Der Herbst kam mit glutvollen Farben und würzigen Düften. In den Wäldern wuchsen Steinpilze und Trüffeln, die Tante Bergitta zusammen mit Angelina sammelte. Als Anfang Oktober die Weinlesehelfer kamen, machte Angelina sich bereit zur Rückreise. Ihre Tante schenkte ihr zum Abschied eine kleine Reliquie, einen Benediktuspfennig, der sie vor Üblem bewahren sollte. Ein Pilger hätte ihn aus seiner nördlichen Heimat mitgebracht. Angelina küsste Bergitta auf beide Wangen und bestieg den Wagen, der sie mit ihrem wenigen Gepäck nach Florenz bringen sollte. Zum Abschied drückte ihr Bergitta noch einen kleinen Beutel mit Geld in die Hand.
»Das ist für deine Hilfe im Weinberg«, sagte sie zwinkernd. Während sie durch das Arnotal rollte, dachte Angelina daran, wie sie mit den anderen aufgebrochen war, um der Pest zu entgehen. Was aber hatte sie wirklich gewonnen durch diese Flucht? Im Grunde war alles, was je bestanden hatte an Liebe, Freundschaft und Lebensmut, zerstört worden. Womit hatte das alles angefangen? Doch nicht mit dem Bild? Plötzlich fragte sie sich voller Angst, ob ihre Familie überhaupt noch lebte. Würde sie vielleicht einmal enden wie ihre Mutter? Nichts auf der Welt wäre ihr im Augenblick lieber gewesen als ein Mensch, mit dem sie hätte reden können. Aber ihre Tante Bergitta entfernte sich mit jeder Meile mehr, und der Kutscher, der seinen Hut tief ins Gesicht gezogen hatte, antwortete nur einsilbig, wenn sie das Wort an ihn richtete. Sie kamen nun in Gefilde, die von der Pest stärker heimgesucht worden waren. Immer wieder sah sie Felder, auf denen die Ernte verdorben war, niemand hatte hier arbeiten können während der letzten Monate. Sie passierten silbrige Olivenhaine, deren Boden mit verrotteten Oliven bedeckt waren. Kleine Weiler mit verlassenen grauen Häusern glitten |178|vorüber; die Weinberge glänzten in gelbroter Pracht. Der süßliche Geruch des Todes wurde überlagert von dem der Feuer, die überall angezündet worden waren, wie um die letzten Gedanken an das Furchtbare zu vertreiben.
Zwei Tage später erreichten sie Florenz. Vor dem Stadttor lagen noch einige Sterbende, Angelina zwang sich, nicht hinzusehen. Doch als sie in die Straßen mit den hohen, fast fensterlosen Häusern und Palazzi einbogen, sah sie, dass die Stadt sich von dem Angriff der Seuche erholt hatte. Nach den drei heißen Sommermonaten war die Pest fast über Nacht verschwunden.
Die Reichen waren mit Wagenladungen ihrer Schätze zurückgekommen; überall drängten sich Bettler, Bauern, Handwerker, Hungernde. Zwar zogen noch immer die Fanciulli durch die Gassen und sangen ihre Lieder, doch war ein anderer Ton in das Leben gekommen. Die Spötteleien der Compagnacci wurden mit Faustschlägen und Fußtritten beantwortet. Savonarolas Anhänger waren ungeduldiger geworden, seine Gegner aber auch. Angelina sah Menschen mit aufrechtem Gang, nicht mehr diese verhuschten Gestalten, sah hier und da auch Locken unter Kapuzen hervorblitzen, sah Perlenketten und schamhaft geschminkte Münder von Frauen. Je mehr sie sich dem Haus ihrer Eltern näherten, desto mehr klopfte Angelinas Herz. Was würde sie erwarten? Wohnte inzwischen jemand Fremdes darin? Würde ihr jemand sagen können, wohin es ihre Familie verschlagen hatte? Das Haus wirkte so, als hätte Angelina es gerade erst verlassen. Aber wie viel Zeit lag zwischen diesem Moment und ihrer Rückkehr heute, wie viel war seitdem geschehen! Mit weichen Knien entstieg sie dem Wagen und entlohnte den Kutscher. Sie schulterte ihr Bündel und trat zur Tür, um den Klopfer zu betätigen. Ein Hundebellen war die Antwort. Nach einiger Zeit wurde die Tür vorsichtig geöffnet. Ein fremdes Mädchen in der Kleidung einer Magd steckte seinen Kopf heraus.
»Was wollt Ihr?«, fuhr das Mädchen Angelina an.
»Ich bin die Tochter von Lorenzo und Lukrezia Girondo«, entgegnete Angelina.
|179|»Wartet.« Das Mädchen verschwand im Inneren des Hauses. Kurz darauf kehrte es mit schnippisch erhobener Nase zurück.
»Meine Herrschaft wünscht Euch nicht zu sehen. Ihre Tochter sei vor einem halben Jahr mit einem Maler davongelaufen und lebe seitdem in Sünde.«
Angelina war es, als verliere sie den Boden unter den Füßen. So weit hatte sie es also gebracht mit ihrer Selbstsucht! Jetzt brauchte sie sich nicht zu wundern, dass ihre Eltern sie nicht mehr aufnehmen wollten.
Die Tür wurde zugeschlagen. Angelina stand wie vom Donner gerührt. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, das im Wald ausgesetzt worden war. Ihre Arme und Beine waren wir gelähmt. Sollte sie sich auf die Stufe vor dem Haus setzen und so lange warten und weinen, bis sich jemand aus der Familie ihrer erbarmte? Wohin sollte sie gehen in dieser Stadt, die ihr schon fremd geworden war? Angelina fasste nach ihrem Benediktuspfennig, den ihr die Tante gegeben hatte. Wenn sie doch bei ihr geblieben wäre! So sorglos wie bei Bergitta hatte Angelina sich schon lange nicht mehr gefühlt. Angelina wandte sich zum Gehen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Tränen die Wangen hinabrannen. Verschwommen nahm sie die Gesichter der Menschen wahr, die an ihr vorübergingen. Schließlich fand sie sich vor dem Dom Santa Maria del Fiore wieder.
Sie betrat das Gotteshaus. Wie immer war sie von der Größe des Kirchenraumes gebannt. Angelina schaute einen Herzschlag lang zur Kuppel empor. Sie ging zu einer Pietà an der Seite der Kirche, um zu beten.
»Heilige Mutter Gottes«, murmelte sie, »Maria, hilf mir aus meiner Not. Ich habe gesündigt, ich habe alles zerstört, was mir lieb und wert war, aber ich wusste es doch nicht besser, handelte in der Eigenmächtigkeit meiner Sinne. Nimm diese Strafe von mir, ich flehe dich an! Ich werde alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um es wiedergutzumachen.«
Die Madonna blickte weiterhin sorgenerfüllt auf ihren Sohn hinab, |180|den sie in den Armen hielt. Was ist mein Schmerz schon gegen den dieser Mutter, dachte Angelina. Sie erhob sich, knickste vor dem Bild und ging langsam zum Ausgang der Kirche. Hier, in diesem Dom, war Giuliano de’ Medici hinterrücks erstochen worden, sein Bruder Lorenzo entging nur knapp einem Attentat. Was war das nur für eine Zeit, in die sie hineingeboren worden war! Intrigen, Morde, Hinterhältigkeit – gab es überhaupt noch jemanden, dem sie trauen konnte?
Die Blicke der Menschen, die an ihr vorübergingen, schienen Angelina feindselig. Jeder war ein möglicher Feind, jeder konnte ihr ans Leben wollen, und sei es, um ein paar ihrer Soldi zu ergattern. Angelina verließ die Kirche, trieb dahin, sie wusste nicht mehr, in welche Richtung sie gegangen war. War es so, wenn das Leben allmählich zu Ende ging, man sich den Gefilden des Todes näherte? An den Ecken brannten Feuer. Männer und Frauen brieten in großen Pfannen Fleisch und Maronen. Angelina verspürte Hunger. Sie hielt einem Mann drei Soldi hin und bekam dafür ein Stück Braten, in Mangoldblätter gewickelt. Nachdem sie gegessen und sich das Fett von den Fingern gewischt hatte, schaute sie sich um. Ihr Standort musste ganz in der Nähe der Via Nuova sein. Diesen Namen wollte sie nie mehr denken, geschweige denn aussprechen. Aber falls die kleine Gruppe vom Lago Trasimeno zurückgekehrt war, müssten Sonia und Lucas ebenfalls wieder hier sein. Angelina bog in die schmale Gasse ein.
Die Gerber waren an der Arbeit, es roch wie ehedem nach Beize. Da stand das Haus Botticellis mit seiner Werkstatt. Angelina wandte ihre Augen schnell zu Lucas’ Gemüseladen. Die Nachmittagssonne fiel schräg auf die Auslagen mit Fenchel, Äpfeln, späten Birnen, Bohnen, Wirsing und Steinpilzen. Angelina trat in den Laden. Sonia bediente gerade einen Kunden. Sie war schmaler geworden. Als sie Angelina erblickte, stieß sie einen unterdrückten Schrei aus.
»Du hier, Angelina! Wir dachten schon …«
Was sie wohl gedacht hatten?
|181|»Ich muss erst meinen Kunden bedienen, dann rufe ich Lucas«, meinte Sonia, nachdem sie sich von der ersten Überraschung erholt hatte. Der Mann verließ den Laden mit einem Korb voller Gemüse und Pilze.
»Lucas, komm doch mal!«, rief Sonia, zur Rückseite des Ladens gewandt. Dann nahm sie Angelina in die Arme, drückte und küsste sie. Der Gemüsehändler erschien; auch er hatte an Gewicht abgenommen. Seine Augen leuchteten auf.
»Wie schön, dich zu sehen, Angelina!«, sagte er und drückte ihr fest die Hand. »Wir dachten schon, dir wäre etwas zugestoßen!«
Sie setzten sich in den Hinterraum und erzählten gegenseitig, wie es ihnen ergangen war.
»Willst du nicht wissen, was aus Francesco und Eleonore geworden ist?«, fragte Sonia.
Angelina hätte sich fast auf die Zunge gebissen.
»Doch … wie geht es ihnen?«
»Francesco ist wieder drüben bei seinem Meister«, entgegnete Sonia. »Und Eleonore ist mit den Kindern in ihr Stadthaus zurückgegangen.«
Die Erinnerung schmerzte noch. Doch immerhin waren sie alle am Leben.
»Meine Eltern haben mich von ihrer Tür gewiesen«, sagte Angelina. Sie kämpfte wieder mit den Tränen. »Kann ich bei euch unterkommen?«, fragte sie.
Lucas und Sonia schauten sich ein wenig betreten an.
»Das sind aber feine Eltern«, schimpfte Sonia. »Wenn sich Signora Girondo nicht meiner und meines Kindes angenommen hätte, würde ich jetzt in Gedanken auf sie spucken!«
»Wir haben nur die eine kleine Kammer«, meinte Lucas. »Und die teilen wir uns mit Perpita, unserer Tochter. Aber du kannst ein paar Nächte in dem Hinterstübchen des Ladens verbringen.«
»Warte nur, eines Tages werden dich deine Eltern wieder aufnehmen«, tröstete Sonia Angelina. »Die Pest hat gewiss ihre Herzen verhärtet.«
|182|»Das glaube ich auch«, meinte Lucas. »Vertraue auf Gott, Angelina!«
Lucas schloss das Geschäft, ein notdürftiges Bett wurde für Angelina hergerichtet. Abends, nachdem Perpita ins Bett gebracht worden war, saßen sie noch im Gespräch zusammen.
»Ich muss immer wieder an die Geschichten denken, die wir uns gegenseitig erzählt haben«, sagte Sonia versonnen.
»Jeder von uns hat Sünde auf sich geladen«, stellte Lucas fest. »Und ich bete jeden Tag darum, dass uns nicht dasselbe Schicksal ereilen möge wie Matteo.«
»Oder wie Fredi, meinen auserwählten Gatten«, antwortete Angelina.
»Ich habe Angst«, sagte Sonia. »Savonarola hat wieder an Macht gewonnen. Die Signoria und große Teile des Volkes stehen nach wie vor hinter ihm!«
»Wie können wir uns schützen?«, fragte Angelina die beiden Freunde.
»Girolamo Savonarola hat nicht nur dazu aufgerufen, das Predigtverbot und die drohende Exkommunikation in den Wind zu schlagen, sondern auch dazu, andere mit aller Härte zu seiner Lehre zu bekehren«, meinte Lucas. »Wer jetzt noch mit Spitzenkragen, einem Pelz oder einer Perlenkette auf der Straße angetroffen wird, dessen Leben ist in Gefahr. Die Fanciulli reißen diese Dinge herunter, verprügeln die Menschen oder schleifen sie vor die Signoria und lassen sie in den Kerker werfen und foltern.«
»Warum tragen die Frauen dann wieder ihren Schmuck, warum lassen sie ihre Locken unter den Hüten hervorblitzen?«, fragte Angelina verwundert.
»Ich glaube, sie haben es einfach satt«, murmelte Sonia.
»Es ist ein Kampf, den der gewinnen wird, der das Volk letztendlich auf seiner Seite hat«, erklärte Lucas.
»Wir dürfen auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen«, bemerkte Angelina. »Müssen uns mit Bedacht und einfach kleiden.«
|183|Angelina stockte der Atem. Sie war, in ihren einfachen schwarzen Mantel gehüllt, zum Markt gegangen, um Fleisch und Schmalz für das Mittagessen einzukaufen, als sie mitten in der dunklen Menge ein wohlvertrautes Gesicht erspäht hatte. Francesco kam auf sie zu. Ihr erster Gedanke war, sich umzudrehen und wegzulaufen, aber es war schon zu spät.
»Angelina« sagte er und nahm ihre Hände. In diesem Augenblick schmolz aller Widerstand dahin. Die Marktgeräusche verstummten.
»Francesco, wie froh bin ich, dich wiederzusehen!«, brachte sie hervor.
»Komm hier weg«, meinte er, »wir sollten nicht zusammen gesehen werden.«
»Warum nicht?«
»Du weißt, dass Botticelli ein Anhänger Savonarolas ist«, antwortete er im Gehen. »Wegen des Bildes von dir haben wir uns fast schon wieder entzweit.«
»Du hast es doch nach allen Regeln der Schicklichkeit gemalt?«, fragte Angelina.
Er lachte. »Ich habe es so gemalt, dass es dir und deiner Schönheit gerecht wird.«
»Wo ist es jetzt?«, wollte sie wissen.
»Ich wohne noch bei meinem Meister«, gab er zurück. »Dort habe ich es aufbewahrt. Ich würde gern ein Zimmer in der Stadt nehmen, habe aber nicht die Mittel dafür, auch nicht für eine eigene Werkstatt.«
»Gehen wir jetzt … zu dir?«
»Ja, es gibt sonst keinen Platz, an dem wir ungestört reden können.«
Angelina wäre am liebsten umgekehrt, aber etwas zog sie wie an unsichtbaren Fäden vorwärts. Immer wieder schaute er sie glücklich von der Seite her an. Die beiden überquerten einige Plätze und kamen bald zu Francescos Wohnung in Botticellis Haus. Sie stiegen die ächzende Holztreppe hinauf. Die Einrichtung des Zimmers |184|war ärmlich, aber sauber. Francesco nahm ihr den Mantel ab und bot ihr Platz in einem Sessel. Er setzte sich ihr gegenüber. Wie lange war es her, dass sie von Grassina zurückgeeilt war, um an Francescos Seite zu sein! Hier hatte sie ihn gepflegt, während draußen die Welt unterging, von hier waren sie aufgebrochen zu dem Landgut, und dennoch, wie einfach schien das Leben damals im Vergleich zu den jetzigen Umständen!
»Erzähl mir, was am Lago Trasimeno geschehen ist«, forderte er sie auf.
»Ich hatte Angst und ich wollte nach Hause, zu meiner Familie.« Angelina räusperte sich. »So bin ich erst einmal zu meiner Tante Bergitta in Arezzo gegangen. Sie hat dort ein kleines Weingut. Als die Weinhelfer kamen, reiste ich nach Florenz zurück.«
Francescos Augen waren dunkel.
»Warum sagst du mir nicht die Wahrheit? Du bist aus einem ganz anderen Grund weggegangen.«
Angelina drückte ihre Hände gegeneinander.
»Kannst du dir das nicht denken?«, fragte sie.
»Du meinst … wegen Eleonore? Du irrst, wenn du annimmst, es wäre etwas zwischen uns. Sie hat jemand anderen gemeint und auch ich habe nicht über sie gesprochen.«
»Ach ja? Und über wen habt ihr dann gesprochen, bitte?«
»Über wen Eleonore gesprochen hat, kann ich nicht sagen. Ich aber habe einzig über dich gesprochen, Angelina.«
Die aufgestaute Wut fiel in sich zusammen wie ein nasser Lappen.
»Und ich dachte …«
»Du musst nicht immer so viel denken, Angelina!« Er nahm sie in den Arm. Sie wehrte sich nicht. Wenn es stimmte, was er sagte … Dann kam ihr ein Gedanke und sie löste sich von ihm.
»Sei ehrlich zu mir!« Sie war mit einem Mal zornig. »Du wolltest, dass ich dir die Wahrheit sage, nun tue das Gleiche! Als ich vom See zurückkam, habe ich euch beide zusammen im Garten gesehen.«
Francesco stand rasch auf und beugte sich über sie.
|185|»Haben wir nicht schon einmal darüber gesprochen? Sie ist meine Vertraute von Kindesbeinen an. Und ich brauchte ihren Beistand!«
Angelina stockte der Atem. »Wieso das denn?«
»Weil ich dabei war, dich zu verlieren! Ich ahnte, dass du verschwinden würdest. Sie versuchte mir die Sorge auszureden. Und übrigens«, fügte er trotzig hinzu, »erwägt sie inzwischen, sich erneut zu verheiraten.«
Angelina atmete erleichtert aus.
Francesco nahm ihre Hände und zog sie sachte aus dem Sessel. »Wie oft habe ich an dich gedacht, Angelina, und darum gebetet, dass es dir gut gehen möge und wir uns bald wiedersehen würden!«
Angelina versuchte nicht, sich zu wehren. Willenlos lag sie in seinen Armen. Er führte sie zu dem Bett mit der Flickendecke und setzte sich neben sie. Angelina erlebte alles wie in einem Traum: Wie sein Mund sich näherte, sie sanft auf ihr Ohr, auf ihre Lippen küsste. Sie nahm den herben Duft nach Terpentin und Seife wahr. Langsam begann er, das Kleid von ihren Schultern zu streifen. Eine nie gekannte Empfindung durchströmte sie. Sie ließ alles geschehen. Er bog ihren Körper hintenüber, drehte sie herum, löste die Schnüre am Rücken, zog das Kleid weiter herunter und küsste sie erneut, heftiger diesmal. Angelina schloss die Arme fest um seinen Rücken, spürte seinen Körper, öffnete sich willig mehr und mehr. Seine Hände strichen über ihre Brüste.
»So möchte ich dich malen, auf dem Bett, mit den zerzausten Haaren, deinen herrlichen Körper möchte ich malen«, murmelte er an ihrem Mund.
Bilder schossen Angelina durch den Kopf. Sie beide am See, draußen in der Natur, wie er sie malte, der erste Kuss … nein, sie durfte die Nähe zu ihm nicht zulassen! Und doch hätte sie sich nichts mehr gewünscht, als sich ihm ganz hinzugeben. Angelina machte sich frei, sprang vom Bett herunter, knöpfte ihr Kleid zu und ordnete ihre Haare. Sonia würde ihr helfen, die Schnüre wieder zusammenzuziehen.
|186|»Ich muss jetzt zurück zu Lucas und Sonia«, sagte sie atemlos. »Sie werden sich schon Sorgen machen.«
Er blickte sie verstört an.
»Aber Angelina … Ich liebe dich!«
»Wir haben eine weitere Sünde auf uns geladen mit dem, was gerade geschehen ist. Es könnte dich das Leben kosten! Jeder, der mir zu nahe kommt, ist in tödlicher Gefahr.«
»Aber Angelina, was sind denn das für Gedanken?« Francesco schüttelte verständnislos den Kopf.
»Siehst du das nicht? Erst Fredi, dann du, dann Matteo … Ich bringe Unglück. Ich kann das nicht.«
»Angelina …«
»Versprich mir, niemandem davon zu erzählen!«
»Ich verspreche es. Werde ich dich wiedersehen?«
»Wir dürfen uns nicht wiedersehen, Francesco.«
»Komm morgen Nachmittag in Botticellis Werkstatt. Es sind nur wenige Gesellen und Maler da. Der Meister selbst wird unterwegs sein.«
»Ich kann nicht kommen, Francesco, ich darf nicht!«
Statt einer Antwort zog er sie abermals in seine Arme. Ihre Knie gaben nach. Doch sie riss sich los, griff nach ihrem Mantel und eilte zur Tür, die Treppe hinunter, hinaus auf die Gasse.