54
Jerome hatte noch eine Station vor sich, eine Person, die er aufsuchen wollte, bevor er nach Hause fahren und wieder eine alptraumhafte Nacht verbringen würde. D-King hatte ihm einen Auftrag gegeben, nur einen – die Leute zu finden, die Jenny entführt hatten.
Er hatte schon viele Leute sterben sehen, auf viele verschiedene Arten, und nicht wenige davon durch seine eigene Hand. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht. Der sterbende Ausdruck auf ihren Gesichtern war ihm nie im Gedächtnis haften geblieben, doch die Szenen von der DVD, die er mit D-King in der Limousine gesehen hatte, ließen ihn nicht mehr los. Er schlief schlecht und aß kaum noch. Er vermisste Jenny. Er hatte sie gern gemocht: immer ein Lächeln auf den Lippen, immer positiv. Egal, wie schlimm eine Situation zu sein schien, Jenny fand immer eine gute, eine lustige Seite daran.
Inzwischen war Jerome seit fast zwei Wochen an der Sache dran. Er hatte von jedem noch so schmutzigen seiner Kontakte aus der Unterwelt einen Gefallen eingefordert. Jede Information hatte zum nächsten Drecksack geführt. Der neueste auf seiner Liste war ein heruntergekommener Junkie namens Daryl.
Das Netz aus Schmutz um das Geschäft mit Snuff-Movies war dicht gewebt. Niemand schien irgendetwas zu wissen, und wenn doch, dann redeten sie nicht. Die Information, die Jerome bekommen hatte, lautete, dass Daryl zwar selbst nichts mit solcherlei Filmen zu tun hatte, aber vielleicht etwas dazu wusste, was für Jerome von Interesse sein könnte.
Daryl lebte auf der Straße und schlief, wo immer er ein Loch fand, das ihm Schutz für die Nacht bot. In dieser Nacht teilte er sich mit ein paar anderen Junkies und Obdachlosen die luxuriöse Ruine eines halbverfallenen Gebäudes im Süden von Los Angeles. Jerome musste ihn bloß noch finden.
Er hatte das Gebäude aus sicherer Entfernung beobachtet und geduldig gewartet. Zwar hatte man ihm eine recht ordentliche Beschreibung von Daryl gegeben, doch irgendwie schienen die Leute, die sich hier herumtrieben, alle gleich auszusehen. Allerdings hatte Jerome einen Vorteil: Daryl war angeblich eins fünfundneunzig groß – das sollte es ziemlich leicht machen, ihn zu erkennen.
Es war schon nach ein Uhr nachts, als Jerome ein großgewachsener, schlaksiger Kerl auffiel, der die Straße überquerte und sich auf das halbverfallene Gebäude zubewegte. Jerome ging los und holte ihn mit ein paar großen Schritten ein.
»Daryl?«
Der Mann blieb stehen und drehte sich um. Seine Kleider waren schmutzig und zerlumpt, sein kahlgeschorener Schädel voller Schorf und Narben. Es war offensichtlich, dass er sich seit Tagen nicht rasiert oder gewaschen hatte. Er wirkte ängstlich.
»Wer will das wissen?«
»Ein Freund.«
Der Mann musterte Jerome von Kopf bis Fuß. Jerome hatte sein Outfit der Gegend angepasst und seinen üblichen Tausend-Dollar-Anzug gegen ein gewöhnliches T-Shirt und Bluejeans ausgetauscht. Trotzdem wirkte er für dieses Stadtviertel noch ziemlich overdressed.
»Was denn für ein Freund?«, fragte der große Kerl und wich einen Schritt zurück.
»Einer, der dir helfen kann«, sagte Jerome und zog eine kleine Zellophantüte mit einem braunen Pulver darin aus der Tasche. Er sah, wie die Augen des Mannes elektrisiert aufleuchteten.
»Was willst du von mir, Mann?«, fragte er, immer noch skeptisch.
»Ich will wissen, ob du Daryl bist.«
»Und wenn ich es bin, krieg ich dann die Tüte?«
»Hängt davon ab, ob du mir sagen kannst, was ich wissen will.«
Der Typ kam einen Schritt näher, und Jerome fiel auf, wie schwach er aussah. Es war ziemlich klar, dass Jerome die Information jederzeit aus ihm herausprügeln könnte.
»Bist du’n Bulle, Mann?«
»Seh ich vielleicht so aus?« Jerome hatte sich schon oft gefragt, wieso Leute so was fragten – als ob ein Cop, der undercover arbeitete, damit rausrücken und fröhlich antworten würde, Hey, erwischt, stimmt genau, ich bin ein Bulle.
»Kann man heutzutage schwer sagen, wie Bullen aussehen.«
»Also, ich bin jedenfalls keiner. Bist du jetzt Daryl oder nicht?«
Der Typ zögerte noch ein paar Sekunden, während seine Augen das Pulver in dem Tütchen fixierten. »Ja, bin ich.«
Ach, die Macht der Bestechung, ging es Jerome durch den Kopf. »Gut, dann können wir uns ja jetzt unterhalten«, sagte er und steckte das Tütchen wieder in die Tasche.
Daryls Blick wurde traurig wie der eines kleinen Jungen, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. »Worüber willst du dich unterhalten?«
»Über etwas, was du weißt.«
Daryls Gesichtsausdruck nahm eine neue, misstrauische Note an. »Und was soll das sein?«
Jerome spürte einen aggressiven Unterton in Daryls Stimme. Da war noch mehr Bestechung nötig. »Hast du Hunger? Ich hätte nämlich Lust auf was zu beißen und eine Tasse Kaffee. Um die Ecke ist ein Café, das rund um die Uhr aufhat. Wie wär’s, wenn wir da reingehen? Ich bezahle.«
Daryl zögerte noch einen Augenblick und nickte dann. »Klar, Kaffee und was zu essen wär toll.«
Sie gingen schweigend, Daryl immer zwei Schritte vor Jerome. So erreichten sie das leere Café und setzten sich an einen Tisch im hinteren Teil. Jerome bestellte Kaffee und Pancakes, Daryl einen doppelten Cheeseburger mit Pommes. Jerome ließ sich Zeit mit dem Essen, aber Daryl verschlang seines gierig.
»Willst du noch einen?«, fragte Jerome, als Daryl fertig war. Daryl trank sein Rootbeer aus und rülpste laut.
»Nee, danke. Das war genau richtig. Also, was ist das jetzt, was du wissen willst?«
Jerome lehnte sich zurück und gab sich betont locker. »Ich brauche Informationen über ein paar Leute.«
»Leute? Was für Leute?«
»Nicht sehr nette Leute.«
Daryl kratzte sich zuerst an seinem buschigen Bart und dann an der krummen Nase. »In die Kategorie passen praktisch alle, die ich kenne«, sagte er mit einem flüchtigen Grinsen.
»Nach dem, was ich gehört habe, kennst du die Leute nicht persönlich, sondern weißt nur, wo ich sie finden kann.«
Daryl zog die Brauen hoch. »Da musst du mir schon mehr verraten, Mann.«
Jerome beugte sich nach vorn und legte beide Hände auf den Tisch. Er wartete darauf, dass Daryl dasselbe tat. »Weißt du, was ein Snuff-Movie ist?«, fragte er flüsternd.
Daryl erschrak so heftig, dass er beinahe Jeromes Kaffee umgestoßen hätte. »Scheiße, Mann, ich wusste, dass das irgend so’ne Kacke wird. Darüber weiß ich nichts.«
»Da habe ich was anderes gehört.«
»Dann hast du eben falsch gehört. Wer zum Teufel hat dir das gesagt?«
»Spielt keine Rolle. Ich will nur wissen, was du weißt.«
»Ich weiß überhaupt nichts, Mann«, sagte er heftig gestikulierend, wich jedoch Jeromes Blick aus.
»Also hör zu, wir können das auf zweierlei Arten regeln.« Jerome schwieg einen Moment und holte das Tütchen mit dem braunen Pulver wieder aus der Tasche. »Du sagst mir, was du weißt, und ich gebe dir zehn davon.«
Daryl rutschte auf seinem Sitz herum. »Zehn?«
»Genau.«
Das war mehr Heroin, als er je besessen hatte. Er könnte sogar was davon verkaufen und einen kleinen Gewinn einstreichen. Er fuhr sich mit der Zunge nervös über die aufgesprungenen Lippen. »Ich hab damit nichts zu tun, Mann.«
»Hab ich auch nicht behauptet. Ich will nur wissen, was du weißt.«
Daryl fing an zu schwitzen. Er brauchte einen Schuss.
»Die Leute, die mit so was handeln … das sind richtig üble Typen, Mann. Wenn die rauskriegen, dass ich sie verpfiffen habe, bin ich tot.«
»Nicht, wenn ich sie zuerst in die Finger kriege. Danach bräuchtest du dir um die keine Gedanken mehr zu machen.«
Daryl fuhr sich mit den Händen fest über die Lippen, als wolle er etwas abwischen. »Schätze, die andere Art, das zu regeln, ist die schmerzhafte?«
»Für dich – ja.«
Daryl holte tief Luft und blies sie langsam wieder aus. »Okay, aber ich weiß keine Namen oder so.«
»Ich brauche keine Namen.«
»Also, weißt du, in letzter Zeit hatte ich eine ziemliche Pechsträhne.« Daryl sprach leise und mit einem traurigen Unterton. »Ich krieg nicht jeden Tag ein Essen, das aus was anderem besteht als dem, was irgendwo jemand übergelassen hat. Wenn ich jeden Tag duschen könnte, würde ich’s tun. Ist aber nicht so leicht, wenn man völlig abgebrannt ist. Die meiste Zeit schlafe ich auf der Straße, mal hier, mal da, ist mir eigentlich egal, wo, aber ein geschützter Platz, wenn ich einen finden kann, ist natürlich immer besser.«
Jerome hörte zu.
»Vor ein paar Monaten war ich ziemlich high, also betrunken, und bin da in irgend so ’ner alten Fabrik oder so was in Gardena gelandet.«
»Gardena? Das ist ziemlich weit außerhalb«, unterbrach ihn Jerome.
»Na ja, ich komm eben viel rum. Einer der Anreize, wenn man obdachlos ist«, sagte Daryl und grinste blöd. »Im hinteren Teil dieses Gebäudes gibt’s noch einen Raum mit ’nem Dach drüber, da hab ich mich zum Pennen hingehauen. Dann bin ich davon aufgewacht, dass ein Auto kam. Keine Ahnung, welche Uhrzeit das war, ziemlich spät auf jeden Fall, es war noch dunkel. Jedenfalls hab ich aus reiner Neugier durch ein Loch in der Mauer geguckt, was da los ist.«
»Was hast du gesehen?«
»Vier Kerle, die eine gefesselte Frau aus einem Lieferwagen zerren.«
»Wohin haben sie sie gebracht?«
»Um das alte Gebäude rum und so einen kleinen Weg lang. Das hat mich neugierig gemacht, also bin ich hinter denen her. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es da noch so unterirdische Räume gab, aber so war’s. Am Ende des Wegs war so eine schwere Eisentür, versteckt hinter hohem Gras. Ich hab ungefähr fünf Minuten gewartet und bin ihnen dann nachgegangen.«
»Und?«
»Es war total versifft da unten, überall Ratten und Scheiße. Hat gestunken wie ’ne Kloake.«
Diese Bemerkung ausgerechnet aus Daryls Mund hatte eine gewisse Ironie, fand Jerome.
»Die haben da unten so ein komplettes Filmset stehen. Richtig mit Scheinwerfern und Kameras und so Zeug. Wobei, der Raum ist trotzdem total fertig, mit lauter Löchern in der Wand und so. Da war’s nicht schwer, zuzugucken, ohne dass die mich bemerkt haben.«
»Was haben die getan?«
»Na ja, also erst dachte ich, die filmen da einen Porno. Hatten die Frau an einen Stuhl gefesselt. Die hat geschrien und um sich geschlagen wie wild, hat sich echt richtig gewehrt, aber die haben sie andauernd geschlagen und so. Zwei von den Typen waren an der Kamera, die anderen haben mit der Frau rumgemacht. Aber das war kein Porno, Mann.« Daryls Stimme klang jetzt unsicherer. »Als die damit fertig waren, sie zu schlagen und zu ficken, haben die ihr die Kehle durchgeschnitten. Haben sie aufgeschlitzt wie einen Halloweenkürbis, und das war kein special effect, glaub mir.« Sein Blick ging ins Leere, als würde er die Bilder dieser Nacht immer noch vor seinem inneren Auge sehen. »Hinterher haben sie alle gelacht, als hätten sie gerade ’ne Runde Billard gespielt oder so. Echt krank, Mann.«
»Was hast du getan?«
»Ich hab voll die Panik gekriegt. Mir war klar, wenn ich irgendein Geräusch mache, bin ich der Nächste. Also hab ich gewartet, bis sie anfingen, die Sauerei aufzuräumen, dann hab ich mich ganz leise nach oben geschlichen und bis zum Morgen in der alten Fabrik versteckt. Ich bin da nie wieder hin.«
»Aber du weißt noch, wo das war?«
»Ja, logisch«, sagte er und nickte langsam.
»Na los, fahren wir.« Jerome zog einen Zwanzig-Dollar-Schein aus seinem Portemonnaie und ließ ihn auf dem Tisch liegen.
»Wohin denn fahren?«
»Nach Gardena. Zu dieser alten Fabrik.«
»He, Mann, davon war aber nicht die Rede.«
»Ist es aber jetzt.«
»Muss das sein, Mann? Ich hab dir alles gesagt, was ich weiß, das war der Deal. Das reicht doch für die Beutel, oder?«
»Wenn du die Beutel willst, musst du mich da hinbringen.«
»Das ist nicht fair, Mann. Das war nicht unser Deal.«
»Dann ändere ich den Deal eben«, sagte Jerome ungerührt.
Daryl wusste, dass er sowieso keine Chance hatte. Er brauchte einen Schuss, und zwar dringend. »Okay, Mann, aber wenn diese Dreckskerle da sind, dann steig ich um keinen Preis aus.«
»Keine Sorge, ich will nur sehen, wo es ist.«