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Angelina konnte es kaum erwarten, dass Natale, das Weihnachtsfest, und das Ende des Jahres näher kamen. In diesem Jahr würde sie das erste Mal vor anderen auftreten. Seit Anfang Dezember hatte sie zusammen mit Mutter Elisa, Suor Dorothea und anderen Nonnen ein Paradiesspiel einstudiert, das am heiligen Abend aufgeführt werden sollte. In den Tagen davor wurde im Kloster gefastet. Nichtsdestoweniger buken die Nonnen Panettone, einen Kuchen mit Rosinen und kandierten Früchten, der am ersten Weihnachtsfeiertag serviert werden würde. Eine Wurzelholzkrippe wurde in der Kirche aufgebaut. Vor dem Kirchenportal stand eine Stechpalme, mit roten Äpfeln behangen.Überall herrschte geschäftiges Treiben. Angelina kam kaum mehr zum Nachdenken und war dankbar dafür.

Nach der Vesper am heiligen Abend kam der große Augenblick: Das Paradiesspiel begann. Zahlreiche Menschen aus den umliegenden Dörfern waren gekommen, um sich die Spiele anzusehen und anschließend der Christmette beizuwohnen. Im Refektorium war aus Brettern eine Bühne errichtet, die Zuschauer saßen auf den Bänken, die normalerweise beim Essen benutzt wurden. Angelina hatte die Rolle der Eva übernommen, Bianca die des Adam. Mutter Elisa hatte sich dazu herbeigelassen, die Schlange zu spielen. Sie trat auf die Bühne und klatschte in die Hände. Augenblicklich wurde es still unter den Zuschauern.

Mutter Elisa leitete das Spiel mit den Worten ein: »Werte Anwesende, wie jedes Jahr führen wir heute das Spiel vom Garten Eden auf, von Adam und Eva, der Schlange und dem ersten Sündenfall. Ihr werdet Eure Erbauung und Erleuchtung mit nach Hause nehmen.«

|283|In der ersten Szene wandelten Angelina und Bianca im Garten Eden herum, der aus Moosen, Farnen, Oliven- und Buchsbäumen zusammengestellt war. Prächtige Blumen aus Stoff prangten in den Bäumen. Ein Bottich mit Wasser sollte das Wasser des Lebens darstellen. Angelina trug ein kurzes Leinenkleid und Fellschuhe. Das lange Haar fiel ihr offen über die Schultern. Danach hatte sie sich immer gesehnt: Ohne die einengenden Kleidungsstücke, Hauben und Bänder, einfach so zu sein, wie Gott sie geschaffen hatte. Sie warf einen Blick zu Bianca-Adam hinüber, die mit einem Lendenschurz und einem knappen Wams aus Leder bekleidet war. Ihre Haare hatte sie unter einer Filzkappe verborgen. Dorothea, mit Engelsflügeln und weißem Gewand, saß unter einem Baum und spielte die Laute. Andere Nonnen, ebenfalls als Engel verkleidet, sangen im Hintergrund. Angelina trat zu Bianca und nahm sie an der Hand.

»Oh, wie ist es herrlich und beruhigend, im Paradies zu sein«, sagte sie. »Wir sind geboren, ich aus dir und du aus Gott, und wir sind ohne Schuld und Fehler.«

Bianca löste ihre Hand aus der Angelinas und fasste sie mit beiden Händen an den Armen.

»Möge dieser Zustand doch ewig anhalten! Wir dürfen Gott, unseren Herrn, keinesfalls erzürnen, sondern müssen immer tun, was er uns geheißen hat.«

»Was hat er uns denn geheißen?«, fragte Eva.

»Wir dürfen nicht von den roten Äpfeln eines bestimmten Baumes essen. Sonst ist uns alles erlaubt.«

»Wir dürfen mit den Engeln tanzen, singen, süße Feigen und Kirschen essen, uns in Wasserfällen baden?«

»Alles! Nur eben eines nicht.«

»Von diesem Baum der Erkenntnis essen.«

Sie tanzten und sangen mit den Engeln. Mutter Elisa näherte sich vom Bühnenrand her. Sie trug ein feuerrotes Zottelkleid mit grünem Hut, auf dem lange Federn wippten. Ihr rosiges Gesicht hatte sie geschwärzt, so dass die Augäpfel weiß daraus hervorstachen. Mit einem Zischen näherte sie sich Adam und Eva. Angelina musste ein |284|Lachen unterdrücken, und auch im Zuschauerraum wurde verhaltenes Glucksen hörbar. Die Schlange wand sich, schlängelte sich näher an Angelina heran. Adam beschäftigte sich währenddessen mit einem der Engel, auf den er einredete. Die Schlange brachte ihr Gesicht ganz nah an das von Eva heran und sagte näselnd:

»Es ist schön für dich, im Paradies zu sein, Eva. Doch du dauerst mich. Nichts weißt du von dem, was in der Welt da unten vor sich geht. Du wirst auf ewig dumm und unwissend bleiben!« Die Schlange zischte abermals und wackelte mit dem Hinterteil. Angelina bemühte sich, ernst zu bleiben. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief:

»Aber ich will nicht auf ewig dumm und unwissend bleiben! Was kann ich tun, Frau Schlange, um sehend zu werden?«

Die Schlange grinste geheimnisvoll.

»Es gibt einen Baum im Paradies, der heißt der Baum der Erkenntnis. Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse!«

»Was sind das für Früchte, die am Baum der Erkenntnis wachsen?«

»Es sind rote Äpfel«, sagte die Schlange. Zwei Engel trugen den Baum, der vor der Kirche gestanden hatte, auf die Bühne.

»Das ist der Baum«, erklärte die Schlange und drehte sich einmal um sich selbst. Eva lief entzückt auf den Baum zu. Sie griff nach einem der Äpfel und biss herzhaft hinein. Der Saft rann ihr am Mund herab. Die Schlange zog sich langsam zurück und war dann verschwunden. Evas Augen wurden groß, sie gingen ihr über. Adam löste sich von dem Engel, mit dem er gesprochen hatte, und trat auf Eva zu.

»Was isst du da, Eva?«, wollte er wissen.

»Einen Apfel vom Baum der Erkenntnis.«

Adam sprang einen Schritt zurück.

»Aber das dürfen wir nicht! Gottvater hat es verboten!«

»Willst du dein Leben lang dumm und unwissend bleiben? Ich erkenne schon, ich weiß jetzt, was gut und was böse ist.«

|285|»Niemals werde ich mein Wort brechen!«, rief Adam aus.

»Dann sind unsere Wege von nun an getrennt«, meinte Eva. Sie wandte ihm den Rücken. Was sagte sie da? Angelina erschrak heftig. Gerade hatte sie ihrem Freund, der sie über alles liebte, mit der Trennung gedroht. Aber sie durfte nicht aus der Rolle fallen. Eva drehte sich wieder zu Adam um.

»Du hast freilich die Wahl, ob du davon essen willst oder nicht. Ich fange schon an zu bereuen, dass ich es getan habe!«

»Was du getan hast, will ich ebenfalls tun«, sagte Adam. »Ich werde ebenfalls von dem Baum essen.« Er nahm einen Apfel und biss hinein. Die beiden schauten sich einen Augenblick lang entsetzt an. Die Schlange trat an den Rand der Bühne und erklärte: »Sie werden sich ihrer Nacktheit bewusst und schämen sich. Sie bedecken ihre Blöße mit Feigenblättern. Gottvater will sie zur Rede stellen, aber sie verstecken sich. Adam weist Eva die Schuld an dem Sündenfall zu, Eva klagt die Schlange an. Aber Gott sagt, jeder habe sich selbst entschieden.«

Die Schlange trat ab, und die Engel flohen von der Bühne. Gleich darauf erschienen schwarze Teufel, die brennende Fackeln schwenkten, einen wilden Tanz aufführten und dabei tierische Laute ausstießen. Sie warfen die Bäume um, gossen den Kübel mit dem Wasser des Lebens aus und warfen kleine Kugeln auf die Bühne, die knallend explodierten. Alles war mit Rauch erfüllt. Schließlich erschien die Schlange, schwang ein Schwert und verkündete:

»Adam und Eva, ihr habt euch entschieden! Ihr könnt nimmer mehr im Paradies bleiben. Von heute an werdet ihr zu den Menschen gehören, werdet leiden und sterben. Ihr seid in Sünde gefallen.«

Angelina war es, als spielte sie sich selbst. Hatte man nicht auch sie aus dem Paradies vertrieben? Die Teufel bewaffneten sich mit Mistgabeln und scheuchten Adam und Eva aus dem Paradies. Die Engel versuchten die Teufel zu vertreiben, aber die Teufel warfen ihnen Knallkörper zwischen die Füße und fuhren mit der Vertreibung fort. Schwer atmend lief Angelina, Adam an der Hand, hinter |286|die Bühne, wo ein Vorhang die Spieler vor den Zuschauern verbarg. Die Zuschauer klatschten in die Hände. Offensichtlich hatte ihnen das Spiel gut gefallen. Alle miteinander, Engel, Teufel, Schlange, Adam und Eva kamen noch einmal nach vorn auf die Bühne und verbeugten sich. Die Zuschauer waren begeistert. Mutter Elisa, jetzt wieder in ihrer Ordenstracht, kam ebenfalls nach vorn, um das Schlusswort zu sprechen.

»Ich danke Euch für die Anteilnahme an unserem Spiel. Dies war die erste Sünde, die uns alle von Gott trennen sollte: vom Baum der Erkenntnis zu essen, zu wissen, was gut und was böse ist. Und vor allem: so wie Gott sein zu wollen! Ein jeder gehe von hier in Demut und Bescheidenheit, denn Gott in seinem unendlichen Ratschluss wacht über uns.«

Die Anwesenden erhoben sich feierlich und sprachen zusammen mit den Nonnen das Glaubensbekenntnis Quicumque.

Quicumque vult salvus esse,

ante omnia opus est, ut teneat catholicam fidem:

quam nisi quisque integram inviolatamque servaverit,

absque dubio in aeternum peribit.

»Wer auch immer gerettet sein will, dem ist vor allem aufgegeben, den wahren Glauben zu bewahren. Wer diesen nicht vollständig und unverletzt bewahrt, wird ohne Zweifel auf ewig verloren sein.«

 

»… wird ohne Zweifel auf ewig verloren sein.« Dieser Satz ging Angelina nicht mehr aus dem Kopf, als sie nach der Mitternachtsmesse allein in ihrer Zelle lag. Eva war durch die Schlange verführt worden, und sie hatte daraufhin Adam verführt. Bestand darin ihre Sünde? Hatte sie selbst jemanden verführt, hatte sie gar jemanden getötet, vor langer Zeit? Sie dachte an den Toten, den sie einen Moment lang während der Beichte bei dem Priester gesehen hatte, doch sie schüttelte diesen Gedanken wieder ab.

Die Feiertage waren eine Abwechslung im Einerlei des Tageslaufs. |287|Es gab Aal in Wein mit Salbei und zum Nachtisch den Panettone. Noch nie hatte das Essen so gut geschmeckt wie nach dieser Fastenzeit. Am Nachmittag begann es zu schneien. Bald lag eine weiße Decke auf den Feldern, Weinbergen und Wäldern. Als Angelina aus dem Fenster schaute und sah, wie die Welt unter einem Leichentuch versank, wurde sie traurig.

Am letzten Tag des Jahres läutete die Glocke der Kirche des Klosters Corona. Angelina wusste es jetzt: Sie würde hier bleiben. Gleich am anderen Tag setzte sie sich hin und schrieb einen Brief.

»Francesco, ich habe lange mit mir gerungen und bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser für alle und auch für mich sein wird, wenn ich im Kloster bleibe. Seit der Zeit, die ich hier lebe, ist niemand mehr zu Tode oder zu irgendeinem Schaden gekommen. Ich habe keinen Platz mehr in der Welt. Und wenn es etwas gäbe, das einem Paradies nahekommt, dann ist es diese kleine Gemeinschaft! Ich verbringe meine Tage, ohne groß über mein Leben nachsinnen zu müssen. Es gab eine Zeit, da habe ich dich geliebt, Francesco. Aber es ist zu viel geschehen, so dass dieses Gefühl zerrissen ist wie eine Spinnwebe vom Besen der Magd. Ich werde dich immer in meinem Herzen behalten und oft an dich denken. Lebe wohl, Francesco, ich wünsche dir ein gutes Leben und eine Frau, die es besser mit dir versteht als ich.« Sie zeigte diesen Brief niemandem, auch Mutter Elisa nicht, sondern übergab das Schreiben einem Boten, nachdem sie den Brief mit dem Siegel des Klosters versehen hatte.

Danach ließ sie sich in ihrer Zelle auf dem kalten Boden nieder und starrte lange stumm vor sich hin. Es war ihr, als hätte sie ihr eigenes Todesurteil gesprochen.

Am Nachmittag desselben Tages entwich sie aus dem Kloster und irrte ziellos durch die Weinberge, bis sie einen Keller fand, dessen Tür offen stand. Hier vergrub sie sich, bis sie am nächsten Morgen von den Handwerkern des Klosters, die Mutter Elisa auf die Suche nach ihr geschickt hatte, mit Hilfe ihrer Hunde entdeckt wurde. Als man sie herausführte, waren ihre Lippen blaugefroren.

 

|288|Francesco hatte die Weihnachtstage bei Rinaldo und seinen Töchtern verbracht, wo er sich mit öden Porträtmalereien über Wasser hielt. Am heiligen Abend lief er allein durch das verlassene Florenz, sah Bettler an Feuern sitzen. Er dachte an Angelina. Wie sie sich wohl entscheiden würde? Und wenn sie nicht zurückkäme, was wäre dann? Am Anfang des neuen Jahres brachte ein Bote einen versiegelten Brief. Er kam vom Kloster Corona della Santa Maria. Francesco erbrach das Siegel. Nachdem er die Worte gelesen hatte, blieb er lange bleich und verloren sitzen.