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Angelina fühlte sich hin- und hergerissen. Ein Teil von ihr wollte unbedingt zu Francesco in die Werkstatt zurück, ein anderer Teil sagte ihr, es wäre gefährlich und sie würde nicht nur ihren eigenen Ruf gefährden, sondern auch ihr Leben und das anderer Menschen. Schließlich fragte sie Sonia um Rat.

»Mach das, wonach dein Herz begehrt«, meinte die Freundin vergnügt. »Lucas und ich sind damit immer gut gefahren.«

»Aber es ist gefährlich!«

»Was soll denn schon geschehen, liebe Angelina? Es ist doch schon so viel Schreckliches passiert, und wir haben es überlebt.« Sie stockte. »Wenigstens die meisten von uns«, setzte sie hinzu.

»Ich will zu ihm«, entgegnete Angelina. »Und ich werde jetzt gehen.«

Sie verließ den Laden.

»Gott beschütze dich!«, rief Sonia ihr hinterher.

Die Via Nuova lag im nachmittäglichen Glanz. Gerber und Handwerker gingen ihrer Arbeit nach, Hausfrauen eilten mit Körben zum Markt. Angelina betrat Botticellis Werkstatt. In dem hohen Raum waren viele Maler beschäftigt. Einige standen auf Gerüsten und bemalten große Leinwände, andere saßen an Tischen, um kleinere Bilder anzufertigen. Sandro Botticelli und einer der Maler, dessen Barett tief in sein Gesicht gedrückt war, befanden sich in einer lebhaften Unterhaltung. Angelina konnte Francesco nirgends entdecken. Sie stand abwartend, noch von niemandem bemerkt.

»Es geht nicht an, dass wir weltliche Bilder herstellen«, fuhr Botticelli den Maler an. »Wir sind aufgerufen, unsere Sünden zu bereuen. Und was machst du, Sebastiano di Torre? Du stellst eine Frau in mediceischen Gewändern dar, pfui, kann ich da nur sagen.«

|188|Er könnte Francescos Bild gemeint haben, dachte Angelina erschrocken. Einer der Maler kletterte von seinem Gerüst herunter.

»Ich glaube, du gehst zu weit, Meister«, sagte er. »Es ist ein Ding, die Lehre Savonarolas anzuhören und nach seinen Geboten zu leben. Aber müssen wir uns deswegen wie Arme kleiden und allen Freuden des Lebens entsagen? Müssen wir zu den blutleeren alten Formen zurückkehren? Den Nutzen dessen kann ich nicht sehen.«

»Das Gute ist absolut, es ist unteilbar!«, rief einer der Anwesenden.

»Ihr seid alte Klageweiber«, meinte der, den der Meister mit Sebastiano di Torre angeredet hatte. »Wer Savonarola rühmt, bekommt es mit mir zu tun.«

»Ich bange um dein Seelenheil, Sebastiano di Torre«, gab Botticelli zurück.

»Pah!«, rief Sebastiano. »Glaubst du, dass die Freuden der Welt dazu da sind, sie zu verdammen? Dass die schönen Frauen dazu gemacht sind, in Klöstern zu verfaulen? Ihr seid verblendete Toren, die dem Heuchler Savonarola auf den Leim gegangen sind!«

»Ich dulde solche Reden in meinem Hause nicht!«, schrie Botticelli.

»Nimm das zurück!«

»Wer Savonarola beschimpft, ist ein Schuft!«, kam es von den anderen Malern.

»Ich nehme nichts zurück«, entgegnete Sebastiano di Torre. »Und ich werde heute noch Florenz verlassen, die Stadt, in der meine Kunst zu einem Totentanz verkommt.«

»Florenz ist Gottes Reich geworden«, sagte Botticelli in begütigendem Ton. »Gott spricht durch Savonarola zu uns. Die Reichen geben den Armen. Gibt es etwas Schöneres auf der Welt?«

»Findest du es etwa schön, Bilder zu verbrennen, wie weiland im Februar geschehen? Findest du es schön, spindeldürre Frauen zu malen, ohne Busen und Hintern? Ist es dein Seelenheil, in Lumpen zu gehen und über deine Sünden zu weinen?«

|189|»Und du, mit deinen prächtigen Gewändern, deinem Samt und dem Gold, sprichst du nicht den Armen dieser Stadt Hohn?«

Sebastiano di Torre lief dunkelrot an.

»Und du, sprichst du nicht allen Künstlern dieser Welt Hohn?« Er drehte sich um, eilte zur Tür und rief im Zurückblicken:

»Die einzige Tugend, der ich mich unterwerfe, ist die Kunst! Merkt euch das, ihr Armseligen!«

In der Tür stieß er fast mit Francesco zusammen, der, mit einem Paket unter dem Arm, hereingestürmt kam. Kopfschüttelnd blickte Francesco ihm nach.

»Was ist denn hier geschehen?«, fragte er.

Botticelli antwortete nicht. Erst jetzt schien er Angelinas Gegenwart zu bemerken.

»Entschuldigt, Signorina Girondo«, sagte er mit bedauernder Miene. »Im Eifer habe ich Euch gar nicht gesehen.«

Francesco schaute von Angelina zu Botticelli.

»Was war denn hier los?«, fragte er noch einmal.

»Sebastiano di Torre will die Stadt verlassen«, gab Botticelli zurück.

»Worüber habt ihr gestritten?«, wollte Francesco wissen.

»Über den Gottesstaat und über … die Kunst.«

»Über Kunst lässt sich nicht streiten«, beschied Francesco. »Über den Gottesstaat allerdings.«

»Fang du nicht auch schon wieder damit an«, schnitt ihm Botticelli das Wort ab. »Als ich dich wieder aufnahm, hast du versprochen, das Thema endgültig hinter dir zu lassen!«

Francesco wandte sich an Angelina.

»Kommt, Signorina Girondo, wir wollten doch Euer Porträt fertigstellen.«

Davon hatte er ihr nichts gesagt. Und wieso sagte er nicht mehr ›du‹ zu ihr? Botticelli fragte:

»Wo hast du es denn versteckt, Francesco? Ich habe es schon lange nicht mehr gesehen. Ist die Darstellung vielleicht so sündhaft, dass du es vor den Augen der Welt, insbesondere der Kirche, verbergen musst?«

|190|Francescos Gesicht überzog eine leichte Röte.

»Ich habe es an einen sicheren Ort gebracht, weil ich wegen des Bildes schon einmal fast totgeschlagen wurde, wie du weißt, Sandro!«

»Nun gut, sei’s drum«, antwortete der Meister. »Aber bedenkt, Signorina Angelina: Euer Maler ist ein Anhänger Savonarolas. Er würde niemals eine Tat begehen oder ein Bild malen, das ihn sündig macht und das heißt, von Gott trennt. Und nun alle wieder an die Arbeit!«

Francesco fasste nach Angelinas Hand und zog sie mit sich. Über die steile Treppe gelangten sie nach oben in Francescos Zimmer. Angelina löste ihre Hand aus der Francescos und blieb abwartend an der Tür stehen.

»Komm doch«, sagte er, trat hinter sie und schob sie sanft in den Raum. Was wollte er von ihr? Wollte er sie wieder in eine Lage bringen wie gestern? Francesco schüttelte den Kopf, als habe er ihre Gedanken erraten.

»Nein, es ist nicht, was du denkst, Angelina. Ich möchte dir das Bild zeigen, es ist so gut wie fertig.«

Er stellte das Paket auf den Boden, ging in einen angrenzenden Raum und kam mit einem flachen Gegenstand zurück, der mit einem Tuch verhüllt war.

»Setz dich, bitte«, meinte er und zog einen Sessel heran. Angelina tat, wie ihr geheißen. Francesco holte eine Staffelei, setzte den verhüllten Gegenstand darauf und blickte Angelina gespannt ins Gesicht. Langsam zog er das Tuch von dem Bild. Angelina erstarrte. Ihr eigenes Antlitz schaute ihr entgegen, und es war ihr, als sehe sie in einen Spiegel, so lebensecht war es gemalt. Auch das Kleid war wundervoll dargestellt, mit jeder Falte und Rüsche, in genau den Farben, die Angelina beim Anfertigen so entzückt hatten. Doch an der Stelle, wo anfangs der Schal ihren Busenansatz verhüllte, war jetzt – nichts! Ihre Brust wölbte sich dem Betrachter rosig und verlockend entgegen.

Die Schamröte stieg Angelina ins Gesicht. Wie hatte er sie nur so täuschen können! Francesco hatte versprochen, ihr Porträt so zu |191|gestalten, dass es auf keinen Fall aufreizend oder sündig wirkte. Was wäre, wenn ihre Eltern es zu sehen bekommen würden? Oder gar Savonarola, die Florentiner Bevölkerung? Auf der anderen Seite war Francesco dieser fein modellierte Ansatz des Busens besonders gut gelungen. Ob Francesco sie begehrt hatte, während er das malte? Ob er sie jetzt noch begehrte, da das Bild vor seiner Vollendung stand? Etwas in ihr wurde weich, bröckelte ab wie die Eiskruste eines Teiches im Frühling. Aber nein, die Schande wäre zu groß, wenn irgendjemand dieses Bild erblicken würde. Von ihren Eltern verstoßen und wahrscheinlich schon als Geliebte des Malers verschrien, konnte sie sich damit nur noch mehr ins Unglück stürzen. Angelina war sich bewusst, wie rot sie geworden war.

»Warum hast du das getan, Francesco?«, fragte sie fast tonlos.

»Es ist meine Kunst, ich musste dich so malen, wie Gott dich geschaffen hat, zur Freude der Welt und insbesondere zur Freude für mich!«

»Du hattest mir aber versprochen …«

»Angelina, ich habe gemerkt, dass die Ansicht Savonarolas falsch ist. Seine Theorien über den Gottesstaat und die Verderbtheit der Menschen und der Päpste mögen richtig sein, aber von der Kunst hat er nicht den geringsten Begriff! Die schönsten Werke hat er einsammeln lassen und den Flammen übergeben – und warte nur noch eine Weile, so wird das Gleiche noch einmal geschehen.«

»Ich werde nicht warten, ich schäme mich so, dass ich dieses Zimmer auf der Stelle verlassen muss!«

»Bleib doch!«, sagte er und machte einen Schritt auf sie zu. »Weißt du nicht, dass ich dich liebe, schon immer geliebt habe, seit ich dich das erste Mal sah, als du mit deinen Eltern in Botticellis Werkstatt erschienst?«

»Ich liebe dich auch!«, stieß Angelina hervor. »Aber es darf nicht sein. Ich gehe jetzt und werde dich nie wiedersehen.«

Sie drehte sich um und lief zur Tür hinaus. Nie würde sie den Ausdruck des Schmerzes vergessen, der in Francescos Augen getreten |192|war. Angelina nahm zwei Stufen auf einmal, um schneller die Treppe hinunterzukommen, rannte durch die Werkstatt, von den verblüfften Blicken der Maler verfolgt. Draußen empfing sie die schon schwächere Herbstsonne. Angelina kehrte nicht in den Laden zurück, sondern wandte sich zum Dom. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Wie sehr sie Francesco hasste! Er hatte nicht nur Savonarola, Botticelli und sie, Angelina, verraten, sondern auch sich selbst. Dieses Bild durfte niemals unter die Leute kommen! Angelina sann verzweifelt nach, während sie durch die Gassen zum Dom lief. Es war ihr, als folgten ihr Schritte, die auf dem Pflaster klangen. Sie trat durch das Portal. Im Inneren des Doms verschluckte sie dämmerige Helle. Hier war die Allmacht Gottes spürbar. Angelina sank vor einem der Altäre nieder und versuchte zu beten.

»Warum seid Ihr so traurig, liebes Kind?«, fragte eine leise Stimme. Vor ihr stand ein Mann in der Kleidung der Messdiener. Angelina antwortete nicht.

»Ich werde Euch einen Priester schicken. Geht nur schon in den Beichtstuhl da drüben, es wird Euer Gewissen erleichtern.«

Langsam erhob sich Angelina. Sie war ja sowieso von aller Welt verlassen. Außer Sonia und Lucas blieb ihr kein einziger Freund. Sie ging mit schleppenden Schritten zu dem Beichtstuhl. Auf der anderen Seite der Abtrennung hörte sie jemanden atmen. Angelina sammelte sich.

»Ich nehme deine Beichte entgegen«, sagte eine Stimme hinter der Absperrung.

»Vater, ich habe gesündigt«, sagte Angelina, ohne lange zu überlegen. »Ich bin von zu Hause fortgelaufen und habe mich einem Maler an den Hals geworfen. Meine Eltern haben mich verstoßen. Heute habe ich gesehen, dass der Maler mich in einem sündigen Gewand gemalt hat. Ich wollte es nicht, Vater, aber ich habe es zugelassen.«

»Liebst du diesen Maler?«, wollte der Priester wissen.

»Ich …«, sie seufzte. »Nein, nicht mehr«, schloss sie.

|193|»Hat er dich jemals unsittlich berührt? Hat er sich an dir versündigt?«

Etwas warnte Angelina, dem Priester zu viel zu verraten.

»Nein, er hat sich mir immer in untadeliger Form genähert. Die Sünde habe allein ich auf mich geladen.«

Der Priester räusperte sich.

»Hast du als Kind einmal gesündigt? Versuche nicht, mich zu belügen.«

»Nein, Vater, ich bin mir keiner Sünde bewusst.«

»Gottes Gnade walte über dir, und dir sei verziehen. Bete jeden Morgen und jeden Abend zehn Mal das Vaterunser, und sündige nicht mehr. Das Bild sollst du an die Fanciulli ausliefern. Handle nach den Geboten Savonarolas, und nun gehe hin in Frieden.«

Erleichtert erhob sich Angelina aus ihrer knienden Stellung. Sie schaute sich nach dem Messdiener um, doch die Kirche war inzwischen leer.

Angelina strebte, ein wenig ermutigt, dem Ausgang zu. Ihre Schritte hallten in dem riesigen Schiff von den Wänden wider.

 

Sonia war mit dem Einsortieren von Trauben und Äpfeln in Körbe beschäftigt.

»Wie war dein Stelldichein drüben in der Werkstatt?«, fragte sie und zwinkerte Angelina zu.

»Was für ein Stelldichein?«, gab Angelina zurück.

»Na, du bist doch zu Francesco rüber, ich hab dich gesehen. Ist etwas schiefgegangen? Du siehst so traurig aus.«

»Es gab einen Streit«, sagte Angelina kurz angebunden.

»Ach, bevor ich es vergesse …«, Sonia richtete sich auf. »Ich habe eine Adresse für dich, von einer alten Freundin, die wird dich unterbringen. Sie wohnt in der Via Guelfa.«

Angelina nahm Sonia in den Arm. »Ich weiß deine, eure Freundschaft sehr zu schätzen, Sonia«, meinte sie.

»Wo ist eigentlich Lucas?«

»Auf dem Markt, Gemüse und Getreide einkaufen.«

|194|»Dann grüße ihn recht herzlich von mir. Ich gebe euch dann Bescheid, wenn ich gut untergekommen bin. Wie heißt denn deine Freundin?«

»Pallina Boni. Sie hat mir sehr geholfen, als ich … du weißt schon!«

»Ja, ich weiß«, entgegnete Angelina.

»Und schau mal hier«, sagte Sonia. »Ich habe Lucas ein Empfehlungsschreiben für dich aufsetzen lassen, bevor er zum Markt ging.«

»Ich werde mich gleich auf den Weg machen.« Angelina steckte den Brief in ihren Lederbeutel. »Danke Lucas von mir!«

»Ich würde dich gern begleiten«, meinte Sonia, »aber ich kann gerade nicht weg.« Sie umarmten sich.

»Viel Glück, Angelina!«

»Auf Wiedersehen, Sonia«, antwortete Angelina und trat in die Gasse hinaus, in der die Oktobersonne schon längere Schatten warf.