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In Rom war der November darüber hingegangen, Bilder zu verkaufen, neue Auftraggeber zu gewinnen und die Kunstschätze der Stadt in Augenschein zu nehmen. Francesco konnte es kaum erwarten, die Verhandlungen abzuschließen und nach Florenz zurückzukehren. Für seinen Aufbruch hatte er den Anfang des Monats Dezember gewählt. Sebastiano versuchte ihn zurückzuhalten, doch es gelang ihm nicht. Francesco missfiel die Art, in der die Römer lebten. Und er vermisste Angelina, Botticelli, seine Arbeit in dessen Werkstatt, seine Malerfreunde und auch Eleonore. Ob sie sich einmal mit Angelina getroffen hatte? Und was war aus Lucas und Sonia geworden? Dass Angelina und er sich gestritten hatten, machte ihm keine sonderlichen Kopfschmerzen. Er wusste, wie die Frauen waren. Angelina würde ihm nicht widerstehen können, sobald er vor ihr stand. Zudem hatte er ihr drei Briefe geschrieben, die er an die Adresse von Botticelli gerichtet hatte. Sie beantwortete allerdings keinen von ihnen, was ihn doch mit leichter Unruhe erfüllte.

Die letzten Abende verbrachte er mit Sebastiano, den Malern und Stuckateuren in den Tavernen Roms. Man redete über die Kunst und die Malerei im Allgemeinen, im Besonderen über Michelangelo, der den Auftrag bekommen hatte, eine Pietà für Santa Croce in Rom herzustellen, sowie über Leonardo da Vinci, diesen noch genialeren Maler in Mailand. Francesco allerdings vertrat die These: Die besten Künstler der Zeit seien Florenz zuzuordnen, denn hatten nicht auch Michelangelo und Leonardo da Vinci dort gelebt? Es kam zum Streit, die Leute waren angetrunken. Francesco wollte lieber gehen.

»Bleib!«, rief ihm Sebastiano zu, »sind wir nicht Freunde geworden?«

|249|Nach dem hitzigen Wortgefecht kam die Rede auf den Papst und seine Tochter Lukrezia, mit der er widernatürliche Beziehungen unterhalten sollte. Francesco konnte es nicht mehr hören. Fast sehnte er sich nach dem finsteren Savonarola zurück. Aber eines hatte er gelernt auf dieser Reise: dass Kunst nicht allein auf das Religiöse beschränkt bleiben darf. In der Nacht träumte er, es poltere jemand gegen seine Tür und verlange ihn zu sehen. Es war ein städtischer Büttel, der ihn aus seinem Bett riss und ihn anbrüllte, er sei als Anhänger Savonarolas überführt. Wie er darauf komme, wollte Francesco wissen. Jemand habe ihn denunziert, sagte der Mann. Man habe seine Bilder eindeutig als die aus Botticellis Werkstatt erkannt, ein Käufer habe sein Exemplar dem Papst vorgelegt. Und jetzt werde er, Francesco, in der Engelsburg festgesetzt, als Pfand gegenüber dem fanatischen Mönch in Florenz. Dort werde er nicht mehr lebend herauskommen. Francesco erwachte schweißgebadet. Was das wieder zu bedeuten hatte? Er machte sich viel zu viele Gedanken. Eilig stand er auf, kleidete sich an, packte seine Sachen und verabschiedete sich kühl von Sebastiano.

»Gehst du zurück zu deiner Angebeteten?«, versuchte Sebastiano ihn zu necken.

»Ich gehe zurück«, meinte Francesco, schulterte sein Bündel und ging hinaus, um sein Pferd zu holen, das er im Stall einer Gastwirtschaft zurückgelassen hatte. Er verließ die Stadt Rom, ohne sich noch einmal umzuschauen. Jede Meile, die er auf seinem Pferd zurücklegte, brachte ihn Angelina näher. Er nahm denselben Weg, den er mit Sebastiano gekommen war. Es schien ihm eine Ewigkeit her zu sein. Während er durch die schon winterliche Landschaft trabte, Regen, Schneeflocken und Wind ihm ins Gesicht peitschten und sein Wollmantel immer feuchter wurde, konnte er, je näher er seinem Ziel kam, immer weniger seinen Gedanken ausweichen. Er hatte Schuld auf sich geladen, hatte gesündigt, vor Gott und den Menschen. Er war der Geliebte einer verheirateten Frau gewesen, und nicht irgendeiner Frau. Das Wissen |250|um diese Begebenheit, die schon länger zurücklag, belastete sein Gewissen schwer. Angelina durfte ihren Namen niemals erfahren.

 

Angelina tauchte aus tiefem Schlaf empor. Wo war sie? In einem Grab?

Aber nein, sie lag auf einem Bett, in mehrere Decken gehüllt. Hinter dem schmalen Fenster heulte und pfiff der Sturm. Die Fackel, die in einer Vertiefung der Wand steckte, blakte und rußte. Kein Mensch war zu sehen.

Angelina wollte aufstehen, doch etwas hielt sie mit Gewalt in ihrem Bett. Sie versuchte sich zu bewegen, bemerkte zu ihrem Entsetzen, dass ihre Arme und Beine kraftlos auf der Strohmatratze lagen. Ewigkeiten vergingen. Angelina vernahm leise Schritte, ein Luftzug wehte herein. Eine Schwester in schwarzer Ordenstracht beugte sich über sie, das besorgte Gesicht war ganz nahe.

»Was ist nur mit dir, Angelina?«, fragte Schwester Bianca.

Angelina bewegte die Lippen, brachte aber keinen Laut heraus.

»Du bist krank, Angelina«, beschied Bianca. »Du musst dich unbedingt erholen. Ich werde die Köchin anweisen, gebratenes Fleisch und sonstige nahrhafte Kost für dich zu bereiten. Schlaf jetzt noch ein wenig, ich werde gleich etwas holen.«

Mit einem Seufzer schloss Angelina die Augen. Als sie wieder erwachte, erschien Schwester Bianca und brachte eine Schüssel mit Hühnersuppe.

»Die wird dich wieder zu Kräften bringen«, sagte sie, stellte die Schüssel auf den Boden und half Angelina, sich aufzurichten. Angelinas Kopf brummte, ihr war schwindelig.

»Was ist geschehen, Suor Bianca?«, fragte sie die junge Frau, die stets still und ergeben ihre Dienste verrichtet hatte.

»Du bist bei der Vesper umgefallen«, sagte Bianca, »und wir haben dich auf das Krankenzimmer gebracht.«

»Wann war das?«, wollte Angelina wissen.

»Vor zwei Tagen«, gab Bianca zur Antwort. Sie setzte sich mit der |251|Suppenschüssel neben sie und begann sie mit einem Holzlöffel zu füttern.

»Ich kann selber essen«, meinte Angelina heiser. Die Suppe tat ihr gut, sie erwärmte sie von innen.

»Gut, dann werde ich jetzt gehen, wenn du etwas brauchst, dann rufe mich«, sagte Bianca und stand auf. Angelina fischte die letzten weißen Fleischstücke heraus, stellte die Schüssel beiseite und dachte nach. Sie glaubte nicht daran, dass sie wirklich krank war. Es war einfach alles zu viel gewesen in den letzten Monaten. Und sie war ins Kloster gekommen, um sich zu erholen, um Kräfte zu sammeln für die Aufgaben, die noch auf sie warteten. Wo war Mutter Elisa? Jetzt fiel es ihr ein: Sie war nach Assisi gereist, um irgendeine Mission zu erfüllen. Das war länger her, hoffentlich war sie inzwischen zurückgekehrt! Angelina fiel noch einmal in einen kurzen Schlaf. Als sie die Augen öffnete, stand Mutter Elisa neben ihrem Bett.

»Es betrübt mich, zu sehen, dass du so leidest«, sagte Elisa. Ihr rosiges Gesicht, das kaum Runzeln aufwies, strahlte Angelina an.

»Wenn ich Euch sehe, ehrwürdige Mutter Elisa, fühle ich mich fast wieder gesund«, erwiderte Angelina.

»Die ›ehrwürdige‹ lassen wir doch lieber weg«, meinte Mutter Elisa. »Ich bin eine unter vielen. Was bewegt dich so sehr, Angelina, was schleppst du mit dir herum, dass es dich fast erdrückt?«

»Ihr wisst, was mich umtreibt«, antwortete Angelina. »Mir hat das Gespräch mit Euch gefehlt.«

»Unsere Gespräche können wir wieder aufnehmen«, meinte Mutter Elisa. »Doch heute sollst du dich noch schonen. Ich gebe dir etwas mit auf den Weg, worüber du bis dahin nachdenken kannst. Gott hat uns nicht erschaffen, damit wir einfach und bequem unseren Weg gehen, sondern wir haben Prüfungen zu bestehen, Berge zu erklimmen, tiefe Täler zu durchwandern. Sieben Tode müssen wir durchleiden, bevor wir zu ihm kommen, durch uns selbst.«

»Warum sieben Tode?«, fragte Angelina. Die Worte Elisas versetzten sie in starke innere Erregung.

»Die Sieben ist eine magische Zahl, deshalb habe ich diese Ziffer |252|verwendet. Es kann auch einer sein oder hundert. Und jetzt ruhe dich noch ein wenig aus.«

Am nächsten Tag war Angelina so weit bei Kräften, dass sie an den Gottesdiensten teilnehmen konnte. Einige Tage später nahm sie die Arbeit im Stall wieder auf. Nach dem Abendessen und der Komplet bat Mutter Elisa sie auf ihr Zimmer.

»Gibt es noch etwas, das du auf dem Herzen hast, Angelina?«

»Vielleicht könnt Ihr mir helfen herauszufinden, warum ich mich so schrecklich schuldig fühle«, murmelte Angelina.

»Wie lange fühlst du dich denn schon so?«

»Seit ich lebe. Oder wartet, seit ich ein Kind von etwa neun Jahren war, glaube ich.«

»Was ist damals geschehen?«

»Ich erinnere mich nicht«, sagte Angelina. »Von einem Tag auf den anderen änderte sich alles. Vorher war mein Leben sorglos gewesen, ich habe mit Freunden und mit meinen kleinen Geschwistern gespielt. Nein, das kann nicht sein, Rodolfo war noch gar nicht geboren … oder doch?« Sie runzelte kurz die Stirn und fuhr fort: »Im Sommer waren wir auf unserem Landgut, Feste wurden gefeiert. Aber von einem bestimmten Tag an war meine Freude dahin. Schon wenn ich morgens erwachte, spürte ich dieses drückende Gefühl, ich hatte immer Angst, dass etwas Schreckliches geschehen würde.«

»Und das hat sich nun, etliche Jahre später, erfüllt«, murmelte Mutter Elisa. Sie schien ganz in sich versunken. »Du bist 1480 geboren, nicht wahr? 1489 war Girolamo Savonarola schon im Kloster San Marco. Die Medici wurden fünf Jahre später vertrieben. Glaubst du, dass es etwas mit Savonarola zu tun haben könnte?«

»Vielleicht, ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an eine Höhle, in der wir als Kinder spielten.«

»Eine Höhle?«

»Oder ein Stollen in einem Weinberg.«

»Ist dort etwas geschehen? Wurde vielleicht jemand verschüttet?«

|253|»Ich weiß es nicht.«

Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. Warum fiel ihr einfach nicht ein, was passiert war? Von Unruhe erfüllt, zog sie sich zurück.

Während der Gebete und Psalmen, die in der Kirche gesungen wurden, kamen Angelina nun immer häufiger Bilder aus ihrer Kindheit in den Sinn. Sie sah sich als kleines Mädchen mit Geschwistern und Freunden spielen, am Tisch sitzen und die guten Gerichte verspeisen, die auf den Tisch gebracht wurden. Die Besuche bei Lorenzo de’ Medici standen ihr vor den Augen, sein markantes, dunkles Gesicht, das gescheitelte schwarze Haar und seine sonderbaren Spinnenfinger. Und die sommerlichen Besuche auf dem Landgut hier ganz in der Nähe in Fiesole. Was war das für eine schöne Zeit gewesen! Den ganzen Tag war sie draußen gewesen, hatte sich in den Weinbergen und in den Wäldern getummelt, Marienkäferhäuser gebaut und in den Bächen gebadet. Bis das alles mit einem Schlag zu Ende gewesen war.

»Angelina, träumst du?«, flüsterte ihr Bianca zu, die neben ihr stand.

»Entschuldige«, sagte Angelina hastig und stimmte mit lauter Stimme in den Hymnus ein.

 

»Versuche dich zu erinnern«, forderte Mutter Elisa Angelina auf, als sie sich das nächste Mal zu einem Gespräch trafen. »Was ist auf eurem Landgut geschehen? Gab es einen Mann, eine Frau, ein Kind, die zu der Zeit dort aufgetaucht sein könnten?«

»Es gab einen Jungen«, sagte Angelina zögernd. »Giovanni Brenetto hieß er, glaube ich. Er war aber älter als ich.«

»Was war mit Giovanni? Hat er dich gerngehabt?«

»Ich glaube schon. Er tauchte oft im Wald auf, wenn ich mit Freundinnen oder meinen kleinen Geschwistern badete, und zeigte uns seltsame Dinge wie das Gewölle einer Eule, die Bauten von Fuchs und Dachs und Libellen …«, sie schlug die Augen nieder, »… beim Paarungstanz.«

»Wer war er? Woher kam er?«

|254|»Ein Bauernjunge«, sie überlegte, »aus der Nachbarschaft, glaube ich. Meinen Eltern war es nicht recht, dass ich mich so viel mit ihm abgab. Sie fürchteten wohl, er könne mir einen Heiratsantrag machen oder meine Sitten verderben.«

»Sie lehnten ihn ab, weil sein Vater kein Geld hatte, nicht wahr?«

»Ich glaube schon«, sagte Angelina. »Aber ich habe ihn aus den Augen verloren. Was damals auch geschehen sein mag – es ist mir vollkommen aus dem Gedächtnis entschwunden!«

»Hab Geduld, Angelina. Führe dein Leben bei uns fort, bete und arbeite, denke nach und lasse alles auf dich wirken. Du wirst zur Ruhe kommen.«

»Ich will aber nicht mehr zur Ruhe kommen, Mutter Elisa! Ich will wissen, was die Ursache all dieser schrecklichen Dinge ist!«

Von dem Feuer und dem Toten, die ihr bei der Beichte im Dom vor Augen getreten waren, sagte sie nichts. Die Erinnerung war so furchtbar, dass Angelina sie in den hintersten Winkel ihres Kopfes verschob.

»Gott wird dich auf deinem Weg dorthin begleiten. Und nun geh an deine Arbeit.«

In der nächsten Zeit träumte Angelina überhaupt nicht mehr, oder sie vergaß, was sie geträumt hatte. Sie kam einfach nicht weiter mit ihren Nachforschungen über die Vergangenheit. Das machte sie ungeduldig und gereizt. Immerhin aß sie regelmäßig und schlief wieder besser. Eines Mittags Ende November wurde Angelina von Suor Dorothea wieder ein Gast gemeldet. Dieses Eindringen der Außenwelt beunruhigte sie. Wer konnte das sein? War Francesco vielleicht von seiner Reise nach Rom zurückgekehrt? Sie wünschte es inständig und fürchtete es zugleich. Konnte das nicht tödlich für ihn enden?

Angelina begab sich etwas beklommen ins Besucherzimmer. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, denn sie sah – ihre Mutter! Signora Girondo sah noch genauso aus, wie Angelina sie in Erinnerung hatte: mit ihren Pausbäckchen, der fülligen Figur und den schwarzen Locken. Eine Wolke von Parfüm wehte Angelina entgegen. |255|Lukrezia Girondos Gesicht jedoch war nicht so fröhlich wie sonst, sondern von Gramesfurchen durchzogen. Ihre Augen glänzten feucht.

»Angelina, meine Tochter!«, rief sie, erhob sich von ihrem Stuhl und näherte sich Angelina mit ausgebreiteten Armen. Angelina war vollkommen überrascht und ließ es geschehen, dass ihre Mutter sie umarmte, ihr die Haare streichelte und ihr Gesicht mit Tränen benetzte, während sie ihr einen Kuss nach dem anderen auf die Wangen drückte.

Angelina versuchte die Zärtlichkeiten zu erwidern, war aber zu verletzt, um wirkliche Zuneigung zu empfinden. Als beide zu Atem gekommen waren, sagte Angelina:

»Was führt Euch zu mir, Frau Mutter?«

Die Antwort war ein neuerlicher Tränenausbruch. Angelina reichte ihrer Mutter ein Tuch. Schließlich hatte sich Signora Girondo halbwegs beruhigt.

»Du musst mich verstehen, Angelina«, begann sie. »Wir haben dich nicht verstoßen, wie du wohl geglaubt hast. Dein Vater und ich wollten immer nur, dass du glücklich wirst. An der Seite dieses Malers wärest du es niemals geworden. Und ich sehe ja, dass du allein bist. Tomasio ist der rechte Ehemann für dich, und er würde auch heute noch zu seinem Wort stehen.« Sie schnäuzte sich in das Tuch, bevor sie fortfuhr:

»Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen, damit du endlich zur Ruhe gelangst. Deine Geschwister sprechen immer wieder von dir und fragen nach deiner Rückkehr. Dein Vater ist schon ganz grau geworden!«

»Ich glaube Euch nicht, Frau Mutter«, sagte Angelina mit Schärfe in der Stimme. »Was steckt wirklich hinter dem allen?« Sie ließ ihre Mutter nicht aus den Augen.

»Es gibt Umstände in meinem Leben, die ich ungeschehen machen möchte, wenn ich nur könnte«, antwortete Signora Girondo leise.

»Wovon sprecht Ihr, Frau Mutter?«

|256|Signora Girondo setzte sich erneut auf den Stuhl, um ihre Fassung ringend.

»Oft wollte ich zu dir gehen, aber das, was ich getan hatte, hielt mich davor zurück. Ich habe dich immer geliebt, glaub mir das!«

»Ich glaube es, Frau Mutter. Doch habt Ihr mir durchaus Anlass zum Zweifel gegeben.«

»Ich muss dir die Wahrheit sagen.« Signora Girondo schniefte. »Vor einiger Zeit war ich bei Signor Botticelli, um nach dem Bild zu fragen, das wir in Auftrag gegeben hatten. Er sagte, er wisse nicht, wo Francesco Rosso es versteckt hätte, aber sobald er von Rom zurück wäre, würden wir es selbstverständlich erhalten. Francesco hätte es vor den Fanciulli in Sicherheit bringen müssen. Aber dann gab er mir drei Briefe von Francesco, die an dich gerichtet waren. Verzeih mir, Gott möge meiner Seele gnädig sein, aber ich habe diese Briefe geöffnet, weil ich mir allzu viele Sorgen über dich und diesen Francesco gemacht hatte.«

Angelina glühte innerlich vor Freude, dass Francesco ihr geschrieben hatte, aber sie ließ sich nichts anmerken.

»Warum war Botticelli im Besitz dieser Briefe?«

»Francesco hat sie an seine Adresse gerichtet. Er wusste nicht, wo du dich aufhieltest.«

Angelinas innere Spannung wuchs. Was konnte ihre Mutter bloß so aus dem Häuschen gebracht haben?

»In einem dieser Briefe stand etwas von einer Schuld, die Francesco und weitere Personen, auch du, auf sich geladen hätten. Während der Pestzeit hättet ihr darüber gesprochen. Du musst wissen, dass auch ich schwere Sünde auf mich geladen habe.«

Angelina erschrak. Wollte ihre Mutter ihr die Sünden ihrer Jugend beichten? Signora Girondos Wangen zitterten.

»Ich habe ein Liebesverhältnis gehabt, als ich schon verheiratet war«, sagte sie. Angelina wurde es schwarz vor Augen. Sollte jetzt die Wahrheit an den Tag kommen? Nein, sie wollte es nicht hören, sie würde sogleich aus dem Zimmer laufen, sich die Ohren zuhalten und sich in ihrem Bett verkriechen.

|257|»Von Tante Bergitta habe ich gehört, dass du vor deiner Ehe … eben nicht den besten Lebenswandel hattest«, brachte Angelina hervor.

»Nein, es war nicht in dieser Zeit, es war später.«

»Wer war dieser Mann?« Angelina war entschlossen, dem Unausweichlichen ins Auge zu sehen.

»Ich bringe den Namen nicht über die Lippen«, stammelte ihre Mutter. »Aber du kennst ihn.«

»War es Francesco?«, fragte Angelina, einer Ohnmacht nahe.

»Ja.« Signora Girondo schien fast erleichtert, dass die Worte heraus waren.

»Gib mir Francescos Briefe«, rief Angelina, blind vor Zorn und Trauer.

Zitternd händigte Signora Girondo ihr die Briefe aus. Angelina zerriss sie in kleine Fetzen, warf sie ihrer Mutter vor die Füße, drehte sich um und ging.