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Angelina eilte den Weg zum See hinunter, sah und hörte nichts mehr. Ziellos lief sie immer weiter am Wasser entlang. Ihre Welt war mit einem Mal zusammengebrochen. Was hatte sie nur dazu bewogen, alles hinter sich zu lassen? Sie könnte jetzt bei ihrer Familie sein, ihre Mutter würde ihr Marzipantörtchen zustecken und sich über die Eskapaden ihres Mannes beklagen. Oder sie würde ihren unvergleichlichen Rindfleischeintopf kochen. Wie es ihnen wohl erging? Angelina hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Sie wollte nach Hause, auf das Landgut, auf dem sich ihre Eltern und Geschwister befanden. Oder hatte die Pest sie schon hinweggerafft? Hatten die Fanciulli ihnen etwas angetan? Am liebsten wäre Angelina sofort zu einem der Wagen gegangen, hätte das Pferd einspannen lassen und wäre nach Florenz gefahren, aller Krankheit und Gefahr zum Trotz. An einer Weide, die ihre Zweige traurig ins Wasser hängen ließ, machte sie Halt. Sie schaute über den See mit seinen Inseln, sah die dahinter aufragenden Berge. Wie nahe waren sie und Francesco sich gekommen! Und das sollte nun alles vorbei sein? Das Blut schoss Angelina ins Gesicht. Aus den Wolkenbergen schossen einzelne Blitze, es grummelte und hallte von den Kuppen wider. Leise Schritte näherten sich, und sie schlug sich hastig in die Büsche, wo sie verharrte, bis Francesco, ohne sie zu bemerken, vorbeigegangen war. »Angelina! Angelina!« hörte sie ihn aus der Ferne rufen, aber sie antwortete nicht. Die Mücken zerstachen sie, aber sie regte sich nicht. Endlich kehrte er um, und sie schlich sich nach einer Weile nach Hause.

Auf dem Heimweg erwartete sie jederzeit, in den Regen zu geraten, aber das Gewitter ließ sich Zeit. Es war unerträglich schwül geworden. Plötzlich erstarrte sie. Sie sah Eleonore und Francesco im |155|Garten auf einer Bank sitzen. Die beiden hielten sich an den Händen. Eleonore strich Francesco über das Haar, dann näherte sie ihr Gesicht dem seinen. Angelina schaute weg und atmete tief durch, um ihr stark klopfendes Herz zu beruhigen. Es war also tatsächlich so, wie sie gedacht hatte. In Wahrheit liebte er Eleonore, hatte sie immer schon geliebt! Und sie, Angelina, hatte sich dazu herabgelassen, ihn zu küssen! Hatte sie ihn nicht tagelang gepflegt, als in Florenz die Pest herrschte? Ein fader Geschmack bildete sich in ihrem Mund. Sie beschloss, so bald wie möglich von hier fortzugehen. Doch wohin? Ihre Familie hatte sie verstoßen. Angelina ging auf ihr Zimmer und schaute aus dem Fenster. Über die Hügel Umbriens senkte sich allmählich die Dämmerung.

Eine der Mägde rief zum Abendessen. Angelina straffte ihre Schultern und begab sich zur Treppe. Jede Stufe erschien ihr wie eine Hürde. Aber sie musste es schaffen, gleichmütig zu wirken, musste diese Posse durchstehen. Was sollten die anderen, was die Diener von ihr denken, wenn sie sich gehen ließ und weinte wie ein kleines Kind? Die Familie und Freunde waren schon um den Tisch versammelt. Nachdem auch Angelina Platz genommen hatte, wurden eine kalte Gemüsesuppe und weißes Brot mit Butter aufgetragen. Obwohl Angelina keinen Appetit verspürte, aß sie so viel wie immer, um nicht weiter aufzufallen. Den forschenden Blicken Francescos wich sie aus. Sie aßen schweigend, bis Eleonore das Wort ergriff.

»Was unsere Geschichten betrifft, zähle ich auf eure Diskretion, meine Freunde. Dieser Mann, von dem ich sprach«, sie blickte Angelina an und da war etwas wie Scham in ihren Augen, »seinen Namen kann ich euch leider nicht nennen. Ihr sollt nur wissen, dass ich glaube, damit große Sünde auf mich geladen zu haben, und dass …«, sie stockte, »… mir deswegen Matteo von der Seite gerissen worden ist.«

»So etwas darfst du nicht denken, Eleonore«, sagte Francesco und winkte dem Diener, neuen Wein zu bringen. Angelina war fast froh, das seine Aufmerksamkeit von ihr abgelenkt war.

|156|Nach dem Essen zog sie sich auf ihr Zimmer zurück, wo sie sich angezogen auf das Bett legte und zur Decke starrte. Nun mal ernsthaft, fragte sie sich, was kann ich in meiner Lage tun? Angelina starrte an die Decke, bis das zarte Weinrebenmuster, mit dem diese bemalt war, vor ihren Augen verschwamm.

Dann fiel ihr etwas ein.

Endlich glitt sie in einen leichten, traumlosen Schlaf. In der Nacht glaubte sie, jemand habe an ihre Tür gepocht, doch sie regte sich nicht. Als am Morgen die ersten Hähne krähten, stand sie auf, zog ihr graues Reisekleid an, packte ihren Beutel und schlich die Treppe hinunter zur Küche. Die Diener und Mägde waren noch nicht aufgestanden. Angelina tastete sich im Halbdunkel voran, sie wagte kein Licht anzuzünden. Ein Brot und ein Stück Schinken steckte sie in ihren Beutel. Vorsichtig schaute sie sich um. Alles still. Sie trat aus der Tür in den frischen Morgen hinaus.