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Es war genau so, wie Angelina es vorausgesehen hatte. Ihre Mutter war damit beschäftigt, alles aus den Verstecken zu holen, was man seinerzeit vor den Fanciulli gerettet hatte. Da gab es Silberleuchter, Besteck, irdene Schüsseln und Teller, mit Goldrand verziert, sowie Kleider aus Brokat, Samt und Seide, Hüte, Felle, perlenbesetzte Haarnetze, Marmorstatuen, Masken und Kostüme. Wer weiß, in welchen Hohlräumen die Sachen gesteckt hatten! Signor Girondo war am Morgen schon in sein Kontor geeilt, um die Rechnungsbücher noch einmal zu überprüfen und festzustellen, wie viel Verlust die Herrschaft Savonarolas ihm eingebracht hatte.

Angelina war glücklich, wieder bei ihrer Familie zu sein, aber sie sah auch die Schattenseiten. Ihre Eltern würden niemals der Wahrheit ins Gesicht sehen wollen. Sie selbst war mehr denn je entschlossen, der alten Geschichte auf den Grund zu gehen, komme, was da wolle. Sie würde sich an der Ausführung ihrer Pläne nicht mehr hindern lassen, auch von Francesco nicht!

Zu ihrem Erstaunen erregte sie der Gedanke, Domenian Brenetto zu finden und ihn zu stellen. Sie verließ das Haus am Mittag nach dem Essen. Ihre Mutter versuchte nicht mehr, sie an etwas zu hindern. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass Angelina ihr noch einmal entgleiten könnte. Und auch Angelina hatte jetzt nur noch einen Gedanken: den Mann zu finden, der sie alle auf dem Gewissen hatte, und ihn seiner gerechten Strafe zukommen zu lassen.

Auf ihrem Weg zur Piazza della Signoria lauschte sie den Gesprächen der Menschen, die in Gruppen zusammenstanden. Savonarola sei heute Morgen gefoltert worden, hörte sie, aber er habe nicht gestanden. Wessen er denn eigentlich angeklagt sei, fragte jemand. Einige zuckten mit den Achseln. Er sei als Ketzer angeklagt, |366|antwortete ein Mann, der Florenz aus dem Schoß der heiligen Kirche habe führen wollen. Er sei kein Prophet gewesen, sondern ein Scharlatan.

Endlich erreichte sie den Dom. Es war ihr danach, noch einmal zu beichten. Durfte sie das, nach allem, was geschehen war? Sie musste es tun, sie musste in die Höhle des Löwen gehen. Angelina sah, wie ein Mönch, ins schwarz-weiße Habit der Dominikaner gekleidet, die Treppe hinunter zur Krypta huschte und verschwand. Ob das Domenian gewesen war? Sie näherte sich der Krypta, aber der Mönch war schneller, kam die Treppe wieder herauf, mit einem Bündel in der Hand, und verschwand um die Ecke des Doms. Sie lief ihm hinterher, aber auf der anderen Seite war nichts mehr zu sehen. So betrat sie die Vorhalle des Doms und ging hinein.

Nur wenige Menschen hielten sich darin auf. Die meisten genossen ihr neues Leben ohne Savonarola draußen in der Sonne. Angelina schaute sich um. Ein Messdiener war damit beschäftigt, den Fußboden zu reinigen. Sie fragte ihn nach dem Priester. Er verschwand in einer Seitentür, kehrte zurück und wies ihr dann einen Beichtstuhl an. Angelina war es, als hätte sie das schon einmal erlebt. Jemand nahm im Beichtstuhl Platz, der Vorhang bewegte sich ein wenig. Angelina kniete nieder. Der Priester fing wie gewohnt an zu sprechen. Das war ihr gerade recht. Sie glaubte, an einem entscheidenden Punkt ihrer Suche angekommen zu sein.

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes«, sagte der Priester. »Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit. Wenn du etwas zu beichten hast, dann beichte.«

»Ich habe schwere Sünde auf mich geladen, hochwürdiger Herr Pater«, sagte Angelina. Sie stockte. Was wollte sie dem Priester eigentlich erzählen? Von welchen Sünden wollte sie Absolution erhalten?

»Ich bin auf der Suche nach einem Priester«, fuhr sie fort. »Und ich weiß, dass er mir helfen kann, Licht in das Dunkel zu bringen, das ich schon lange in mir herumtrage.«

|367|»Wie kann ich dir dabei helfen?«

»Ich glaube, dass Ihr dieser Priester seid.«

Hinter dem Vorhang entstand eine Bewegung, der Vorhang bauschte sich leicht, als hätte jemand scharf die Luft ausgestoßen. Durch die Schlitze konnte Angelina dunkle Augen sehen.

»Erzähle mir, an was du dich erinnerst«, sagte der Priester.

»Ich erinnere mich an einen Keller. Es war noch jemand darin.«

»Wer war das?«

»Ich weiß es nicht. Er war tot.«

»Kannst du sein Gesicht erkennen? Wer war es?«

»Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht an ihn erinnern.«

»Aber es war ein Mann?«

»Ja, dessen bin ich mir sicher.«

»Wer hat ihn getötet?«

»Ich weiß es nicht.«

»Warst es nicht du selbst, die ihn getötet hat? Hattest du nicht ein Messer in der Hand?«

»Ja, ich hatte etwas in der Hand. Aber warum hätte ich ihn töten sollen?«

»Weil du vom Teufel besessen bist.«

»Ich war doch erst neun Jahre alt.«

»Der Inkubus liebt es, gerade in die Körper von Kindern zu fahren. Wenn es nicht gelingt, ihn auszutreiben, verrichtet er immer wieder sein höllisches Werk.«

»Glaubt Ihr, dass ich immer noch von ihm besessen bin?«

»Das glaube ich. Du musst nur von ganzem Herzen bereuen, was du getan hast.«

»Ich bereue, dass ich Böses getan habe«, sagte Angelina. »Erbarme dich meiner, o Herr. Amen!«

»Ich kann dich diesmal nicht von deiner Sünde lossprechen. Nur das Fegefeuer wird deine Seele reinigen.«

Angelina hatte Brandgeruch in der Nase.

»Wartet, ehrwürdiger Pater«, sagte sie. »Ich glaube, da war auch noch ein Feuer.«

|368|»Mit dem Feuer wurde die Seele dieses unseligen Mannes gereinigt. Ich werde dir die Absolution erst erteilen, wenn auch du gereinigt bist.«

»Aber wie soll ich das bewirken?«

»Ich werde dir dabei helfen. Komm morgen zur gleichen Zeit wieder hierher. Dann wird alles vorbereitet sein.« Angelina war vollkommen verwirrt. Es stimmte nicht, was der Priester sagte, und doch war ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten.

»Ich danke Euch, hochwürdiger Pater«, beendete sie das Gespräch. »Ich werde tun, was Ihr mir befehlt.«

Benommen erhob sich Angelina und wandte sich langsam zum Ausgang des Doms. Sie fühlte sich ganz verloren in dem riesigen Schiff. Draußen blinzelte sie, so gleißend traf sie das Licht der Sonne. Es war alles unverändert, der Platz, die Menschen, die umhergingen, einkauften, arbeiteten oder in Gruppen zusammenstanden. Sie drehte sich um und blickte zurück auf den Dom. Wie eine farbenprächtige Faust Gottes erhob er sich über der Stadt. Die Berge dahinter nahmen ihren Blick gefangen. Sie waren mit Wein und Wald bewachsen.

Die Gesichter der Vorübergehenden aber erschienen ihr wie die von Teufeln, die der Unterwelt entstiegen waren. Angelina kam am Kloster San Marco vorbei. Still und scheinbar verlassen lag es da. Hier hatte Savonarola gewirkt, hier lebte bis vor kurzem Domenian Brenetto. Hatte sie es nicht schon immer gespürt, dass er der Priester war, dem sie gebeichtet hatte? Der Gedanke, wie viel sie ihm über sich und ihre engsten Freunde verraten hatte, trieb ihr das Blut in die Wangen. Wie oft hatte er ihr die Beichte abgenommen? Es musste insgesamt vier Mal gewesen sein. Und wenn er ihnen von Florenz aus zum Lago Trasimeno gefolgt war?

Aber warum hatte er Fredi, Matteo und Eleonore ermordet, womöglich noch den Brief geschrieben, der Sonia und Lucas aus der Stadt vertrieb? Alles drehte sich im Kreise. Die letzten Häuser der Stadt blieben hinter ihr zurück.

Angelina begann den Weg nach Fiesole hinaufzugehen. Da standen |369|Weinreben, Hainbuchen und Ebereschen, und sie wuchsen, blühten, streuten ihre Samen aus und vermehrten sich. Wenn der Herbst kam, ließen sie ihre Blätter fallen. Im Frühling erwachten sie zu neuem Leben. Warum konnte nicht auch ihr Leben so einfach sein? Angelina stieg weiter den Berg hinauf. Die Weinreben zeigten das erste zarte Grün, Kirschbäume standen in Blüte. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu; sie übergoss die Landschaft mit ihrem Licht. Die Luft war erfüllt vom Zirpen der Zikaden. Es roch nach Erde und nach Ginster. Doch Angelina konnte sich nicht darüber freuen. Etwas Dunkles, das schon lange in ihr gesteckt hatte, drohte sich immer mehr auszubreiten. Sie stolperte den Weg entlang, blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Was, wenn der Priester recht hatte? Wenn sie eine vom Teufel Besessene wäre? Das würde erklären, warum so viele Menschen ihrer Umgebung zu Tode gekommen waren!

Aber wann hätte der Teufel in sie einfahren sollen? Hatte sie an einem Hexensabbat teilgenommen? Angelina war verwirrter als je zuvor in ihrem Leben. Die Dämmerung sank herab, das Zirpen der Zikaden wurde lauter. Sie hielt inne. Sie war weit gegangen, noch mehr durfte sie sich von den Menschen nicht entfernen. Daran, dass ein Wegelagerer sie überfallen könnte, dachte sie nicht. Sie kehrte um und rannte im letzten Schein des Tages den Weg zurück, den Berg hinunter, bis sie mit fliegendem Atem und schweißüberströmt bei den ersten Häusern ankam. Eine glühende Kohlenpfanne erschien ihr plötzlich wie ein Trost.

Angelina klopfte an die Tür ihres Elternhauses und wurde ohne ein Wort des Vorwurfs empfangen. Erst um Mitternacht fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, jemand habe ihr etwas ins Essen getan, vielleicht Gift oder Bilsenkraut. Es wurde ihr ganz leicht zumute und sie schwebte vom Bett empor, durchs Fenster aus dem Haus hinaus in die kalte Nacht.

Über ihr glitzerten die Sterne, unter ihr die Lichter von Florenz. Andere Männer und Frauen waren mit ihr unterwegs, sie schienen dem gleichen Ziel zuzustreben. Ein Gesang begleitete sie, der |370|manchmal an- und dann wieder abschwoll. Dazu brauste der Wind und trieb sie vor sich her. Das da unten musste Lucca sein, dann erschienen fern die Steinbrüche von Carrara, in denen sich winzige Menschen wie Ameisen hin- und her bewegten, mit Fackeln in den Händen. Der Gipfel des Monte Pisanino kam in Sicht, mächtig ragte seine Spitze in den nachtdunklen Himmel. Woher wusste sie, dass es der Monte Pisanino war? Sie hatte ein Wissen in sich, das es schon seit Anbeginn der Menschheit gab und das sich nun entfaltete.

Doch die Reise war schon bald zu Ende. Sie fiel hinab, konnte sich nicht mehr in die Luft erheben, stürzte und schlug am Boden auf. Verwirrt öffnete sie die Augen. Ihr Körper fühlte sich an, als sei sie aus großer Höhe herabgefallen. Durch das Fenster schien der Mond herein. Vielleicht bin ich mondsüchtig, dachte sie. Und doch war es ihr, als hätte sie das alles schon einmal erlebt. Signora Girondo schaute sie besorgt an, als sie zum Frühstück erschien. Der Vater war wie immer schon in sein Handelshaus gegangen.

»Du bist so bleich, hast du schlecht geschlafen?«, fragte ihre Mutter.

»Ich hatte einen wirren Traum«, antwortete Angelina. »Sagt, Frau Mutter, war ich jemals mondsüchtig?«

»Wieso?«, fragte ihre Mutter und runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht.«

Angelina wollte ihr nichts Näheres erzählen, auch von den Gesprächen mit dem Priester nicht. Mit schlechtem Gewissen dachte sie an Francesco. Was mochte er von ihr denken! Aber der Weg war ihr vorgezeichnet, sie musste heute wieder zu dem Priester gehen, um dem Geheimnis auf den Grund zu kommen.

Nach dem Frühstück wurden ihre Geschwister von Signora Girondo unterrichtet, und eigentlich hätte Angelina sie dabei unterstützen sollen, aber sie sagte, dass sie auf den Markt gehen wolle, um etwas für das Mittagessen zu besorgen. Das könnten doch die Dienstboten erledigen, meinte ihre Mutter. Aber Angelina bestand darauf.

»Es gibt heute Trippa mit Kräutern, Pecorinokäse und Brot«, |371|sagte Signora Girondo. »Geh zum besten Metzger und besorge die Kuttelflecken. Die Kräuter bekommst du am Gemüsestand und das Brot, na du weißt schon. Achte aber darauf, dass es nicht von gestern ist.«

Sie drückte Angelina Geld in die Hand, gab ihr einen Korb und küsste sie auf beide Wangen.

»Achte auf dich, ich will dich gesund wiedersehen«, meinte sie.

Angelina ließ alles über sich ergehen, wenn sie nur von zu Hause fortkam. Sie durchquerte die Gassen bis zur Piazza della Signoria und weiter zum Ponte Vecchio, der Brücke der Metzger und Gerber. Vom Fluss stieg der Geruch nach Verwesung und nach der Beize der Gerber herauf. Die Mädchen mit den grell geschminkten Lippen und den Ausschnitten, die fast alles von ihren Rundungen sehen ließen, waren wieder da. Nein, hier würde sie die Kutteln nicht kaufen.

Sie ging zum Ufer hinunter und schlenderte auf dem Weg dahin. Es war alles so verdorben! Und sie, Angelina, hatte sich so malen lassen, wie diese Dirnen es aller Welt zeigten. Die Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Der Teufel musste tatsächlich in sie gefahren sein, als sie sich darauf einließ. Dafür waren sie und andere bitter bestraft worden. Aber gleichzeitig erregte sie der Gedanke an das Bild. Am liebsten wäre sie zu Tomasio gelaufen, hätte es an sich genommen und aller Welt gezeigt.

Angelina merkte nicht, dass sie sich immer weiter von zu Hause entfernte. Sie kaufte frisch gekochte Kutteln bei einem Metzger und fand sich kurz darauf vor einem Gemüseladen wieder. Aber das war ja … es war der Laden von Lucas und Sonia, gegenüber von Botticellis Werkstatt!

Angelina sah Clementina vor sich, wie sie zu dem Gemüsehändler hinübergegangen war und wie Francesco sie, Angelina, gemalt hatte. Sie schwankte. Dann gab sie sich einen Ruck und betrat den Laden. Ein alter Mann war damit beschäftigt, Getreide aus einem großen in kleinere Säcke umzufüllen. Er richtete sich mühsam auf und fragte, was sie wolle. Angelina sah, dass auf einem Regal auch |372|Käselaibe lagen. Sie kaufte ein Stück Pecorino und einen Strauß Petersilie, Rosmarin und Portulak. Während er mit einem gewaltigen Messer den Käselaib anschnitt, fragte sie ihn nach den Vorbesitzern des Ladens.

»Die haben mir geschrieben, dass sie demnächst zurückkommen wollen«, antwortete der Mann. »Jetzt, wo Savonarola im Kerker sitzt. Und das ist mir auch ganz recht so, ich will mich lieber auf mein Altenteil setzen. Die beiden haben mir zugesagt, dass sie mich auszahlen.«

Angelina freute sich, das zu hören. Bis dahin musste sie aber ihre Aufgabe erfüllt haben. Sie legte ihre Einkäufe in den Korb, verließ den Laden und nahm wieder den Weg am Fluss entlang. Das Wasser glitzerte in der Sonne. Aus den Hinterhöfen der Häuser duftete der Weißdorn. Angelina hielt den Korb an sich gepresst und beschleunigte ihre Schritte. Sie war weit abgekommen und musste die Waren vor dem Mittag zu Hause abliefern. Danach würde sie zu dem Priester in den Dom gehen. Von Zweifeln geplagt, durchwanderte sie die Straßen, die von buntem Leben erfüllt waren, und gelangte schließlich zu ihrem Elternhaus.

»Du warst lange weg«, stellte ihre Mutter fest.

»Ich bin zu einem Metzger gegangen, der weiter entfernt war, und Gemüse und Käse habe ich in der Via Nuova gekauft«, erwiderte sie. Beim Gebet vor dem Essen murmelte sie die Worte zwar mit, fühlte sich aber wie eine Lügnerin. Während des Essens kam Signora Girondo auf das Porträt zu sprechen, das Francesco von Angelina angefertigt hatte.

»Hast du gewusst, dass ein Mönch es in die Flammen des ›Fegefeuers‹ geworfen hat?«, fragte sie ihre Tochter.

»Wer hat Euch das erzählt, Frau Mutter?«, wollte Angelina wissen.

»Ich war kürzlich bei Botticelli und wollte es abholen, nachdem der Meister uns so lange vertröstet hatte. Er aber sagte mir, dass es vernichtet worden sei.«

»Francesco hat es gerettet«, sagte Angelina. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

|373|»Und wo befindet es sich jetzt?«, schaltete sich Signor Girondo ein.

»Bei Tomasio Venduti, dem Nachbarn von Rinaldo«, gab Angelina zurück.

»Tomasio Venduti kennen wir, aber wer ist Rinaldo?«, fragte ihre Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Da bin ich im Herbst untergekommen, als ich dachte, Ihr hättet mich verstoßen«, antwortete Angelina.

»Du hast doch nicht …«

»Gar nichts habe ich!«, rief Angelina und sprang auf. »Ihr seid nur immer auf meine Tugend und meinen guten Ruf bedacht. Wie es in mir drinnen aussieht, könnt Ihr in Euren schlimmsten Träumen nicht ahnen!«

»Dein Freund Francesco war übrigens hier und hat nach dir gefragt«, hörte sie ihren Vater sagen. Sie lief aus der Tür, schlug sie hinter sich zu und rannte blind die Treppe hinunter. Francesco war hier gewesen? Er wollte sie gewiss nur von dem abhalten, was sie zu tun im Begriff war.

Angelina lief durch die Gassen zur Piazza della Signoria. Dort warf sie einen Blick auf Tomasio Vendutis Tuchgeschäft. Eine Gruppe von jungen Männern unterhielt sich in ihrer Nähe. Sie warfen immer wieder verstohlene Blicke zu ihr herüber.

»Heute ist Savonarola wieder dreimal hochgezogen worden«, sagte einer.

»Ich konnte seine Schreie bis auf den Platz des Domes hören. Aber er hat noch nicht gestanden, sagte man mir.« Er äffte die Stimme des Priors nach. Bald spielten die jungen Männer eine Szene, in der Savonarola von der Kanzel herab predigte.

»Die Doppelrechtser werden in den Himmel kommen, die Doppellinkser in die Hölle!«

»Wo wirst du nun dein Haupt zur Ruhe betten, Savonarola, he?«, rief ein anderer. »Du bist doch selbst ein Doppellinkser geworden!«

Dieser Savonarola war ebenfalls vom Teufel besessen, das hatte Angelina schon lange geahnt. Langsam bewegte Angelina sich auf |374|den Dom zu. Sie wünschte, Gott würde ihr diese Prüfung ersparen. Ein Satz aus dem Psalm 31 fiel ihr ein.

›Herr, sei mir gnädig, denn mir ist angst; meine Gestalt ist verfallen vor Trauern, dazu meine Seele und mein Leib.‹ Sie setzte einen Fuß vor den anderen, wollte sich umdrehen und weglaufen, aber es war, als ziehe eine stärkere Macht sie voran. Angelina war nicht mehr Herrin ihrer Sinne. So befahl sie ihre Seele in die Hand Gottes und betrat den Dom Santa Maria del Fiore von Florenz. Zum Weglaufen war es zu spät.

Der riesige Raum schien mit einem Raunen und Wispern erfüllt, obwohl nur wenige Menschen sich darin aufhielten. Angelina tauchte die Hand ins Weihwasser und bekreuzigte sich. Das hatte sie immer so gemacht, doch jetzt wurde sie stutzig. Konnte sie sich denn bekreuzigen, wenn sie vom Teufel besessen war? Ihr Kopf begann klarer zu werden, ihre Beine wurden kräftiger. Sie konnte immer noch umkehren. Welches war der richtige Weg? Gott, gib mir ein Zeichen!, flehte sie. Die Glocken des Doms begannen zu läuten, erst vier-, dann dreimal. Es war also die dritte Stunde des Nachmittags. Angelina blinzelte. War dies nun ein Gotteshaus oder das Haus des Teufels? Hatte nicht Lorenzo de’ Medici Künstler beauftragt, diese Kirche zu bauen? Und war nicht auch ihr Vater immer schon als Freund der Medicis bekannt gewesen?

Die Bilder, das, was sich vor einem Jahr zugetragen hatte, stürzten über Angelina herein. Sie sah sich mit Fredi tanzen, hörte den Lärm an der Tür, sah die Fanciulli davorstehen und mit ihrem Vater streiten. In diesem Augenblick musste sich der Mörder hinten durch den Garten hereingeschlichen haben.

Wahrscheinlich war er sogar mit den Fanciulli gekommen. Natürlich: Derjenige, der Fredi getötet hatte, war dieser Priester, der auf sie wartete. Er musste es sein, der sie die ganze Zeit verfolgte. Sie wusste nicht, warum, aber eines wusste sie jetzt mit Gewissheit: Er war ihr Feind, schon immer gewesen. Und es hatte keinen Sinn mehr, weiter vor ihm zu fliehen. Sie musste ihn aufhalten. Sie musste |375|ihn aus der Reserve locken und stellen, damit diese Pein ein Ende hatte. Sie hatte recht getan, in den Dom zu kommen.

Jetzt wollte sie es wissen. Sie ließ sich vom Mesner einen Beichtstuhl zuweisen mit der Bitte, nach Pater Domenian zu schicken. Nachdem die üblichen zeremoniellen Worte gesprochen waren, holte Angelina tief Luft und sagte geradeheraus: »Ich weiß, was du getan hast, Domenian, und ich werde nicht ruhen, bis du deine gerechte Strafe erhalten hast!«

Angelina hörte wieder dieses scharfe Geräusch, mit dem er seinen Atem ausstieß. Sie wartete nicht ab, bis er ihr eine Antwort gab, sondern stürzte aus dem Beichtstuhl hinaus. Fort, nur fort, weg von diesem Ungeheuer in Menschengestalt! Sie musste ihn bei der Signoria anzeigen! Hinter sich hörte sie schnelle Schritte und spürte starke Männerhände um ihren Hals. Angelina versuchte um Hilfe zu schreien, aber es kam nur ein ersticktes Gurgeln heraus. Sie wurde hinter eines der Grabmale gedrängt. Da er sie von hinten umklammert hielt, konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Sie wollte sich losreißen, trat um sich, strampelte und riss an seinem Gewand, doch der Würgegriff wurde nur immer noch fester. Die wenigen Menschen im Dom waren zu weit entfernt, um etwas zu bemerken. Angelina dachte, er würde sie umbringen, sie bekam keine Luft mehr, ihr schwanden die Sinne, vor ihren Augen wurde es dunkel.

Dann ging alles ganz schnell. Sie hörte ferne Rufe, eilig heranhastende Menschen, wurde hin- und hergerissen, wütende Schreie Domenians, das Geräusch sich entfernender Schritte. Vor ihr standen Venduti und ihr Vater, Signor Girondo. »Das war aber eine Rettung in letzter Sekunde!«, stellte Tomasio außer Atem fest. »Was wollte dieser Priester von Euch? Wollte er Euch umbringen?«

»Ja, er wollte mir ans Leben«, brachte Angelina mühsam hevor. Sie keuchte. »Herr Vater, das war der Mann, der für die ganzen Morde verantwortlich ist! Ich weiß es genau, ich schwöre es Euch!«

»Gleich morgen werde ich zur Signoria gehen und eine Anzeige machen«, meinte ihr Vater beruhigend. »Jetzt bringen wir dich |376|erst einmal nach Hause, Angelina. Und wir wollen Signor Tomasio danken, dass er dir das Leben gerettet hat. Er war es, der dich gleich entdeckt hat, als wir eintraten!«

Sie verließen den Dom gemeinsam. Die Nachmittagssonne leuchtete Angelina ins Gesicht.

»Wie kamt Ihr eigentlich hierher, Signor Venduti?«, wollte Angelina wissen.

»Ich begleitete Euren Herrn Vater zum Dom. Er hatte mich darum gebeten.«

»Es ist ein guter Ort, um Geschäfte zu besprechen, Angelina«, sagte ihr Vater.

»Ich danke Euch, Signor Venduti, dass Ihr mich schon zum zweiten Mal gerettet habt«, sagte Angelina. »Aber ich muss Euch etwas fragen.«

»Ich wollte auch noch etwas von Signor Venduti wissen«, setzte ihr Vater hinzu.

»Dann fragt«, meinte Venduti lächelnd.

»Warum habt Ihr mir damals erzählt, meine Eltern hätten mich verstoßen?«

»Ja, und wieso habt Ihr uns gesagt, unsere Tochter wolle nicht mehr heimkehren?«, ergänzte Angelinas Vater.

Tomasio hielt inne und wurde über und über rot. Er sah aus, als wolle er gleich vor ihr und ihrem Vater auf die Knie gehen. Er räusperte sich.

»Es war meine übergroße Liebe zu Euch, Angelina, die mich dazu getrieben hat«, murmelte er. »Ich habe es nicht ertragen, was für schöne Augen Ihr dem Maler Francesco gemacht habt!«

Ihr Vater hüstelte. In Angelina stieg eine ungeheure Wut hoch.

»Wisst Ihr, wie schwer Ihr mir das Leben gemacht habt?«, fuhr sie ihn an. »Warum nur richtet alle Welt über mich, obwohl ich gar nichts getan habe?«

Tomasio schaute sie betreten an, sein Augenlid zuckte wie ein Schwarm Kaulquappen. »Aber Angelina …«

»Nein, ich mag nichts mehr hören«, gab sie zornig zurück.

|377|Er zog sein Barett, drehte sich um und ging in der entgegengesetzten Richtung davon.

»Aber Angelina, so behandelt man doch nicht seinen Lebensretter«, tadelte ihr Vater sie.

»Der Mann ist so falsch wie eine Schlange!«, sagte sie erhitzt. »Und nie will er schuld an irgendetwas sein!«