leise zurück. Der Händedruck war wie eine Umarmung für sie gewesen. Der Kutscher zog an den Zügeln, schnalzte, und die beiden Pferde, mit ihren wippenden Federbüscheln auf den Köpfen, setzten sich in Bewegung. Schnell fielen sie in einen leichten Trab. Angelina drehte sich nicht um, als sie die Via Nuova hinab zum Arno fuhren. Sie wollte alles so im Gedächtnis behalten, wie sie es eben gesehen und erlebt hatte.

»Ich komme bald nach, Angelina!«, rief Francesco ihr hinterher, aber er wusste nicht, ob sie ihn gehört hatte.

Es ging auf einer gepflasterten Straße am Fluss entlang. Hier war es kühler als in der Innenstadt, Frauen wuschen ihre Wäsche am Ufer, Möwen kreisten hoch in der Luft, als sei die Pest an der Stadt vorübergegangen.

»Was bewegt Euch, zu den Scroffas aufs Land hinauszufahren?«, fragte Botticelli, nachdem er eine Zeitlang geschwiegen hatte. Francesco hatte ihm anscheinend nichts von ihr erzählt. Und wahrscheinlich fragte der berühmte Maler auch nur aus Höflichkeit. Angelina räusperte sich. Was sollte sie ihm sagen? Dass ihre Eltern sie verstoßen hatten? Dass sie von zu Hause geflohen war? Dann würde er sie gewiss verachten und nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen.

»Meine Eltern schicken mich aufs Land, weil der schwarze Tod wieder ausgebrochen ist«, sagte Angelina und merkte, dass sie nicht einmal rot wurde. Irgendwie war das ja gar keine Lüge. Ihre Eltern, ihre Geschwister, die Mägde und Bediensteten befanden sich wohl schon auf dem Landhaus bei Fiesole. Einen Augenblick lang traten ihr die Tränen in die Augen. Warum hatte alles so kommen müssen? Wie gern wäre sie jetzt bei ihnen gewesen! Stattdessen fuhr sie mit einem fremden Maler zu einer Familie, die sie nicht einmal kannte und von der sie nicht wusste, ob sie eine junge Frau wie sie ohne Vorbehalte aufnehmen würde. Glücklicherweise hatte Francesco ihr ein Empfehlungsschreiben mitgegeben. Botticelli wandte Angelina den Löwenkopf mit den hellen Augen zu.

|65|»Der schwarze Tod kommt und geht auch wieder« meinte er. »Er macht vor niemandem Halt, egal welchen Standes er ist.« Der Maler blickte zu den Weinbergen hinüber, die im Sonnenglanz vorbeizogen. Dann wandte er ihr sein etwas müdes Gesicht zu.

»Ich sollte in meinem Leben noch einen Totentanz malen«, sagte er, mehr zu sich selbst.

»Ihr habt wunderbare Bilder gemalt«, sagte Angelina. »Mein Vater hat sie mir im Palazzo der Medici gezeigt. Ihr habt sie doch für Lorenzo de’ Medici und seine Familie gemalt, nicht wahr?«

»Ja, das habe ich«, entgegnete er. Ein Glanz kam in seine Augen. »Meine Muse.«

»War … sie es?«

»Sie war es!«, kam es aus dem Maler heraus. »Sie war die schönste Frau, die jemals in Florenz gelebt hat! Wenn nicht sie es war, die mich dazu gebracht hat, die ›Venus‹ und den ›Frühling‹ zu malen, wer sollte es sonst gewesen sein? Als sie die Schwindsucht bekam, war ich untröstlich, die ganze Stadt war untröstlich. Den endlosen Trauerzug führten Lorenzo il Magnifico und sein Bruder Giuliano an.« Botticelli holte ein Taschentuch aus seinem Rock und schnäuzte sich. »Das war 1476. Es gab ein Turnier zur Feier des Friedens zwischen Mailand, Venedig und Florenz – die Farben der Simonetta Vespucci, der Unvergleichlichen, habe ich auf ein Banner gemalt, mit ihrem Abbild als Göttin Athene. Der Hofdichter, genannt Poliziano, verfasste ein Versepos, das die Liebe zwischen dem Medici-Prinzen Giuliano und der Tochter des Vespucci feierte. Der arme Giuliano hat mich nach ihrem Tod so gedauert, dass ich ihm ein Bildnis von ihr geschenkt habe.«

Angelina hatte Botticelli gebannt zugehört. Es war ihr, als wären die Hügel grüner, die Wiesen saftiger, die Blumen schöner geworden. Doch nein, es gab vereinzelt auch verbrannte oder verlassene Gehöfte und Dörfer. Ab und zu begegneten ihnen Reisegruppen, die abgerissen und schmutzig waren. Söldner!, fuhr es Angelina durch den Kopf.

»Ach, und das ist jetzt vorbei, aber nicht vergessen«, seufzte Botticelli. »|66|Ich bin ein alter Mann von mehr als fünfzig Jahren, doch sie ist immer da, bei jedem Pinselstrich, den ich führe!«

»Ihr liebt sie immer noch«, sagte Angelina erstaunt. Das war jetzt über zwanzig Jahre her!

»Gott hat sie mir gegeben, und er hat sie mir genommen. Seid froh, dass Ihr noch am Anfang Eures Lebens steht, Angelina! Mit Francesco habt Ihr einen Maler, in dem sehr viel steckt!«

»Ja, er hat ein großes Talent«, meinte sie ausweichend.

»Nur mag ich nicht, dass er sich so sehr den weltlichen Dingen zukehrt«, versetzte der Maler. »Ich hatte meinen Traum von der Sinnlichkeit des Lebens mit meiner Muse begraben. Und dann trat Savonarola in mein Leben. Mein Bruder Simone hat sich ihm mit Haut und Haaren verschrieben. Die Ideen des Priors haben mich sehr ergriffen, auch wenn ich mich nicht öffentlich zu ihm bekenne. Nun lebt meine Simonetta auf eine andere, eine geistige Art, in meinen Bildern weiter. Ihr erinnert mich ein wenig an sie, Signorina Angelina. Und wenn der Gottesstaat eingeführt ist, werden diese Bilder zu dessen Ruhm beitragen.«

Angelina wollte widersprechen, hielt sich aber zurück. Warum den Maler nicht in seinem Glauben lassen, dass Savonarolas Macht noch ungebrochen sei? Aber sie war ergriffen von der Liebe, die dieser Maler seiner verstorbenen Geliebten entgegenbrachte. Würde sie selber je solche Liebe erfahren?

In der Ferne tauchte ein Dorf auf der Spitze eines Hügels auf. Als sie näher kamen, wehte ihnen der Duft von blühenden Linden entgegen. Vor den Häusern standen Kübel mit Rosen und Salbei. Botticelli wies auf ein stattliches Haus oben auf dem Hügel.

»Der Besitz der Scroffas«, meinte er. »Ich werde die Familie begrüßen und Euch bei ihr einführen.«

Die Kutsche fuhr einen Weg bergan, der sich durch Wiesen voller Margeriten wand, und hielt vor einem prächtigen Haus, das aus Natursteinen der Gegend erbaut war. Im Garten stand ein Springbrunnen, die Beete waren mit Buchsbäumchen gesäumt. Magnolien und Zypressen spendeten Schatten. Ein Diener trat auf die |67|Terrasse, begrüßte die beiden höflich und fragte nach ihrem Begehr.

»Ich bin Sandro Botticelli, Maler aus Florenz, und dies ist Angelina Girondo, die mit einer Empfehlung von Francesco Rosso hierherkommt.«

»Oh, ich bitte höflichst um Vergebung, dass ich Euch nicht gleich erkannt habe, Signor Botticelli. Ihr wart ja schon öfter zu Gast im Hause Scroffa«, sagte der Diener, machte eine Verbeugung und zog sich ins Haus zurück. Gleich darauf erschien die Frau des Hauses. Ihre hochgewachsene Erscheinung wurde unterstrichen durch das leichte, gelbliche, perlenbestickte Kleid, das sie trug. Die blonden Haare waren aufgesteckt und zum Teil mit einem glänzenden Netz bedeckt. Sie reichte Angelina und Botticelli ihre feingliedrige Hand, die mit Saphirringen geschmückt war.

»Willkommen auf unserem Familiensitz in Grassina«, sprach sie mit einer warmen Stimme. »Wie geht es meinem Vetter Francesco?«

»Der ist gerade mit einem ganz besonderen Konterfei beschäftigt«, entgegnete Botticelli. »Nämlich mit dem der Signorina Angelina, die hier neben mir steht.«

»Ach, wie schön«, meinte die Gräfin und schaute Angelina einen Moment in die Augen. Täuschte Angelina sich oder waren ihre Pupillen für einen Augenblick enger geworden? Angelina übergab der Gräfin das Empfehlungsschreiben von Francesco. Signora Scroffa warf einen kurzen Blick darauf.

»Kommt herein«, sagte sie und machte eine einladende Handbewegung. »Wollt Ihr nicht das Mittagessen mit uns einnehmen, Signor Botticelli? Wir sind gespannt auf Nachrichten aus der Stadt!«

»Leider muss ich Euch enttäuschen, Signora Scroffa«, gab der Maler zurück. »Ich muss weiter nach Rom, habe schon viel zu lange gesäumt. Aber Signorina Angelina wird Euch gewiss einiges berichten können.«

»Habt Ihr kein Gepäck?«, fragte die Gräfin Angelina.

»Es wird mir nachgeschickt, in ein bis zwei Tagen«, sagte Angelina ausweichend. Sie überlegte krampfhaft, was sie der Gräfin |68|sagen sollte, wenn sie nach dem Grund ihres Hierseins fragte. Gerade begann sie sich etwas zurechtzulegen, als ein Junge von etwa fünf Jahren und ein zehnjähriges Mädchen auf die Terrasse gestürmt kamen. Ihre Gesichter waren rot von der Hitze.

»Wer ist das?«, fragte der Kleine und zeigte mit dem Finger auf Angelina.

»Das tut man nicht, Giacomo!«, entrüstete sich seine Mutter und schlug ihn auf die Hand. Er begann zu weinen, was seine Schwester dazu veranlasste, ihn in den Arm zu nehmen.

»Giacomo und Lisetta, ihr geht jetzt hinein und wascht euch die Hände, es gibt bald Mittagessen. Diese junge Frau ist Angelina Girondo aus Florenz, eine Freundin von Francesco.«

»Francesco, Francesco«, rief Giacomo. »Er soll herkommen und mit uns malen!«

»Er wird kommen, das hat er versprochen«, gab Angelina zurück. Sie merkte, dass sie damit die Herzen der Kinder gewonnen hatte.

Botticelli verabschiedete sich, stieg wieder in den Wagen, gab dem Kutscher ein Zeichen, und schon war Angelina allein. Eine Dienerin zeigte Angelina ihr Zimmer, ein geräumiges Gemach mit einem schmiedeeisernen Bett, einer bemalten Holztruhe und bunten Teppichen. Angelina trat ans Fenster. Der Blick ging über Weinberge, die im Glanz des Nachmittags lagen, zu den fernen Wäldern der ›metallischen Berge‹. Wie viel von dem, was geschehen war, konnte sie dieser Familie verraten?

Angelina legte sich auf das Bett, ihre Gedanken bei Francesco, ihren Eltern und Geschwistern, Sonia und Lucas, auch Botticelli. Kurz bevor sie in einen unruhigen Schlaf fiel, erinnerte sie sich wieder an den Mord und an den Mann, der sie so erschreckt und bedroht hatte. Wenn sie diesen Mann nur finden konnte, bevor noch Schlimmeres geschah! Aber wie? Angelina schrak hoch, als es an der Tür klopfte. Es war die Dienerin, die einige Kleidungsstücke ihrer Herrin brachte, dazu eine Schüssel mit Wasser, ein Stück Lavendelseife und ein Handtuch. Artig knicksend zog sich das Mädchen |69|zurück. Angelina machte sich frisch und zog sich um. Sie legte ein leichtes Sommerkleid an, ähnlich dem, wie es die Hausherrin beim Empfang getragen hatte, nur in Rot. Als sie eine Glocke läuten hörte, machte sie sich auf den Weg in den Garten, in dem das Mittagessen serviert wurde. Die Familie war schon um einen Tisch versammelt.

Es war unter einem Lindenbaum gedeckt worden, dessen Zweige in Blüte standen und einen leichten, süßen Geruch verströmten. Das Essen wurde aufgetragen, und der Hausherr, Graf Matteo Scroffa, begann freundlich das Wort an Angelina zu richten. Sie lächelte. Wenn diese Familie sie aufnahm, würde sie zur Ruhe kommen, dessen war sie gewiss.