Auf das Poltern hin erfolgten ein Gurgeln, ein erstickter Schrei. Angelina erstarrte. Was war mit Matteo? Sie eilte mit den anderen zu seinem Zimmer. Ein grässlicher Anblick bot sich ihnen.
Matteo war zu Boden gestürzt, der zerbrochene Weinbecher lag neben ihm. Er wand sich in Krämpfen, schien heftige Bauchschmerzen zu haben. Erbrochenes mischte sich mit den Resten des Süßweins. Jemand musste etwas in das Getränk gemischt haben! Eleonore rang die Hände und rief nach der Dienerin.
»Schnell, hol den Medicus aus dem Dorf! Er soll sofort kommen!«
Die Dienerin eilte davon. Die anderen standen um Matteo herum: Keiner konnte ihm helfen. Sein Röcheln wurde immer leiser, Schaum stand ihm vor dem Mund. Seine Hände glitten über das Kleid seiner Frau, die am Boden kniete und ihm mit einem nassen Tuch die Stirn abwischte. Angelina lief im Haus herum, um nach einem Brechmittel zu suchen. Vergebens. Als der Arzt mit seiner Ledertasche kam, konnte er nur noch den Tod des Grafen feststellen.
»Gottes Ratschluss ist unergründlich«, sagte er. »Hier endet meiner Weisheit Schluss. Was hat er zu sich genommen?«
»Er hat, wie immer am Abend, ein Glas von seinem Süßwein getrunken.«
»Hat nur er allein …«
»Ja, es war sein Leib- und Magenwein«, fiel ihm Signora Scroffa ins Wort.
»War er krank? Hat er etwas am Magen oder am Herzen gehabt?«
»Nein«, entgegnete Signora Scroffa. Sie war sehr gleichmütig, |122|stellte Angelina fest, während sie selbst innerlich zitterte und an sich halten musste, um nicht laut zu weinen.
»Sieht mir ganz nach einem dieser Giftunfälle aus«, fuhr der Arzt fort. »Oder besser erinnert es mich an die Morde, die bei den Borgia und beim Adel so häufig vorkommen. Damit entledigt man sich unliebsamer Zeitgenossen, insbesondere solcher, die einem im Wege stehen.«
»Vergiftet?«, entrüstete sich Eleonore Scroffa. »Wer sollte denn so etwas tun? Verdächtigt Ihr etwa jemanden aus unseren Reihen?«
»Es könnte natürlich auch jemand von außen gekommen sein«, überlegte der Medicus, »der sich an den Krug in der Küche herangemacht und etwas hineingetan hat.«
»In der Küche ist immer jemand«, widersprach die Gräfin. »Es muss sein Herz gewesen sein.« Angelina schaute zu Francesco hinüber. Er erwiderte ihren Blick und hob fast unmerklich die Achseln.
»Das werden wir nicht herausbekommen«, entschied der Arzt. »Ich stelle einen Schein aus, in dem der Tod Ihres Gatten bestätigt wird, Signora … äh …«
»Scroffa.«
»Signora Scroffa. Ihr müsst ihn schnell begraben. Auch wenn ich an ihm keine Anzeichen der Pest feststellen konnte – bei dieser Hitze brechen leicht Seuchen aus. Lasst ihn uns gleich morgen früh begraben und ihn in Gottes Hände übergeben.«
Signora Scroffa hatte jetzt doch feuchte Augen. Sie drohte in sich zusammenzusinken. Francesco fing sie auf und brachte sie zusammen mit Lucas in ein leerstehendes Zimmer. Sonia nahm Angelina in den Arm.
»Ihr habt viel Schlimmes mit ansehen müssen in letzter Zeit, Herrin.«
»Ist schon recht, Sonia«, erwiderte Angelina mühsam. »Ich werde jetzt ins Bett gehen.« Sie zog sich auf ihr Zimmer zurück. Als sie im Bett lag, lauschte sie auf den Schlag ihres Herzens. Es pochte nicht wie sonst, leise und gleichmäßig, sondern wild hämmernd. Was für |123|ein schrecklicher Abend war das gewesen! Das Unglück schien kein Ende nehmen zu wollen. Kaum hatte sie den Mord an Fredi, die Trennung von ihren Eltern, die Pest und den Überfall auf Francesco halb verdaut, musste schon wieder jemand in ihrer Umgebung sterben! Zog sie das Verbrechen auf sich? War sie eine Sünderin? Was hatte sie nur getan, dass Gott sie so strafte? Aber so sehr Angelina ihr Gewissen auch durchforschte, ihr fiel nichts ein.
War es am Ende wegen dieses Bildes, dass die Straftaten geschahen? Wer könnte der Täter gewesen sein? Zunächst hatte sie geglaubt, es sei irgendein Wegelagerer gewesen, der es auf die Wertsachen von Fredi abgesehen hatte. Aber ihm war nichts entwendet worden. Die Schläger, die Francesco so zugerichtet hatten, waren mit Gewissheit Fanciulli gewesen, von Savonarola beauftragt. Die hatten ihm eine Abreibung verpassen wollen. Aber bei Signor Scroffa sah Angelina keinerlei Zusammenhänge. Ob ein Diener das Gift in den Wein getan hatte? Oder gar seine Frau, vielleicht, um ihn zu beerben? Was sind denn das für Gedanken, schalt sie sich. Signora Scroffa ist eine gottesfürchtige Frau, die mich und die anderen aufgenommen hat, um uns vor der Pest zu bewahren. Nein, es musste ein Unbekannter sein, dessen Tücke Angelinas Vorstellungsvermögen überstieg. Welch ein Wesen war zu so etwas fähig?
Am nächsten Morgen nahm die kleine Gruppe bedrückt das Frühstück ein. Matteos Platz war leer. Der See schimmerte immer noch, die Hügel waren grün, die Vögel zwitscherten, und die Fischer hatten sich schon weit hinaus auf den See begeben, aber Angelina sah alles wie durch einen Schleier. Die Welt war grau geworden, nichts lebte mehr richtig. Auch die anderen sahen aus, als hätten sie nicht viel geschlafen. Nur die Kinder plapperten wie immer, weil sie den Tod in seinem Ausmaß nicht begreifen konnten.
Ein kleiner Mann im Habit eines Pfarrers näherte sich dem Haus, vor dem sie an einem Tisch beisammensaßen. Er machte gar keine Anstände, sich vorzustellen, sondern sagte nur: »Der Herr sei mit Euch und mit dem Toten. Der Leichnam muss noch heute unter die |124|Erde.« Er schlug das Kreuz vor der Brust. »Kommt auf den Friedhof, es ist schon alles vorbereitet.« So schnell ging das? Eleonore begann laut zu schluchzen. Francesco legte den Arm um ihre Schulter und tröstete sie. Angelina spürte einen Stich. Aber jetzt war nicht die Zeit, solchen Gefühlen nachzugeben. Lucas wies die Diener an, den Hausherrn für die Beerdigung herzurichten. Wenig später wurde er, mit seinem besten Sonntagsgewand angetan, auf einen Wagen geladen. Die kleine Gruppe von Trauernden begleitete ihn zum Friedhof des Dorfes.
Eine Totenglocke bimmelte, als der Leichnam in einen Holzsarg gebettet und dieser an Seilen in die Grube hinuntergelassen wurde. Der Pfarrer sprach von der Sündigkeit der Menschen und der Gerechtigkeit Gottes, die denen, die von ihm abfallen, seine Strafe zukommen lasse. Aber Matteo war doch gar nicht sündig gewesen! Wofür hatte Gott ihn, hatte er sie alle so grausam bestraft? Der Pfarrer stimmte ein Lied an, in das sie einfielen. Er segnete den Toten, hieß sie dann zurückzutreten. Zwei Totengräber kamen heran, schaufelten Kalk in das Grab und begannen es zuzuschütten. Eleonore führte den traurigen Zug an, der sich wieder zum Haus zurück begab. Keiner sprach ein Wort. Wahrscheinlich musste jeder mit seinem Kummer erst einmal allein sein. Selbst die Kinder hatten jetzt die Tragweite des Unglücks begriffen und weinten leise vor sich hin.
Angelina hielt es nicht im Haus. Sie ging zum See hinüber, folgte einem kleinen Pfad, der sich unweit des Ufers zwischen Birken und Weiden dahinschlängelte. Jetzt, um die Mittagszeit, war es still hier. Dumpf lastete die Hitze über See, Wiesen und Bergen. Nur manchmal sprang ein Fisch mit schnappendem Geräusch aus dem Wasser. Libellen tanzten über dem funkelnden Nass. Für Angelina war das Leben vorüber. Alles, was ihr vorher lebenswert gewesen war, hatte sich in sein Gegenteil verkehrt. Sie war hier eingeschlossen, zusammen mit Menschen, die ihr im Grunde ihres Herzens fremd waren. Francesco hatte alle Hände voll zu tun, seine Cousine zu beruhigen, Lucas und Sonia waren mit sich selbst beschäftigt, und die |125|Kinder wurden von den Dienstboten beschäftigt. Angelina fühlte sich vollkommen überflüssig.
Eitel erschien ihr nun das Bild, das Francesco von ihr angefangen hatte. Ob er es je zu Ende bringen würde? Aber wer malte schon, nachdem ein solcher Trauerfall die Familie heimgesucht hatte? Keiner der Nachbarn hatte sich bei der Beerdigung blicken lassen, noch war einer von ihnen gekommen, um der Familie beizustehen oder sein Mitgefühl auszudrücken. Es war, als hätten sie die Pest oder wären aussätzig geworden. Alles Geld, das Matteo besessen hatte, nützte ihnen nichts mehr. Sie waren abgeschlossen vom Rest der Welt und würden für immer an diesem Ort leben müssen, eingesperrt und ohne Freude.
Mit Schaudern dachte sie an den letzten Abend mit Matteo. Er hatte sich ihr in unziemlicher Weise genähert. Hatte er deswegen sterben müssen? Aber wer, um Himmels willen, sollte so etwas getan haben? Die Blicke fielen ihr ein, die Francesco und Eleonore immer wieder getauscht hatten. Sollten die beiden unter einer Decke stecken? Hatte Eleonore ihren Mann umbringen lassen, um sein Geld zu erben und sich mit Francesco ein schönes Leben zu machen? Das war nicht auszudenken und machte Angelina so unglücklich, dass sie den Gedanken sofort wieder zur Seite schob.
Die Tage vergingen quälend langsam. Angelina erlebte alles wie im Traum. Jeden Morgen ging die Sonne auf, gegen Mittag bezog sich der Himmel mit schwarzen Wolken, die sich am Nachmittag mit Blitz, Donner und sintflutartigem Regen entluden. Die Sintflut hatte Gott gesandt, um die Menschen für ihre Sünden zu bestrafen. Angelina wünschte sich nur noch, gereinigt zu werden, alle Strafen der Welt zu durchleben, wenn sie bloß wieder nach Hause konnte und alles wieder so wäre wie früher. Sie würde mit ihren Eltern und Geschwistern sprechen, tanzen, leben, essen und trinken. Schöne Jünglinge würden ihr den Hof machen. Und doch: Hatte sie nicht gespürt, dass Francesco ihr die gleichen Gefühle entgegenbrachte |126|wie sie ihm? Wahrscheinlich hatte das nichts zu bedeuten, kam ihr plötzlich in den Sinn. Er wird mit jeder Frau, die er malt, in eine Art Beziehung treten. Sobald das Bild fertig ist, ist diese Beziehung vorbei. Und seinen letzten Angaben nach stand es kurz vor der Vollendung, er müsse nur noch einige wenige Pinselstriche ansetzen, hatte er kürzlich gesagt, und dazu brauche er sie als Modell nicht mehr. Also war es vorbei zwischen ihnen beiden. Aber er sollte nur nicht auf den Gedanken kommen, jetzt Eleonore zu malen, in all ihrer schönen, stillen, weißgesichtigen Trauer! Beim Weitergehen liefen Angelina die Tränen über das Gesicht. Wie konnte sie sich nur derart versündigen! Gerade erst war Matteo unter der Erde, und sie stellte sich in Gedanken an wie ein kleines Kind!
Sie lief immer weiter. Schließlich sank sie erschöpft auf einen Weidenstumpf und sah einen Fischer mit seinem Boot auf sich zukommen. Es war ein aus starkem Eichenholz gebauter Kahn. Der Mann war mittelgroß und drahtig. Er trug einen Schnauzbart und die Kappe, die für die Fischer am Lago Trasimeno üblich war. Nachdem er gemächlich das Boot festgemacht hatte, trat er zu Angelina heran.
»Ihr seid traurig, liebes Mädchen?«, stellte er mit einer überraschend weichen Stimme fest. »Weint Ihr um den Herrn, der letzte Nacht ums Leben gekommen ist?«
Bei diesen Worten kamen Angelina erst recht die Tränen.
»Ja, so ist es«, schniefte sie.
»Es heißt, er sei keines natürlichen Todes gestorben«, fuhr der Mann fort. »Gestern Abend habe ich etwas gesehen, was damit zu tun haben könnte.«
Angelina horchte auf. Sie wischte sich die Tränen mit einem Zipfel ihres Kleides aus dem Gesicht.
»Als ich mit meinem Boot vom nächtlichen Fang heimkam«, erzählte der Mann weiter, »sah ich, wie sich eine Gestalt aus Eurem Hause schlich und sich zur Straße nach Chiusi wandte.«
»Habt Ihr ihn erkannt?«, wollte Angelina wissen.
»Nein, es war ja dunkel. Ich erinnere mich, dass eine Lampe vor |127|dem Haus brannte. Aber ich meine erkannt zu haben, dass er die Kleidung der Nobili, der Adligen trug.«
»Habt vielen Dank«, sagte Angelina. »Das kann uns durchaus weiterhelfen.«
»Arrivederci, Signorina«, verabschiedete sich der Fischer, ging zu seinem Boot und schob es ins Wasser. Angelina war ein Stein vom Herzen gefallen. Dann war es zumindest niemand aus ihrem Kreis gewesen. Sie kehrte langsam zum Haus zurück. Wenn hier auch nicht die Pest herrschte, dann waren doch die Mücken, die sie während ihres Spaziergangs zerstochen hatten, eine wahre Plage. Angelina traf Francesco vor dem Eingang des Hauses.
»Ich habe dich schon überall gesucht, Angelina«, sagte er und schaute sie besorgt an. War er besorgt oder tat er nur so, um sie in Sicherheit zu wiegen? Sie hätte sich etwas anderes von ihm gewünscht, dass er sie einfach in den Arm genommen hätte.
»Ich muss mit dir sprechen«, fuhr Francesco mit leiser Stimme fort. »Doch nicht hier, wo uns alle hören und sehen können.«
Was hatte er ihr wohl anzuvertrauen? Dass er seine Cousine Eleonore malen wolle, dass er sie liebte und sie, Angelina, ihm nie etwas bedeutet hätte? Ihr Herz begann schneller zu klopfen. Er fasste sie beim Arm, doch sie zuckte zurück. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. In einer Ecke des Gartens standen zwei Korbstühle und ein zierliches Tischchen. Die Diener hatten einen Korb mit Kirschen daraufgestellt. Alle taten, als wäre nichts geschehen.
»Ich möchte mit dir sprechen, Angelina«, begann Francesco abermals, nachdem sie sich gesetzt hatten, »weil zu viel geschehen ist in den letzten Wochen. Dies ist nun schon der zweite Mord, und keiner kann sich erklären, warum diese Taten geschehen oder warum man mich überfallen und verprügelt hat. Gottlob bin ich mit dem Leben davongekommen, besonders auch dank deiner Hilfe, Angelina.«
Sie wollte nicht daran erinnert werden.
»Es übersteigt meine Kräfte, darüber nachzudenken«, sagte sie matt.
|128|»Wir müssen der Sache aber auf den Grund gehen, sonst hat der Mörder freies Spiel mit uns!«, entgegnete Francesco.
»Ich möchte ja auch, dass er gefunden wird, aber wo sollen wir beginnen?«
»Erst einmal müssen wir einander vertrauen. Vertraust du mir, Angelina?«
Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet gewesen.
»Ja, schon«, meinte sie. »Ich verstehe nur nicht …«
»… dass ich mit Eleonore so vertraulich umgehe?« Er lächelte. Es war ihm nicht entgangen. »Angelina, wir kennen uns seit Kindertagen, hatten nie ein Geheimnis voreinander. Sie braucht meine Hilfe, um den Tod Matteos zu überwinden.«
»Ich brauche deine Hilfe auch, Francesco. Ich fühle mich so alleingelassen.« Er nahm sie in den Arm. Sie schloss ihre Augen und atmete den herben Duft seiner Kleidung ein.
»Vertraue auf mich, Angelina. Wir werden in der nächsten Zeit alle Kraft brauchen, um diese Zeit zu überstehen.« Er streichelte ihr Haar. Angelina machte sich los.
»Und du willst sie nicht malen?«, fragte sie zaghaft.
»Woher weißt du das?« Er lachte. »Tatsächlich hat sie mich gebeten, ein Porträt von ihr anzufertigen. Irgendetwas müssen wir ja tun, um uns abzulenken, meinte sie.«
»Aber du malst sie nicht …«
»Du meinst, in einem ähnlichen Kleid wie deinem? Das werde ich ihrem Geschmack überlassen müssen.« Erneut spürte Angelina einen Stich.
»Dann wünsche ich viel Vergnügen miteinander«, meinte sie, stand abrupt auf und wandte sich zum Gehen. Er war mit wenigen Schritten bei ihr und hielt sie am Arm fest.
»Angelina, du musst eins begreifen«, sagte er eindringlich. »Wir Maler sind aus einem anderen Holz geschnitzt als die anderen. Unser Auge entzündet sich schnell an einem Gesicht, an einem Gewand, einer Landschaft oder der eleganten Bewegung eines Körpers. Das ist das Feuer, das unsere Kunst anfacht. Es hat aber nichts |129|mit dem zu tun, was wahrhaftig zwischen einem Mann und einer Frau geschieht.« Also doch! Er hatte sie nur gemocht, solange sie ihm Modell saß. Und dann kam die nächste Muse dran. Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er:
»Glaub mir, du wirst es noch verstehen. Was ich für dich empfinde, ist stärker, als ich bis jetzt jemals empfunden habe.« Ihr Herz stockte einen Augenblick, um dann umso kräftiger das Blut durch die Adern zu pumpen.
So leicht ging das nicht. »Ich hab dich auch gern, Francesco«, meinte sie leichthin und wandte sich endgültig zum Gehen. »Zeig mir das Bild, wenn es fertig ist, ja? Jetzt werde ich erst einmal nach Sonia und Lucas schauen.« Damit ließ sie ihn einfach stehen.
Angelina fand die beiden in Gesellschaft von Signora Scroffa, unter der Linde sitzend. Deren verwelkte Blüten schwebten, von einer seewärts kommenden Brise bewegt, durch die Lüfte.
»Ah, da seid Ihr ja«, lächelte Lucas ihr entgegen. »Habt Ihr einen Spaziergang gemacht?«
»Ja, und ich habe einen Fischer getroffen«, platzte sie heraus. »Er meinte, gestern einen Fremden gesehen zu haben, der sich aus dem Haus schlich und sich zur Straße nach Chiusi wandte.«
»Ihr meint, das könnte der …«, fragte Eleonore mit großen Augen.
»Es besagt noch gar nichts.« Angelina wollte sich nicht zu weit vorwagen. Warum hatte sie Francesco nichts davon erzählt? War er ihr immer noch verdächtig?
»Es könnte jeder von uns gewesen sein«, erklärte sie. »Ich erinnere mich nicht, wann wer von uns gestern Abend an welcher Stelle gewesen ist.«
»Aber Ihr werdet doch keinen von uns im Verdacht haben?« Eleonores Stimme war schrill geworden.
»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Angelina zu sagen. Sie musste mit diesen Menschen vielleicht wochenlang hier zusammen hausen und konnte es sich nicht mit ihnen verderben. Wahrscheinlich war sie auch nur eine ängstliche Maus, die das Gras wachsen hörte.
|130|»Wir sollten uns in der nächsten Zeit alle etwas ausruhen und zu zerstreuen versuchen«, warf Lucas begütigend ein.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Sonia. »Wir könnten doch morgen mit einem der Fischer hinausfahren, ganz früh. Dann braten wir das, was wir gefangen haben, am Abend im Garten.«
Diese Aussicht erschien Angelina gar nicht so übel. Möglicherweise würde sie das wirklich von ihrem Kummer ablenken.
»Ich schicke meinen Diener zu einem der Fischer«, sagte Eleonore. Ein Hoffnungsschimmer war in ihren Augen. Ob sie sich darauf freute, mit Francesco so eng zusammenzusein, Seite an Seite? Energisch schob Angelina den Gedanken weg.
»Ich bin dabei«, erklärte sie. »Weckt mich, wenn es soweit ist.«
Erneut zog ein wunderbarer Tag herauf. Sommerwölkchen segelten über den tiefblauen Himmel. Die Sonne goss ihre Strahlen über das Wasser. Eleonore hatte Körbe mit Lebensmitteln und Getränken bereitstellen lassen, die nun von den Dienern zum See getragen wurden. Das Boot schaukelte bedenklich beim Einsteigen. Nachdem alle Platz genommen hatten, begann sich der Fischer ins Ruder zu legen. Einzelne Möwen kreisten über ihnen und schrien wie Katzen.
»Ach, wenn Matteo doch noch bei uns wäre und das erleben könnte«, seufzte Eleonore.
»Er schaut uns gewiss von oben zu und hat seine Freude daran«, warf Sonia ein.
»Das ist tröstlich«, murmelte Eleonore und ließ ihre Hand ins Wasser gleiten. »Die Sonne hat den See ziemlich aufgeheizt«, meinte sie. Eine Kolonie Kormorane erhob sich klatschend von der Oberfläche. Giacomo und Lisetta plapperten aufgeregt miteinander, zeigten sich gegenseitig Vögel und Fische im Wasser. Der Fischer bat seine Gäste um Ruhe. Er legte die Ruder an die Seite und warf seine Angel aus. Lange Zeit regte sich nichts. Dann plätscherte es. Ein schmaler Kopf mit breitem Maul und spitzen Zähnen erschien und schnappte nach dem Köder. Die Leine der Angel straffte sich.
|131|»Ein Hecht!«, rief der Fischer. Der Fisch zappelte und kämpfte um sein Leben. Immer wieder musste der Mann die Leine locker lassen, um sie wieder einzuholen. Schließlich lag der Fisch in einem Eimer, den der Fischer mit Wasser gefüllt hatte. Dazu gesellten sich später einige Schleie und Aale.
»Die Aale fangen wir üblicherweise mit Reusen«, meinte der Fischer. »Ich hätte gern auch einen Karpfen gehabt, aber die bekomme ich nur nachts an die Angel.«
Sie steuerten jetzt auf die Isola Maggiore zu. Im flachen Uferbereich blühten Seerosen. Die Insel war bewaldet; hinter den Baumkronen sah Angelina einen Kirchturm aufragen. Da inzwischen Mittagszeit war und die Hitze ihren Höhepunkt erreicht hatte, suchte die kleine Gruppe Schatten unter einer Weide und lagerte sich auf Decken, während die beiden Diener das Mittagessen anrichteten. Das Getränk und die Sonne machten Angelina schläfrig. Etwas abseits der Gruppe im Schatten gelagert, schlief sie bald ein und träumte von einem Menschen, der in einen schwarzen Mantel gehüllt war. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Er kam immer näher, hob die Hand mit einem Gegenstand, den sie nicht einordnen konnte. War es ein Kruzifix? Der Mann holte zum Schlag aus, um das Ding auf ihren Kopf niedersausen zu lassen. Er wandte ihr sein Gesicht zu. Aber was Angelina sah, war – nichts. Schweißgebadet fuhr sie hoch. Die Sonne war inzwischen weitergewandert und hatte den Schatten des Baumes, unter dem sie lag, mit sich genommen. Eine Gestalt beugte sich zu ihr herab. Angelina blinzelte und setzte sich auf. Es war Francesco.
»Jetzt hast du aber lange genug geschlafen«, sagte er mit einem Lächeln.
»Ich habe geträumt«, murmelte sie. »Es war schrecklich!«
»Ich will dir die Traumgeister vertreiben«, meinte er, reichte ihr die Hand und zog sie hoch. »Komm, wir suchen uns einen schöneren Platz.«
Weiter hinten unter den Bäumen setzten sie sich auf eine Baumwurzel. Der See schimmerte grünlich zwischen den Zweigen, ein |132|leichter brackiger Geruch kam von dort herüber. Eine Ente schnatterte leise.
»Nun erzähle mir einmal, was du geträumt hast«, begann er. »Du bist ja ganz verstört.« Sollte sie ihm wirklich so weit vertrauen? Zögernd antwortete sie:
»Jemand wollte mich töten … ein Mann, der kein Gesicht hatte!«
»Das heißt, wir haben es mit einem Unbekannten zu tun, sonst nichts«, meinte Francesco gelassen. »Hast du das Gesicht des Mannes gesehen, der dich in Florenz bedroht hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es gibt also einen Mann, der dich verfolgt«, schloss Francesco. »Vielleicht hat er uns in Botticellis Werkstatt beobachtet, das haben wir ja schon einmal festgestellt.«
»Ich glaube, es hat etwas mit meinem Kleid zu tun. Er sagte mir, ich solle aufhören, in Sünde zu leben. Sünder verdienten den Tod und die Hölle.«
Francesco überlegte. »Vielleicht wegen deines Bildes in dem ›Sündigen Gewand‹. Wenn das Ganze aber mit dem Bild zu tun hat, wieso musste dann Matteo sterben?«
»Ein Fischer sagte mir, dass er eine Gestalt gesehen habe, die an dem Abend von Matteos Tod aus dem Haus kam.«
»Und das erzählst du mir erst jetzt?« Er schaute sie empört an, aber sie hatte den Eindruck, die Empörung sei nur gespielt.
Angelina verschränkte die Arme. »Ich wusste nicht mehr, wem ich trauen sollte. Jeder von uns hätte es gewesen sein können!«
»Dann hattest du also auch mich im Verdacht? Oh Gott!« Er drehte seine Augen zum Himmel. »Was sollte ich denn für einen Grund gehabt haben?« Sollte sie es sagen?
»Du hättest ihn aus dem Weg haben wollen können, um zusammen mit Eleonore seine Reichtümer zu bekommen«, murmelte sie. Er lachte laut auf.
»So dumm kann niemand sein«, stellte er fest. »Das wäre doch sehr bald aufgefallen!«
»Ach, ich weiß nicht …«
|133|»Ich wusste nicht, dass du so eifersüchtig bist«, stellte er immer noch vergnügt fest.
Angelina stieß ihn in die Seite. Was bildete er sich eigentlich ein!
»Und Lucas und Sonia? Hatten die auch einen Grund, ihn zu töten?«, fuhr Francesco fort.
»Nein, gewiss nicht.«
»Oder hätte Botticelli einen gedungenen Mörder schicken sollen, weil Matteo versuchte, Savonarola zu Fall zu bringen?«
»Glaubst du wirklich, dass dein Meister zu so etwas fähig ist?«
»Nun, er war sehr aufgebracht, als er uns verlassen hat.«
»Signor Tomasio könnte auch einen Grund gehabt haben«, überlegte Angelina. »Aber der ist weit weg in Ravenna.«
»Warum der?«
»Weil er mich heiraten will, und weil Signor Matteo mich an dem Abend«, sie hüstelte, »bedrängt hat.«
»Ach nein! Das ist von großer Wichtigkeit, finde ich.«
»Ach ja, und wieso? Bist du etwa auch ein wenig eifersüchtig?«
»Was für ein Unsinn! Ich meine doch Tomasio. Er war ebenfalls an dem Abend anwesend, als dein zukünftiger Ehemann erstochen wurde.«
»Er könnte wirklich einen Beweggrund gehabt haben, aber er war zur Zeit der Tat nicht hier«, versetzte Angelina.
»Vielleicht ist er weder nach Ravenna gefahren noch nach Florenz zurückgekehrt? Vielleicht hat er uns verfolgt?«
Francesco seufzte. »Man könnte es ihm nicht verdenken.«
»Die Hitze und der Gestank in Florenz müssen unerträglich sein …«
»Ich hoffe wirklich, Botticelli ist nicht dorthin zurückgekehrt, sondern ins Mugello geflüchtet. Dieser Dickkopf!«
»Francesco, darf ich dich noch etwas fragen?«
»Aber gewiss!«
»Es ist eine dumme Frage.«
»Das ist mir gleich. Frag!«
»Was ist eigentlich ›Sünde‹? Ist sie das, was uns von Gott trennt?«
|134|Francesco blickte ihr ins Gesicht, umfasste es mit beiden Händen und küsste sie. Angelina genoss es; wie ein ferner Traum erschienen die Tage in Botticellis Haus vor ihrem inneren Auge.
»Das«, beeilte er sich zu versichern, als sie sich voneinander lösten, »war keine Sünde. Manche Leute halten es dafür – ich nicht. Ich habe Thomas von Aquin gelesen«, fuhr er fort, »auch wenn deine Eltern nicht glauben wollten, dass etwas in mir steckt. Thomas von Aquin sagte, dass alles, was im rechten Maß geschehe, Tugend, alles, was mit Unmaß getan werde, Sünde sei.«
Angelina atmete auf. »Dann kann das Bild, kann das Gewand, kann ich gar nicht sündig sein, weil es ja nicht im Unmaß geschehen ist, weder das Malen noch das Tragen des Kleides!«
Francescos Miene wurde ernst.
»Wer auch immer sich an deine Fersen geheftet hat, Angelina – er wird mit keinem Maß, das wir kennen, zu messen sein.«