|103|12.

In den nächsten Tagen nahm Angelinas Bildnis immer mehr Gestalt an. Sie empfand jeden Pinselstrich des Malers so, als würde sie ein Stück zu ihm hinübergezogen. Doch er blieb gleichbleibend freundlich, arbeitete sorgfältig, auch an dem Ausschnitt des Kleides. Dieser wurde jetzt auch auf dem Bild von einem Schal verhüllt. So hatte Botticelli, der es jeden Abend inspizierte, nichts gegen die Ausführung einzuwenden. Nur der luxuriöse Stoff und das perlenbesetzte Haarnetz fanden immer wieder sein Missfallen. Am Mittag des vierten Tages meldete ein Diener einen Gast. Wer hatte sich hierher nach Grassina verirrt? Würden die Scroffas überhaupt Fremde hereinlassen? Es sei Tomasio, flüsterte die Gräfin Angelina zu, er wolle ihnen allen seine Aufwartung machen. Von der Pest sei er verschont geblieben. Angelina erschrak, es schien ihr, als wäre Tomasio Venduti ihretwegen gekommen. Wenn sie sich seine untersetzte Gestalt, die fleischigen Lippen und die Knollennase auch nur vorstellte, befiel sie ein tiefes Unbehagen. Da eilte er ihr auch schon entgegen, in schwarze Seide gekleidet und mit einem Samthut auf dem Kopf.

»Ich fühle mich sehr geehrt, Euch hier anzutreffen, Signorina Girondo«, begann er und nickte ihr zu.

»Es ist nicht an mir, Euch hier willkommen zu heißen«, erwiderte sie. »Die Familie Scroffa wird sich jedoch gewiss glücklich schätzen, Euch zu beherbergen.«

Er wirkte enttäuscht.

»Habt Ihr Angst, ich könnte den schwarzen Tod in mir tragen?«, fragte er. »Es sind keine Zeichen der Krankheit bei mir aufgetreten.«

»Nein, das hätte ich auch nicht vermutet«, versetzte sie. »Folgt mir, ich stelle Euch Signor und Signora Scroffa vor.«

|104|Sie fanden die beiden im Salon, mit einem Schachspiel beschäftigt. Signor Scroffa sprang auf, als er des Gastes gewahr wurde.

»Entschuldigt, hat mein Diener Euch nicht hereingeführt?«, fragte er und bot ihm die Hand.

»Wie ist die Lage in Florenz?«, wollte Gräfin Scroffa wissen, nachdem Tomasio Platz genommen hatte.

»Es steht schlimm um die Stadt«, antwortete Tomasio. Sein Augenlid zuckte. »Täglich sterben etwa hundert Einwohner! Sie alle werden vor der Stadt in einer großen Grube begraben.«

Signora Scroffa entfuhr ein Klagelaut.

»Die armen Menschen, und was ist mit unserem Haus, wird sich da der Tod nicht auch einnisten? Ob wir je wieder zurückkönnen?«

»Denk doch an das letzte Jahr«, beruhigte ihr Gatte sie. »Die Krankheit kam, wütete eine Zeitlang und ging dann wieder.«

Angelina erinnerte sich gut an diese Episode. Wieso kehrte der schwarze Tod nur immer wieder zurück, wenn man ihn gerade überwunden glaubte?

»Gott bestraft die, die zu viele Sünden auf sich geladen haben«, meldete sich Tomasio zu Wort. »Aber er bestraft auch Unschuldige, das sehe ich genauso wie Ihr«, beeilte er sich hinzuzufügen, als er das Befremden in Angelinas Gesicht bemerkte. Zumindest schien es ihr so.

»Wie habt Ihr Euch vor der Krankheit geschützt?«, wollte Angelina von Tomasio wissen.

»Ich habe meine Wohnung ausgeräuchert. Als Gegenmittel nahm ich Theriak, Ihr wisst schon, die Kräutermedizin, sowie Pillen aus Aloe, Myrrhe und Safran. Meine Hände habe ich häufig mit Essig eingerieben, und wenn ich unter Menschen ging, ein Tuch mit Rosenwasser getränkt und vor die Nase gehalten.«

»Aber das ist hier zum Glück nicht nötig«, sagte Signora Scroffa. Eine Dienerin erschien und meldete, dass das Mittagsmahl gerichtet sei. Die Anwesenden begaben sich hinaus in den Garten, wo der Tisch unter der Linde mit weißen Damasttüchern gedeckt war. |105|Eine Dienerin brachte die Vorspeise, eine lauwarme Brotsuppe mit Olivenöl und Knoblauch.

»Das ist genau das Richtige an solch einem heißen Tag«, bemerkte Signor Scroffa. Nachdem die Magd Suppe in die Teller geschöpft und Wein in die geschliffenen Gläser geschenkt hatte, erhob er sein Glas und sagte feierlich:

»Lasst uns Gott dafür danken, dass wir wohlbehalten hier sitzen und essen dürfen, derweil die Krankheit uns sicher schon hinweggerafft hätte, wären wir in der Stadt geblieben.« Die anderen erhoben ebenfalls ihre Gläser, die Kinder hatten Saft erhalten, und Botticelli gab zurück:

»Aber nur diejenigen, die über genügend Geldmittel verfügen, kommen in den Genuss dieser wundersamen Rettung, ist es nicht wahr, Herr Graf und Frau Gräfin? Wer arm ist, muss jämmerlich verrecken!«

»Es ist gewiss wahr, was Ihr sagt, Signor Botticelli«, entgegnete Scroffa. »Aber habe ich nicht Euch allen Unterkunft und Kost gewährt? Wie viele dieser Armen könnten wir hier aufnehmen, ohne selbst darunter zu leiden? Ganz abgesehen davon, dass wir uns die Pest freiwillig an den Hals holen würden.«

»Ihr denkt sehr weltlich, Signor Scroffa«, ließ sich Tomasio vernehmen. »Das verstehe ich jedoch gut. Ihr habt sehr viel zu verlieren, weil Ihr sehr viel besitzt. Wäre nicht dem Diebstahl Tor und Tür geöffnet, wenn hier unbesehen Leute aus dem Volk aufgenommen würden? Um mein Tuchgeschäft vor Plünderungen zu schützen, habe ich Wachen aufgestellt und die Türen und Fenster vernagelt. Es ist schon recht so, dass die Reichen davonkommen, denn sie haben mehr Bildung und sind besser dazu imstande, das Volk nach dem schwarzen Tod und der Herrschaft Savonarolas zu regieren, die sich ja offenbar ihrem Ende zuneigt. So zu regieren, wie es die Medici taten, denn sie haben Glanz und große Pracht in die Stadt gebracht, haben die Künste gefördert und die schönsten Bauwerke errichtet, die sich weit und breit finden lassen!«

»Ihr sprecht mir aus dem Herzen«, antwortete Scroffa lächelnd. |106|»Und ich glaube, wir sind uns auch schon einige Male begegnet. Ist das Tuchgeschäft nicht in der Nähe des Doms?«

»So ist es, Signor Scroffa.«

»Was soll dieses Gerede?«, fuhr Botticelli auf. »Wie könnt Ihr nur so abfällig über Girolamo Savonarola sprechen? Das Volk von Florenz glaubt an ihn! Sie kommen immer noch zu Hunderten in seine Predigten.«

»Das war einmal«, versetzte Tomasio Venduti. »Seit kurzem werden keine Predigten mehr im Dom gehalten.«

»Woher wisst Ihr das?«, fragte Francesco.

»Die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Die Leute haben Angst, ebenfalls die Pest zu bekommen, wenn sie öffentliche Plätze aufsuchen. Jeder ist jedes Feind, keiner ist mehr bereit, einem anderen zu helfen, alle sind nur darauf bedacht, ihre eigene Haut zu retten.«

Botticelli war rot im Gesicht geworden.

»Ich dulde es nicht, dass Savonarola in den Schmutz gezogen wird!«

»Aber …«, kam es von Signora Scroffa.

»Nichts aber. Ich stehe zu ihm, komme, was wolle.«

»Was soll denn noch kommen?«, fuhr Francesco auf. »Reicht es dir nicht, Sandro, was er bis zum heutigen Tage angerichtet hat? Söhne und Töchter hat er gegen ihre Eltern aufgebracht, Ehegatten verfeindet, alles, was gut und schön ist in dieser Welt, auf dem Scheiterhaufen verbrannt!«

Botticelli begann vor Aufregung zu zittern.

»Alles, was schön und gut ist auf der Welt, hat er von der Kanzel verkündigt, Francesco! Wie kannst du es wagen, das, was er predigt, anzuzweifeln?«

»Ich zweifle es an, weil es die Menschen unglücklich macht.« Francesco war aufgestanden und ballte die Fäuste.

Botticelli schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Das hättest du jetzt nicht sagen dürfen, Francesco!«, schrie er. »Ich will dich nicht mehr sehen!« Er schnaufte. »Und jetzt möchte |107|man mich bitte entschuldigen.« Botticelli stand abrupt auf, dabei fiel sein Glas mit dem Rest des Weines zu Boden.

»Das macht nichts«, rief Signora Scroffa.

Nachdem Botticelli im Haus verschwunden war, herrschte betroffene Stille.

»Jetzt habe ich ihn vertrieben«, unterbrach Francesco als Erster die Stille.

»Er sollte sich mit seiner Freundschaft zu dem Mönch nicht so weit vorwagen«, knurrte Scroffa. »Wenn der wüsste, mit wem er es hier zu tun hat!«

»Ach, was?«, fragte Venduti. »Mit wem hat er es denn zu tun, wenn man fragen darf?«

»Das war ein Scherz, mein Herr. Eleonore, sag der Dienerin, dass sie den zweiten Gang auftragen soll.«

Signora Scroffa nahm das Silberglöckchen, das neben ihrem Teller stand, und klingelte. Die Dienerin erschien alsbald mit einer Platte kalter Rinderzunge. Dazu gab es grüne Soße und einen süßen Wein aus der Region. Während des Mahles wurde über dies und das geplaudert, über die Einbrüche bei der Tuchfabrikation, den Weinbau in Grassina und das Versagen des französischen Königs, von dem die Florentiner arg enttäuscht waren. Nach dem Essen wischte sich Signor Scroffa die Hände an seiner Serviette ab und sagte:

»Wollt ihr alles, was wir hier so sehr genießen, in Zukunft missen? Es sei Sünde, sagt Savonarola, gut zu essen, sich mit ein wenig Schönheit zu umgeben, Schmuck zu tragen.« Er zog einen Diamantring von seinem Zeigefinger und warf ihn auf den Tisch. »Soll es Sünde sein, einen solchen Ring zu tragen? Wozu wurde er denn gemacht? Wozu wurde der ganze schöne Schmuck gemacht? Um die Hände bedeutender Männer und Frauen zu schmücken! Warum sollen sich unsere Frauen nicht mit ein wenig Schminke hübscher machen? Das kann nur Gottes Wille sein, denn sonst hätte er ihnen die Schönheit nicht gegeben.«

»Er hat die Frauen so hübsch gemacht, damit du ihnen nachsteigen |108|kannst«, bemerkte seine Gattin spitz. Alle lachten, nur Tomasio schaute düster vor sich hin. Vielleicht ärgerte er sich darüber, dass Angelina ihn nicht erhören wollte. Bisher hatte sie sich zurückgehalten, aber jetzt drängten sich ihr die Worte auf die Lippen.

»Was meintet Ihr vorhin, Signor Scroffa, als Ihr von Eurer Bedeutung spracht?«

»Sag’s ihr«, drängte Eleonore Scroffa. »Wir sind jetzt doch unter uns.«

Die Kinder fingen an, sich zu balgen.

»Geht spielen«, verwies ihre Mutter sie. »Kommt zum Nachtisch wieder.«

»Gut, ich werde reden«, meinte Scroffa und senkte die Stimme. »Seit die Medici vertrieben worden sind, gibt es eine Gruppe von Bürgern, welche die Absetzung Savonarolas betreiben wollen. Ihrer Meinung nach hat er unseren Stadtstaat ins Unglück gestürzt. Er mag noch so fromm reden, aber er redet an den wahren Wünschen des Volkes vorbei. Mit Höllenbußen droht er ihnen und nimmt ihnen damit jede Lebensfreude.«

»Ich stimme Euch zu«, meinte Tomasio. »Lange wird das Volk das nicht mehr mitmachen. Die Wollust und die Freude an allem Sündigen sind dem Menschen in die Wiege gelegt.« Er schaute Angelina an.

»Ihr macht Euch einflussreiche Feinde, wenn Ihr Savonarola absetzen wollt, Matteo«, gab Francesco zu bedenken. »Habt Ihr nicht Angst um Euer Leben?«

»Der Tod kann mich immer und überall treffen. Sind wir ihm nicht gerade erst entronnen? Nein, es ist mir eine wichtige, eine heilige Aufgabe, die Welt von diesem Teufel in Menschengestalt zu befreien!«

Die Dienerin brachte den Nachtisch, Mandeltörtchen und Kirschen, und eilig kamen Giacomo und Lisetta herbeigelaufen, die Gesichter gerötet. Das Gespräch wandte sich wieder allgemeineren Dingen zu.

 

|109|Am Nachmittag rief Matteo Scroffa seine Familie und die Gäste zusammen, um einen Spaziergang in die Weinberge zu unternehmen. Auch Botticellis Aufregung hatte sich inzwischen gelegt, so dass er sich bereit erklärte, an der Wanderung teilzunehmen. Alle trugen breitkrempige Hüte, um die Gesichter vor der immer noch starken Sonneneinstrahlung zu schützen. Nach einer halben Stunde erreichten sie die Spitze des Weinbergs. Still und friedlich lag die Landschaft da. Aufatmend ließ sich Angelina auf einem großen Stein nieder, der in der Nachmittagssonne glänzte. Die anderen standen plaudernd in Gruppen herum. Mit einem Mal zerrissen Schreie diese Ruhe, die sich zu einem immer lauteren Wehklagen steigerten. Erschrocken setzte sich die Schar in Bewegung.

Die Schreie kamen von weiter unten, dort, wo Angelina das Lager der Zigeuner gesehen hatte. Sie liefen schneller den Berg hinab. Auf halber Höhe erstarrte Angelina. Eine Gruppe von Bauern war offensichtlich dabei, die unbewaffneten Zigeuner niederzumetzeln. Sie stachen mit Mistgabeln und Schlachtmessern auf sie ein. »Nein! Nein!« Angelina lief gehetzt weiter, bis sie am Ort des Geschehens eintraf. Ein Bild des Grauens bot sich ihren Augen. Die Zigeuner, Männer, Frauen und Kinder, lagen in ihrem Blut am Boden. Auch die alte Frau war unter den Opfern. Ihre Glieder waren grässlich verstümmelt. Es roch süß und metallisch nach Blut.

»Was habt ihr getan?«, schrie Matteo.

»Sie haben uns die Pest in unseren Ort gebracht!«, gab einer der Bauern zurück. »Fünf Menschen sind schon gestorben, ein Mann, zwei Frauen und zwei Kinder. Wer, wenn nicht sie, soll dafür verantwortlich sein?«

»Haltet sofort damit ein!«, schrie Matteo mit rotem Gesicht. Bei den Leuten schien es sich um Untergebene von ihm zu handeln. »Ihr werdet der gerechten Strafe zugeführt, ich selbst werde über euch Gericht halten!«

»Habt ihr wenigstens einen Arzt oder einen Bader geholt, der eure Pestkranken behandelt?«, fragte Signora Scroffa entsetzt.

|110|»War zu spät, sie sind alle innerhalb von ein paar Stunden gestorben.«

Angelina fühlte sich wie gelähmt. Die Zigeunerin hatte ihr erst vor kurzem die Zukunft weisgesagt. Und jetzt lag sie hier in ihrem Blut! Angelinas Zähne schlugen aufeinander. Auch in Francescos und in den Augen der anderen sah sie die nackte Angst.

»Kommt«, Matteo winkte ihnen zu. »Wir gehen nach Hause zurück und beraten, was zu tun ist. Die Zigeuner werden ein anständiges Begräbnis erhalten.«

Die grässlichen Bilder noch vor Augen, stolperte Angelina dahin. Nach der Rückkehr auf den Gutshof versammelten sich alle, auch die Diener, im Nebenraum des Hauses. Angelina war immer noch wie betäubt, doch sie zwang sich, aufmerksam zuzuhören. Mit ernstem Gesicht schilderte Matteo die Lage.

»Die Pest ist nun auch zu uns aufs Land gekommen. Gott sei den armen Seelen und denen der Zigeuner gnädig! Die Bauern werden hart bestraft werden. Noch heute Abend werde ich das Nötige veranlassen. Ich lasse sie auspeitschen! Aber nun zu uns. Wir können hier nicht länger bleiben.« Er schüttelte den Kopf. »Im Augenblick vermag ich aber nicht zu sagen, wohin wir gehen könnten.«

Eine Pause entstand. Dann meldete sich Tomasio Venduti zu Wort.

»Ein mir bekannter Tuchhändler hat ein kleines Haus am Lago Trasimeno, da geht er immer hin, wenn er sich von den Geschäften erholen will. Dort könntet Ihr alle unterkommen, bis die Gefahr durch die Krankheit vorüber ist.«

»Aber wohnt Euer Tuchhändler nicht selber dort?«, wollte Signora Scroffa wissen.

»Er befindet sich auf einer Reise nach Bologna, dahin ist der schwarze Tod noch nicht gekommen«, antwortete Tomasio.

»Dieses Angebot nehmen wir gerne an«, versetzte Matteo. »Der Lago Trasimeno ist so abgelegen, dass sich dort der Sommer angenehm verbringen lässt. Gleich morgen wollen wir aufbrechen.«

»Ich kann leider nicht mitkommen, so gern ich das möchte«, bedauerte |111|Venduti. »Auf mich warten geschäftliche Termine in Ravenna, die keinen Aufschub dulden.«

Francesco hatte andere Sorgen. Zum ersten Mal seit Stunden richtete er wieder das Wort an Botticelli.

»Sandro?«, fragte er leise. »Du kommst aber mit uns, oder?«

»Ich denke, nicht, Francesco«, erwiderte Botticelli kühl. »Mein Platz ist bei meinen Bildern und meinem Meister Savonarola.«

Alle redeten wild durcheinander.

»Aber Ihr könnt doch nicht in diese pestverseuchte Stadt zurückkehren!« rief Signora Scroffa. Auch Lucas versuchte Botticelli umzustimmen, aber es half nichts.

»Bitte verlass uns nicht, Sandro«, sagte Francesco.

»Ich kann nicht bleiben«, erwiderte Botticelli. »Es sei denn, du nimmst zurück, was du über Savonarola gesagt hast.«

»Ich nehme alles zurück«, rief Francesco. »Ich entschuldige mich!«

»Na gut, dann erwarte ich, dass du mit mir nach Florenz zurückkehrst.«

»Aber das ist doch lebensmüde! Bitte Sandro, zwing mich nicht zu so einem Wahnsinn!«

»Nun, dann werden sich unsere Wege wohl hier trennen.«

Francesco senkte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Botticelli marschierte wütend zu den Ställen, um seine Abreise vorzubereiten, und hielt sich demonstrativ die Ohren zu, als Francesco ihm verzweifelt hinterherbrüllte: »Du kannst doch deine große Kunst nicht für so einen Esel opfern!«

Die Diener verriegelten die Türen, damit niemand von außen eindringen oder der Wind womöglich die Pest hereinwehen könnte. Den Rest des Tages verbrachte Angelina mit Lesen, doch konnte sie sich kaum konzentrieren, weil ihr immer wieder die Bilder des Massakers vor Augen traten. Francesco war verärgert in seinem Zimmer verschwunden, desgleichen Botticelli. Nach einem kurzen Abendbrot gingen alle frühzeitig schlafen, um für die Strapazen der morgigen Reise gerüstet zu sein.

 

|112|In aller Herrgottsfrühe machten sich die Familie Scroffa, Angelina, Francesco, Sonia, Lucas und die Dienerschaft auf den Weg ins Arnotal. Angelina kam es vor, als flöhen sie vor dem Krieg. Das Tal war tief eingeschnitten, von Weinbergen und Wäldern gesäumt, ein echter Garten Eden. Sie kamen durch Dörfer, deren Einwohner noch nie etwas vom schwarzen Tod gehört zu haben schienen, so friedlich gingen sie ihrer Arbeit nach. Zweimal übernachtete die Gruppe in Herbergen, die leidlich sauber waren. Vor Arezzo verließen sie das Tal des Arno und gelangten ins Chiantital. In der Ferne war der Himmel heller, gleißender als anderswo.

»Das ist die Spiegelung des großen Sees«, erklärte Francesco. Angelina war es, als herrsche zwischen Francesco und seiner Cousine Eleonore eine große Vertrautheit. Hielt er ihren Arm nicht länger als notwendig, wenn er ihr aus dem Wagen half? Standen die beiden nicht immer wieder tuschelnd und scherzend beieinander? Am Mittag des dritten Tages erreichten sie das Ufer des Lago Trasimeno.

Das Haus des Tuchhändlers befand sich in San Feliciano, unweit vom Ufer des Sees, der eine riesige Wasserfläche umfasste und dessen Wellen sanft ans Ufer spielten. Es erwies sich als flacher, weißgestrichener Bau. Eine dunkelhaarige Dienerin begrüßte sie. Sie sei hier, um das Haus in Ordnung zu halten, erzählte die Frau. Bis zum Nachmittag hatten sich alle in ihren Zimmern eingerichtet. Angelina wusch sich mit dem Wasser, das die Dienerin in einer Schüssel gebracht hatte, und zog ein anderes Kleid an.

Während der Reise war sie ziemlich wortkarg gewesen. Jetzt wollte sie ihre trüben Gedanken abschütteln, ein wenig nach draußen gehen. Das Haus befand sich auf einer Halbinsel, die teils mit Weiden und Erlen bestanden, teils mit Zitronenbäumen und Hibiskus bepflanzt war. Einige Fischerhütten standen nicht weit von dem Gebäude entfernt. Der See lag ruhig in der Abendsonne. Seine Ufer waren flach und kaum besiedelt. Nur einzelne Bauerngehöfte schmiegten sich in die bewaldeten Hänge. Schwäne zogen ihre Bahnen, Enten schnatterten und Libellen flirrten durch das Schilf |113|am Ufer. Das erste Mal seit Tagen, nein, seit Wochen, fühlte Angelina Ruhe in sich aufsteigen. Vielleicht würde es ihr hier gelingen, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, in das ihr Leben geraten war. Sie spazierte auf einem schmalen, sandigen Pfad am See entlang und beobachtete die Fischerboote, die zum Abendfang hinausfuhren. Bei einer Gehölzgruppe ließ sie sich auf einem umgestürzten Baum nieder. Lange Zeit saß sie so und schaute der Sonne zu, die allmählich hinter den flachen Hügeln versank. Eine Schar von Kormoranen erhob sich dumpf krächzend in die Luft. Angelina zuckte zusammen. Schritte näherten sich. Es war Matteo, der mit einem Lächeln zu ihr herantrat.

»So einsam, Angelina? Warum seid Ihr fortgegangen?«

»Ich wollte mich einfach nur ausruhen – und die Umgebung kennenlernen.«

Er setzte sich neben sie auf den Baumstumpf.

»Ich darf doch Platz nehmen?«, fragte er. Angelina rückte ein wenig zur Seite.

»Ich bin Euch und Eurer Familie sehr dankbar, dass Ihr mich aufgenommen habt«, sagte sie.

»Das war doch eine Selbstverständlichkeit«, gab Matteo zur Antwort. Er rückte näher an Angelina heran. Sie rutschte ein Stück weiter. Er fasste nach ihrer Hand, die sie ihm widerwillig überließ. Sie durfte ihn nicht erzürnen, sonst schickte er sie vielleicht nach Florenz zurück. Angelina fiel ihr Vater ein, der so oft anderen Frauen schöne Augen machte, zum Leidwesen ihrer Mutter, und sie musste unfreiwillig lächeln. Etwas wie Heimweh stieg in ihr auf.

»Ich glaube, wir werden einen schönen Sommer hier verbringen«, plauderte Matteo weiter. Seine Hand wanderte an ihrem Arm hinauf. Angelina versuchte sich ihm zu entziehen.

»Sei doch ein wenig nett zu mir«, bat Matteo. Er zog sie an sich und drückte seinen feuchten Mund auf ihre Lippen. Hatte es im Gebüsch geknackt? Was, wenn Francesco ihr gefolgt wäre und sie nun mit Matteo in einer unzweideutigen Pose sah? Angelina versuchte sich loszumachen, doch Matteo drückte sie desto heftiger an sich.

|114|»Lasst mich, ich bin nicht so eine, für die Ihr mich zu halten scheint!«, presste sie hervor. Er ließ sie jäh los.

»Nein, Angelina, ich halte Euch für ein ehrbares Mädchen aus gutem Hause. Verzeiht mein Ungestüm. Ich glaube, ich habe mich ein wenig in Euch verliebt.« Angelina stand auf und strich ihr Kleid glatt. Inzwischen war die Dämmerung herabgesunken. Vom See her kam eine kühle Brise, Frösche quakten ihr eintöniges Lied.

»Ich verzeihe Euch, aber ich möchte Euch bitten, mir nicht mehr nahezutreten.«

Sie sah die Enttäuschung in seinem Gesicht und fügte hinzu: »Ich möchte Eure Freundin sein. Das muss genügen.«

Er schwieg. Sie hatte ihn gekränkt.

Nebeneinander kehrten sie zum Haus zurück. Von der überdachten Veranda hing eine Öllampe, die ein freundliches Licht verbreitete. Drinnen empfing sie ein gedeckter Tisch. Francesco sah Angelina lange an und meinte dann: »Ich habe Euch schon vermisst. Ihr wart plötzlich verschwunden. Wir hätten das Tageslicht nutzen und weiter an dem Bild arbeiten können.«

»Ich wollte eine Zeitlang allein sein«, entgegnete Angelina. Francesco warf einen Blick auf Matteo, sagte jedoch nichts. Sonia und Lucas strahlten. Angelina sah Grashalme in ihren Haaren. Sie hatten einander und fürchteten wohl nichts mehr auf der Welt.

»Wo warst du so lange?«, fragte Eleonore Scroffa ihren Gatten.

»Ich war draußen und habe nach den Vorräten gesehen«, erwiderte er ausweichend.

»Und?«, wollte Eleonore wissen. »Sind genug da?«

»Es gibt jede Menge Getreide, getrocknete Fische und Bohnen. Gewürze so viel, wie das Herz begehrt. Frische Fische, Gemüse, Fleisch und Milch bekommen wir von den Bauern und Fischern.«

»Dann können wir den Sommer hier ja wirklich genießen«, bemerkte seine Frau. Sie tauschte einen vielsagenden Blick mit Francesco. Hatten die beiden ein Geheimnis miteinander? Jetzt legte Signora Scroffa auch noch ihre Hand auf Francescos Arm.

»Aber gewiss, Eleonore«, sagte Francesco und schaute seiner |115|Cousine in die Augen. »Wir Männer könnten Civettino spielen, dabei nach Herzenslust ringen und fechten. Und wenn es hier Bälle gibt, können wir uns auch mit Pelota vergnügen.«

»Wir werden uns gegenseitig Geschichten erzählen«, fuhr Eleonore fort, »wie weiland die Gesellschaft Boccaccios, die sich auf ein Landgut bei Florenz zurückgezogen hatte, um der Pest des Jahres 1348 zu entgehen.«

Angelina war zutiefst verunsichert. Sie kannte Boccaccios »Decamerone« und wusste, dass die Geschichten recht anzüglich waren. In was für eine Lage war sie nur geraten! Und es gab keine Möglichkeit, ihr zu entfliehen. Wieder überkam sie ein Gefühl der Angst. Woher kam das nur, was hatte sie denn zu befürchten? Nach dem Essen verlangte Matteo nach einem Süßwein, den er stets nach Beendigung des Mahles zu sich nahm. Die Dienerin brachte einen Krug und einen Becher.

»Ich werde mich ein wenig hinlegen«, verkündete er. »Später können wir noch zusammensitzen, uns unterhalten und spielen.« Er nahm den Becher und zog sich auf sein Zimmer zurück. Die Dienerin räumte den Tisch ab. Angelina wollte sich gerade verabschieden, als ein polterndes Geräusch aus Matteos und Eleonores Schlafzimmer ertönte.