Angelina starrte in das Gesicht Domenians, der die Öllampe in der Hand hielt, um sie besser sehen zu können.
»Du bist soeben von einem Hexensabbat zurückgekehrt«, sagte er mit einem zufriedenen Lächeln.
»Ja«, antwortete Angelina erschöpft. »Aber ich bin nicht freiwillig dort gewesen. Diese Reisen habe ich dir zu verdanken, Domenian.«
Er ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte:
»Ich habe jemanden mitgebracht. Wahrscheinlich wirst du dich freuen, ihn zu sehen.«
Hinter ihm wurde eine zweite Gestalt sichtbar. Angelina erschrak zutiefst. Es war Tomasio, dem sie ihr Bild gegeben und dem sie vertraut hatte, bis er sie Domenian überließ. Und das, obwohl er sagte, dass er sie liebte. Er hielt das Porträt in den Händen.
»Erkennt Ihr es wieder, Signorina Girondo?«, fragte Tomasio.
Und ob sie es wiedererkannte. Das Licht der Lampe erleuchtete ihr Gesicht und den Ansatz ihres Busens. Was für eine unschuldige Zeit war das gewesen, als sie sich dieses Kleid bei Tomasio hatte anfertigen lassen! Wie freundlich er damals zu ihr gewesen war. Dieser Mann hatte ihr ein Kleid gemacht, das er ihr später, als sie ihn nicht wollte, als Sünde anlastete. Doch in den Zügen ihres gemalten Gesichtes lag immer noch dieser Ausdruck, der sie zugleich erschreckte und heftig erregte. Angelina schloss die Augen. Sah so eine Hexe aus, eine Hure? Sah so jemand aus, in den ein Dämon gefahren war?
»Schau das Bild an!«, befahl Domenian. Angelina riss die Augen auf.
»Warum quälst du mich so?«, fragte sie müde. »Warum bringst du diesen Mann, der mich verraten hat, zu mir?«
|416|»Er sollte nur das Bild hierherbringen«, entgegnete Domenian. »Dann kann er wieder gehen.«
»Was hast du mit dem Bild vor?«
»Es wird mit dir brennen.«
Angelina schluckte. Sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Mit aller Kraft versuchte sie, sich wach zu halten. Ihr Kopf dröhnte.
»Ich bin noch nicht bereit zu gehen«, sagte Venduti. Hoffnung keimte in Angelina auf. Vielleicht hatte er sich es anders überlegt, vielleicht wollte er sie hier herausholen? »Wie oft stand ich vor diesem Bild und habe mir insgeheim gewünscht, diese Frau in meinen Armen zu halten«, fuhr er fort.
»Das sind sündige Gedanken, Tomasio, überlege dir gut, was du sagst«, zischte Domenian.
Tomasio warf Domenian einen wütenden Blick zu.
»Ich bin es leid, mich von dir wie ein Kind behandeln zu lassen«, schnaubte er. »Bin ich nicht für dich mit dem Bild herumgereist, um seinen Wert schätzen zu lassen?«
»Das habe ich nicht von dir verlangt«, gab Domenian zurück. »Du solltest es nur für mich verwahren. Und wo sonst als bei dir wäre es in Sicherheit gewesen? Geh jetzt und vergiss, dass wir uns je begegnet sind.«
Tomasio stemmte die Hände in die Hüften.
»Ja, das Bild war bei mir in Sicherheit«, schimpfte er. »Aber es hätte mich Kopf und Kragen kosten können!«, fuhr er fort. »So leicht kommst du mir nicht davon, Domenian. Ich habe nichts gesagt, als du Fredi erstochen hast! Ich habe dir verraten, wo Matteo weilte! Ich habe die Gräfin Scroffa für dich aus dem Weg geräumt! Ich habe alles für dich getan, und so willst du es mir jetzt lohnen? Ich werde mir das nehmen, was mir zusteht.«
Tomasio machte einen Schritt auf Angelina zu. Er fuhr mit den Fingern die Konturen ihres Halses entlang. Angelina wand sich, aber sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Tomasio strich über ihre Brüste, zeichnete ihre Kontur nach, so wie sie auf dem Porträt zu sehen waren. Er seufzte. Angelina hörte einen Laut, wie |417|ihn ein Hund ausstoßen würde, der seine Beute erspäht hat. Dann ein Krachen, als wenn Knochen splitterten. Es wurde dunkel. Der Körper Tomasios fiel auf sie herab, so dass sie glaubte zu ersticken. Sie konnte sein Lid an ihrer Wange zucken spüren. Etwas Warmes lief ihr Gesicht hinab.
Eine Weile herrschte Schweigen. Angelina merkte, dass Tomasio noch atmete. Das Licht wurde wieder angezündet. Angelina erschrak über Domenians Anblick. Sein Gesicht war aschfahl, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Die Lampe zitterte in seiner Hand.
»Ich dulde keine Sünde mehr, jetzt, wo mein geliebter Herr nicht mehr ist, weniger denn je!«, schrie er. Er stellte die Lampe auf den Boden und wälzte Tomasio von Angelina herunter. Sie wagte kaum zu atmen. Tomasio lag neben ihr und stöhnte. Domenian zog einen Gegenstand aus seiner Kutte. Es war eine Puppe aus Wachs, ohne Augen, ohne Mund, ohne Arme und Beine. Domenian band Angelina die Handfesseln los und reichte ihr eine Nadel. Er gab ihr die Puppe in die Hand, und dann verband er ihr mit einem Tuch die Augen.
»Diese Nadel musst du jetzt in das Herz dieser Puppe bohren, damit Tomasio von seinen Sünden befreit wird«, sagte er.
»Ich kann es nicht«, flüsterte Angelina.
»Dann wirst du gleich meinen Dolch spüren.«
Angelina fühlte das kalte Metall an ihrem Hals.
Sie nahm die Nadel und stach sie an die Stelle, an der sie das Herz vermutete. Gleich darauf hörte sie einen Schrei und ein Gurgeln. Domenian nahm ihr das Tuch wieder ab. Tomasio war in sich zusammengesunken, seine Augen waren verdreht.
»Siehst du, du hast ihn erlöst«, sagte Domenian dumpf. Etwas explodierte in Angelinas Kopf.
Er hatte unrecht.
Sie war keine Hexe. Er war es, der verrückt war. »Ich habe ihn nicht getötet«, sagte sie langsam, jede Silbe betonend. »So wenig, wie ich damals deinen Bruder getötet habe. Du hat mir diese Schuld nur eingeredet und ich habe sie getragen, mein Leben lang!«
|418|»Du bist eine Hexe, Angelina, daran führt kein Weg vorbei. Und da nur ich darum weiß, bin auch ich es, der dich richten wird.«
Francesco dachte angestrengt nach. Dabei rieb er sich die Stirn.
»Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren«, sagte er. »Jede Stunde, die wir mit der Suche verbringen, kann Angelinas letzte sein. Es nützt nichts, wenn wir von einem Ort zum anderen eilen und irgendwelchen Mutmaßungen nachgehen. Wo könnte alles angefangen haben?«
»Auf jeden Fall schon vor dem Fest auf dem Landgut«, erwiderte Lucas.
»Wir müssen erfahren, was damals vor der Entführung Angelinas geschah.«
»Wer könnte uns darüber Auskunft geben?«, fragte Botticelli.
»Nur Angelinas Eltern«, antwortete Francesco. Er schlug sich an den Kopf. »Dass ich nicht früher darauf gekommen bin! Wir müssen sofort zu ihnen!«
»Ich begleite dich«, meinte Lucas.
Sie eilten zum Stadthaus der Girondos. Auf ihr Klopfen wurden sie sogleich eingelassen. Der Diener führte sie ins Primer Piano, wo Signora Girondo sie mit rotgeweinten Augen empfing. Signor Girondo redete beruhigend auf Rodolfo und Clementina ein.
»Wo ist meine Tochter, meine Angelina?«, rief Signora Girondo aus.
»Sie hat versprochen, wiederzukommen, ist aber seit Tagen nicht erschienen. Ich fühle, dass ihr etwas zugestoßen sein muss.«
»Sie wird mal wieder bei Rinaldo oder sonst wo sein«, warf ihr Gatte ein.
»Nein, dort ist sie nicht«, sagte Francesco mit fester Stimme. »Auch wir glauben, dass sich Angelina in höchster Gefahr befindet! Aber du musst dich beruhigen, Lukrezia.« Signor Girondo warf seiner Gattin einen fragenden Blick zu.
»Ja, wir haben uns einmal nahegestanden, Lorenzo. Wir hatten doch nach der Beichte darüber gesprochen«, sagte Signora Girondo. |419|»Aber das ist lange her und tut nichts zur Sache. Abgesehen davon hast du es mir ja immer vorgemacht!« Signor Girondo wollte den Mund zu einer Erwiderung öffnen, doch Francesco bedeutete ihm zu schweigen.
»Darüber könnt ihr später miteinander reden«, sagte er. »Es gibt einen wichtigen Grund, warum wir hier sind. Was geschah damals, bevor Angelina entführt und in diesen Keller gebracht worden war?«
Das Ehepaar schaute einander in die Augen.
»Ich weiß es nicht mehr«, meinte Signora Girondo.
Signor Girondo zuckte hilflos die Achseln.
»Habt ihr das alles aus eurer Erinnerung verbannt?«, bohrte Francesco weiter, »so wie es auch Angelina verbannt hat?«
»Es ist so lange her«, jammerte Signora Girondo. »Wie haben wir denn damals gelebt, Lorenzo?«
»Nun, wir haben Feste gefeiert, ich habe das Kontor in Florenz verwaltet, Tuche verkauft, wir sind in die Kirche gegangen …«
»Mit Lorenzo de’ Medici haben wir Umgang gepflegt«, fügte seine Frau hinzu.
»Das hilft uns nicht weiter«, drängte Francesco. Lucas wartete gespannt.
»Was habt ihr im Sommer gemacht?«
»Da waren wir auf unserem Landgut«, brachte Signora Girondo hervor.
»Und auch da habt ihr Feste gefeiert, nicht wahr?«, versuchte Francesco ihr weiterzuhelfen. »Angelina war noch ein halbes Kind. Wie hat sie ihre Tage auf dem Landgut verbracht?«
»Sie hat mit Nachbarkindern gespielt. Da war auch ein Bauernsohn, der sie gernzuhaben schien. Sie hatte wohl seinen Bruder lieber als ihn. Und eine Verbindung wäre sowieso nicht in Frage gekommen, mit beiden nicht.«
»Was geschah an dem Tag, bevor Angelina entführt wurde?«, fragte Francesco weiter.
Signora Girondos Züge wurden weich.
»Jetzt weiß ich es wieder. Wir waren auf der Festa Sagra in Fiesole. |420|Angelina tanzte mit dem Bruder dieses Bauernjungen, ich weiß seinen Namen nicht mehr. Immer, wenn sie an uns vorbeitanzte, winkte sie uns zu.«
»Und dann?«, fragte Francesco.
»Dann waren die beiden mit einem Mal verschwunden. Wir suchten sie überall, konnten sie aber nirgends finden. Tagelang haben wir nach ihr gesucht.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Erst viel später wurde sie in diesem Keller entdeckt. Sie sprach nie über das, was mit ihr geschehen war. Und so dachten wir, es wäre das Beste, wenn sie und wir alle es vergaßen.«
»Ob das wirklich das Beste war …«, begann Francesco, ließ den Satz aber unvollendet. Zu Lucas gewandt, sagte er:
»Wir müssen in Fiesole selbst suchen.«
Mit einem kurzen Gruß waren beide zur Tür hinaus und ließen die Familie fassungslos zurück.
Francesco hatte Lucas gebeten, zu Sonia zurückzugehen, um sie zu beschützen. Er musste Angelina allein finden, durfte niemanden mehr in Gefahr bringen. Es war dunkel, als er in Fiesole ankam. Kein Mensch zeigte sich in den Gassen. Am Marktplatz war noch ein Gasthaus geöffnet, aus dem der Lärm der Zecher drang. Francesco band sein Pferd an einen Ring, der in die Mauer eingelassen war, und betrat den Schankraum.
Er war dunkel getäfelt; in einer Ecke glühte ein Kamin. Männer und Frauen saßen an den Tischen, aßen, tranken und unterhielten sich lauthals miteinander. Francesco steuerte auf den Wirt zu, der im Begriff war, Fladenbrote, mit Schinken und Rahm belegt, in den Ofen zu schieben. Francescos Magen knurrte, doch er konnte sich nicht mit Essen aufhalten.
»Könntet Ihr mir eine Auskunft geben, Signore?«, fragte er.
Der Wirt richtete sich auf. Sein Gesicht glänzte von Schweiß.
»Kommt darauf an, was Ihr wissen wollt«, entgegnete er.
»Wo wird hier im Mai die Festa Sagra abgehalten?«
»Auf dem Platz vor der Kirche«, gab der Wirt zur Antwort.
|421|»Gibt es in der Nähe einen Weinkeller, der nicht mehr genutzt wird?«
»Davon gibt es viele«, meinte der Wirt. »Der nächste liegt am Ortsrand, nach Westen zu. Er gehört der Gemeinde. Früher habe ich selbst meinen Wein darin gelagert. Aber jetzt habe ich einen eigenen Weinberg. Ich glaube, zur Zeit nutzt ihn nur noch einer für ein paar uralte Fässer …«
Francesco dankte ihm und ließ sein Pferd beim Gasthaus zurück, um sich geräuschlos bewegen zu können. Die Gassen waren nur spärlich mit Kohlepfannen erleuchtet. In westlicher Richtung, hatte der Wirt gesagt. Francesco erreichte eine Gruppe von Bauernhäusern, die am Ortsrand standen. Alles war dunkel. Er stand still und horchte angestrengt in die Nacht hinaus. Kein Laut war zu vernehmen. Doch da … es war, als hätte eine Tür gequietscht und würde wieder geschlossen. Francesco hörte, wie ein schwerer Gegenstand über den Boden geschleift wurde. Er rannte los. Eine dunkle Gestalt war dabei, den Gegenstand auf einen Pferdekarren zu wuchten. Die Gestalt drehte sich zu ihm um, gab einen erstickten Laut von sich und schwang sich auf den Karren. Francesco schlich sich bis zur Tür des Weinkellers vor. Er hörte, wie sich das Hufgetrappel entfernte. Francesco nahm einen Anlauf und warf sich gegen die Tür. Holz krachte, doch die Tür hielt stand. Wieder und wieder warf er sich dagegen. Endlich splitterte das Holz, und der Eingang lag offen vor ihm. Im Schein einer Öllampe sah er Angelina zusammengekrümmt am Boden liegen. In einer Ecke lehnte das Bild. Francesco kniete neben Angelina nieder und sah, dass sie die Augen geöffnet hatte. Er strich ihr über die Haare.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, sagte er und begann, ihre Fesseln zu lösen, die sich tief ins Fleisch eingeschnitten hatten. Sie blickte befremdet zu ihm auf.
»Was willst du?«, fragte sie. In ihren Augen lag ein höhnischer Ausdruck.
»Ich will dich retten, Angelina, dich aus den Klauen dieses Teufels befreien!«
|422|»Oh ja, er ist ein Teufel.« Sie lachte. »Aber ich bin ein Teil von ihm. Er ist mein Geliebter, bei ihm will ich bleiben, mit ihm will ich ausfahren, tanzen, essen, trinken, buhlen …«
War Angelina verrückt geworden?
»Du kommst jetzt mit mir«, befahl Francesco. »Du bist keine Hexe, Domenian hat dich das nur glauben gemacht!«
Ihr Blick war glasig, sie schien ihn nicht zu hören. Er schüttelte sie, doch es half alles nichts. Er versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Angelina, komm zu dir!«
Sie riss die Augen auf, als würde sie ihn jetzt erst erkennen. Francesco hatte sie inzwischen mit seinem Messer von ihren Fesseln befreit.
»Beeile dich, er kann jeden Augenblick zurückkommen«, sagte er.
»Er hat Tomasio … umgebracht«, stammelte Angelina.
»Ich weiß«, meinte Francesco und blickte zu seinem Bild. Er fasste nach ihrer Hand, um ihr aufzuhelfen.
Ihre Augen wurden groß, ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei. Im selben Moment erhielt Francesco einen gewaltigen Schlag auf den Kopf, so dass er vornüber sackte. Nicht schon wieder!, dachte er. Es wurde dunkel um ihn. Als er mit brummendem Schädel erwachte, bemerkte er, dass er an Händen und Füßen gefesselt und allein in dem Keller war. Durch die Tür drang Rauch, so dass er husten musste.