14

 

Das Büro, das Captain Bolter für Hunter und Garcia bereitstellte, lag im obersten Stockwerk des Morddezernats. Es war ein mittelgroßer Raum, etwa acht mal zehn Meter, mit zwei einander gegenüberstehenden Schreibtischen in der Mitte. Auf jedem Schreibtisch standen ein Computer, ein Telefon und ein Faxgerät. Dank zweier Fenster zur Ostseite hin und mehrerer 50-Watt-Halogen-Lampen an der Decke war der Raum sehr hell. Zu Hunters und Garcias Überraschung waren bereits sämtliche Originalakten des Kruzifix-Killer-Falls hereingeschafft worden: Sie lagen in zwei riesigen Stapeln auf den beiden Schreibtischen. An der südlichen Zimmerwand war eine Korkpinnwand aufgezogen worden, an der bereits sämtliche Fotos der sieben ersten Opfer des Killers hingen und dazu das neue der gesichtslosen Frau.

»Was denn, keine Klimaanlage, Captain?«

Captain Bolter überging Hunters Sarkasmus und wandte sich an Garcia: »Sind Sie inzwischen im Bilde?«

»Ja, Captain.«

»Sie wissen also, womit wir es hier womöglich zu tun haben?«

»Ja«, antwortete Garcia mit dem Hauch eines Zitterns in der Stimme.

»Okay. Auf Ihrem Schreibtisch finden Sie alles Material, das wir zu den alten Fällen haben«, fuhr der Captain fort. »Hunter, Sie sind ja bereits damit vertraut. Die Computer haben eine T1-Internetverbindung, und jeder von Ihnen hat eine eigene Telefon- und Fax-Leitung.« Er trat zu den Fotos an der Pinnwand. »Sie sprechen über diesen Fall mit niemandem, weder innerhalb noch außerhalb des Morddezernats, verstanden? Wir halten die Untersuchung so lange wie irgend möglich geheim.« Er schwieg einen Moment und blickte beide Detectives scharf an. »Wenn der Fall an die Öffentlichkeit dringt, darf niemand erfahren, dass es hier möglicherweise um denselben Psychopathen geht, der das da getan hat«, sagte er und deutete auf die Fotos der Opfer. »Daher will ich auch nicht, dass irgendjemand bei dem neuen Fall vom Kruzifix-Killer redet. Was uns angeht, ist der Kruzifix-Killer tot, hingerichtet vor ungefähr einem Jahr. Das hier ist ein nagelneuer Fall, verstanden?«

Die beiden Detectives machten eine Miene wie Schuljungen, denen der Direktor die Leviten liest. Sie blickten zu Boden und nickten nur.

»Sie beide kümmern sich ausschließlich um diesen Fall, nichts sonst. Sie beißen sich in diesen Fall rein, bis er Ihnen aus allen Poren kommt, verstanden? Ab morgen will ich jeden Tag um zehn einen Bericht über die Ereignisse des Vortags auf meinem Tisch, und zwar so lange, bis wir den Kerl haben.« Captain Bolter ging zur Tür. »Ich will alles wissen, was in diesem Fall passiert, egal ob gut oder schlecht. Und tun Sie mir einen Gefallen: Lassen Sie die verdammte Tür nicht offen stehen. Wehe, hier sickert irgendwas durch.« Damit knallte er so laut die Tür hinter sich zu, dass es im Inneren des Raums widerhallte.

Garcia stellte sich vor die Fotos und betrachtete sie schweigend. Es war seine erste Begegnung mit den Original-Polizeiakten des Kruzifix-Killer-Falls. Zum ersten Mal sah er mit eigenen Augen, was für ein Grauen der Killer angerichtet hatte. Dabei kämpfte er gegen die aufsteigende Übelkeit an. Seine Augen saugten alles auf, während sein Verstand sich dagegen sträubte. Wie konnte irgendjemand zu so etwas fähig sein?

Einem der Opfer, einem Mann, fünfundzwanzig Jahre alt, waren die Augen in den Schädel gedrückt worden, bis sie unter dem Druck geplatzt waren. Seine Hände hatte der Täter so gründlich zermalmt, dass die Knochen praktisch pulverisiert waren. Einem anderen Opfer, einer vierzigjährigen Frau, hatte der Killer den Bauch aufgeschlitzt und sie ausgenommen wie erlegtes Wild. Einem dritten Opfer, diesmal ein fünfundvierzig Jahre alter Afroamerikaner, war der Hals der Länge nach aufgeschnitten worden; seine Hände waren wie zum Gebet gefaltet und zusammengenagelt. Auf den anderen Bildern gab es zum Teil noch grausigere Details. All diese Dinge waren den Opfern bei lebendigem Leib zugefügt worden.

Garcia erinnerte sich noch genau daran, wie er das erste Mal von den Kruzifix-Morden gehört hatte. Das war gut drei Jahre her, und er war damals noch kein Detective gewesen. Forschungen hatten inzwischen ergeben, dass in den Vereinigten Staaten ständig circa fünfhundert Serienmörder aktiv waren, die jährlich um die fünftausend Menschenleben forderten. Nur wenige von ihnen bekamen die breite mediale Aufmerksamkeit, die der Kruzifix-Killer genossen hatte, er hatte jedenfalls überproportional viel davon erhalten. Damals hatte sich Garcia gefragt, wie es wohl sein mochte, als Detective mit so einem hochkarätigen Fall betraut zu sein. Die Beweise zu sammeln, die Spuren zu verfolgen, die Verdächtigen zu verhören und dann alles zusammenzubringen, um den Fall zu lösen. Wenn es nur immer so einfach wäre!

Garcia war zum Detective befördert worden, kurz nachdem man das erste Opfer gefunden hatte, und er verfolgte den Fall damals so genau wie möglich. Als Mike Farloe verhaftet und in den Medien als Kruzifix-Killer präsentiert wurde, wunderte Garcia sich, wie jemand, der eine so geringe Intelligenz zu besitzen schien, es geschafft hatte, sich derart lange einer Festnahme zu entziehen. Garcia erinnerte sich, wie er zu dem Schluss gelangt war, dass die Polizisten, die mit dem Fall betraut waren, nicht besonders gut sein konnten.

Als er sich jetzt die Pinnwand mit den Fotos ansah, überkam Garcia eine Mischung aus Erregung und Angst. Nicht nur, dass er jetzt ein führender Ermittler in einem Serienmörder-Fall war, nun war er ein führender Ermittler im Kruzifix-Killer-Fall. Das hatte fast etwas Unwirkliches.

Hunter schaltete seinen Computer an und sah zu, wie der Bildschirm zum Leben erwachte. »Verkraftest du das alles, Grünschnabel?«, fragte er Garcia. Er spürte das Unbehagen seines Partners angesichts der Fotos.

»Was? O ja, klar«, erwiderte Garcia und wandte sich zu Hunter um. »Das ist eine ganz eigene Kategorie des Bösen.«

»Das kannst du laut sagen.«

»Was bringt jemanden dazu, solche Verbrechen zu begehen?«

»Also, wenn du die klassischen Motive für Mord willst, dann wären das: Eifersucht, Rache, Gier, Hass, Angst, Mitleid, Verzweiflung, Vertuschung eines anderen Verbrechens, Vermeidung von Schande oder einer Bloßstellung oder das Streben nach Macht.« Hunter schwieg einen Moment. »Was Serienmörder antreibt, sind Motive wie: andere zu manipulieren, zu beherrschen, zu kontrollieren, sexuelle Befriedigung oder schlicht und einfach Lust am Töten.«

»Dieser Killer scheint das Ganze zu genießen.«

»Stimmt. Es verschafft ihm eine Befriedigung, allerdings nicht sexueller Art. Ich würde sagen, er genießt es, zuzusehen, wie Menschen leiden.«

»Er?«, fragte Garcia gespannt.

»Die Art der Verbrechen legt den Schluss nahe, dass der Killer männlich ist.«

»Inwiefern?«

»Zunächst mal ist die überwiegende Mehrzahl von Serienmördern männlichen Geschlechts«, erklärte Hunter. »Weibliche Serienmörder töten fast immer aus finanziellen Motiven, für einen materiellen Gewinn. Das kommt zwar auch bei männlichen Serienkillern vor, ist aber eher selten. Dafür stehen bei Männern sexuelle Motive ganz oben auf der Liste. Forschungen haben außerdem ergeben, dass weibliche Serienkiller normalerweise Menschen töten, die ihnen nahestehen, also den Ehemann, Familienmitglieder oder Menschen, die von ihnen abhängig sind. Männliche Killer dagegen töten häufiger völlig Fremde. Des Weiteren töten Frauen eher leise, mit Gift oder auf andere unblutige Weise, z.B. durch Ersticken. Bei Männern dagegen zeigt sich eine größere Bereitschaft, den Prozess des Tötens mit Folter oder Verstümmelung zu verbinden. Wenn Frauen sadistische Morde begehen, dann meist in Zusammenarbeit mit einem Mann.«

»Unser Killer arbeitet aber allein«, schloss Garcia.

»Jedenfalls haben wir keinen anderweitigen Hinweis. Dann kommt der Aspekt der körperlichen Stärke hinzu. Für die meisten Kruzifix-Morde war ein gewisses Maß an Körperkraft notwendig, vor allem, wenn die Opfer an einen anderen Ort getragen werden mussten. Womit ich nicht sagen will, dass eine Frau dazu nicht in der Lage wäre, allerdings müsste sie ziemlich stark und fit sein. Wenn man all diese Überlegungen zusammennimmt, gelangt man zwangsläufig zu dem Schluss, dass der Killer männlich sein muss.«

Die beiden Detectives schwiegen eine Weile. Garcia wandte sich wieder zu den Fotos um. »Und was haben wir nun zu den bisherigen Opfern? Was für eine Verbindung gibt es?«, fragte er, begierig, mit der Arbeit anzufangen.

»Keine.«

»Wie bitte? Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, sagte Garcia kopfschüttelnd. »Du willst doch wohl nicht sagen, dass du und dein Team zwei Jahre an diesem Fall gearbeitet habt, ohne irgendeine Verbindung zwischen den Opfern herstellen zu können?«

»Doch. Genauso ist es.« Hunter stand auf und trat zu Garcia vor die Pinnwand. »Sieh dir die Fotos an. Was, würdest du sagen, ist die Altersspanne der Opfer?«

Garcias Blick wanderte von Bild zu Bild und ruhte auf jedem für einige Sekunden. »Ich bin nicht sicher, aber ich würde schätzen, so Anfang zwanzig bis Mitte sechzig.«

»Ziemlich weit, oder?«

»Schon, ja.«

»Und was, würdest du sagen, ist der dominierende Typ unter den Opfern – alt, jung, weiblich, männlich, schwarz, weiß, blond, braunhaarig, was auch immer?«

Erneut betrachtete Garcia sorgfältig die Fotos. »Alles, was du aufgezählt hast, den Fotos nach zu urteilen.«

»Wieder ein ziemlich breites Spektrum, nicht?«

Garcia zuckte mit den Schultern.

»Über ein weiteres Kriterium geben die Fotos keinen Aufschluss, nämlich über den sozialen Status der Opfer. All diese Menschen kamen aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus – arm, reich, Mittelschicht, religiös, nicht religiös, vollbeschäftigt und arbeitslos …«

»Ja, aber worauf willst du hinaus, Hunter?«

»Worauf ich hinauswill, ist, dass der Killer es nicht auf einen bestimmten Typus abgesehen hat. Bei jedem neuen Opfer haben wir in wochen- und monatelanger Kleinarbeit versucht, irgendeine Verbindung zu den anderen Opfern herzustellen. Arbeitsplatz, Vereine, Nachtclubs, Bars, Universität, Schule, Geburtsort, Freunde und Bekannte, Hobbys, Familienstammbaum und so weiter, immer wieder mit demselben Ergebnis: nichts. Keinerlei Gemeinsamkeiten. Wir fanden immer mal wieder irgendwas, was zwei der Opfer miteinander verband, jedoch nicht die anderen, nichts, was auf Dauer standhielt. Wenn wir bei zwei Opfern eine Kette zu entdecken glaubten, dann brach sie spätestens beim dritten und vierten wieder ab, so dass wir wieder ganz am Anfang standen. Aus unserer Sicht könnten diese Opfer rein zufällig ausgewählt worden sein. Der Killer könnte bei der Auswahl im Telefonbuch geblättert haben. Und wenn er ihnen nicht das Symbol eingeritzt hätte, könnten es sieben verschiedene Opfer von sieben verschiedenen Tätern sein – mit unserem neuen Opfer acht. Nichts ist identisch, abgesehen von dem Ausmaß an Folterqualen, das die Opfer erdulden mussten. Dieser Täter ist eine völlig neue Gattung von Serienkiller. Er ist einzigartig.«

»Die Verbindungen, die du zwischen einzelnen Opfern herstellen konntest – was für Verbindungen waren das?«

»Zwei der Opfer lebten in South Central L.A., nur ein paar Häuserblocks voneinander entfernt, doch die übrigen kamen aus der ganzen Stadt. Zwei andere Opfer, Nummer vier und Nummer sechs« – Hunter deutete auf die beiden Fotos an der Wand –, »gingen in dieselbe Highschool, allerdings nicht zur selben Zeit. Diese Gemeinsamkeiten waren eher zufälliger Natur, kein Durchbruch. Nichts Konkretes.«

»Gab es immer ein bestimmtes Zeitintervall zwischen den Morden?«

»Auch hier: völlig willkürlich«, sagte Hunter. »Die Abstände reichten von wenigen Tagen zwischen dem dritten und vierten Opfer bis hin zu Monaten. Und bis zu unserem jetzigen Opfer sogar ein Jahr.«

»Wie steht’s mit den Fundorten der Leichen?«, fragte Garcia.

»Hier drüben ist ein Stadtplan, auf dem sie eingezeichnet sind. Komm.« Hunter entfaltete einen großen Plan von Los Angeles, auf dem sieben zehncentstückgroße rote Kreise eingezeichnet waren. Neben jedem Kreis stand eine Ziffer.

»Das sind die Fundorte, chronologisch nummeriert.«

Garcia sah sich die Lage der Fundorte in Ruhe an. Die erste Leiche war in Santa Clarita gefunden worden, die zweite in Downtown Los Angeles, und die weiteren lagen über das gesamte Stadtgebiet verstreut. Garcia musste zugeben, dass es auf den ersten Blick ziemlich willkürlich aussah.

»Auch hier haben wir wieder alles versucht, verschiedene Sequenzen und Muster. Wir haben einen Mathematiker und einen Kartographen hinzugezogen. Das Problem ist: Wenn man eine Ansammlung willkürlicher Punkte lange genug anstarrt, dann geht es einem, wie wenn man die Wolken am Himmel anstarrt – irgendwann fängt man zwangsläufig an, Figuren oder Formen zu erkennen, nichts, was wirklich da wäre, nichts, was uns irgendwie weiterbringen könnte. Es ist bloß die eigene Phantasie, die einem einen Streich spielt.« Hunter setzte sich an seinen Schreibtisch, während Garcia noch immer die Karte betrachtete.

»Er muss irgendein Muster haben. Alle haben das.«

Hunter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du hast recht, gewöhnlich haben das alle, aber wie schon gesagt, der Kerl ist anders. Er hat keine zwei Opfer auf dieselbe Art getötet, er versucht jedes Mal irgendetwas Neues – als ob er experimentieren würde.« Hunter schwieg einen Augenblick und rieb sich die Augen. »Einen Menschen zu töten, selbst wenn es der soundsovielte Mord ist, ist nie einfach, egal wie viel Erfahrung jemand darin hat. In fünfundneunzig Prozent der Fälle ist der Mörder nervöser als das Opfer. Einige Killer bleiben bei ihrem modus operandi, einfach weil es so schon mal funktioniert hat und sie sich daher mit der Methode sicher fühlen. Manche entwickeln ihre Methode von Mal zu Mal weiter. Oder aber ein Täter stellt fest, dass eine bestimmte Methode nicht sehr effektiv war, nicht das, wonach er sucht. Vielleicht zu laut, vielleicht zu blutig, vielleicht zu schwer zu kontrollieren, was auch immer. Dann lernt der Killer daraus und versucht etwas Neues, das vielleicht besser taugt. So lange, bis er schließlich eine Methode gefunden hat, mit der er sich sicher fühlt.«

»Und bei der bleibt er dann«, schloss Garcia.

»Meistens, ja, aber nicht unbedingt.« Hunter schüttelte den Kopf.

Garcia schaute ihn fragend an.

»Serienkiller suchen für gewöhnlich nach einer Befriedigung … einer kranken Art der Befriedigung natürlich, aber trotzdem geht’s ihnen genau darum. Es könnte sexuelle Lust sein oder ein Gefühl von Macht, ein Gottgefühl, aber das ist noch nicht alles.«

»Der Akt des Tötens?« Garcias Stimme klang düster.

»Genau. Es ist wie mit Drogen. Am Anfang reicht schon eine kleine Dosis, um high zu werden, aber schon bald braucht man mehr und hangelt sich in immer kürzeren Abständen von Drogenrausch zu Drogenrausch. Im Fall eines Serienkillers bedeutet das, dass die Morde brutaler werden müssen, die Opfer müssen mehr leiden, um dem Killer die Befriedigung zu verschaffen, nach der er lechzt, und wie bei einer Droge gibt es auch hier üblicherweise eine kontinuierliche Steigerung.«

Garcia richtete den Blick erneut auf die Fotos. »Was ist hier die Steigerung? Sie wirken alle gleich brutal auf mich, eine Tat so monströs wie die andere.«

Hunter nickte nur.

»Es wirkt, als ob er sofort bis ans Ende der Skala gesprungen wäre. Was zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Steigerung der Gewalt bereits früher in seinem Leben stattgefunden haben muss«, schloss Garcia.

»Stimmt genau. Du bist fix, Grünschnabel, aber du kannst das alles auch in den Akten nachlesen«, sagte Hunter und nickte mit dem Kopf in Richtung der beiden Aktenstöße auf den Schreibtischen.

»Kein einziger dieser Morde ging schnell«, stellte Garcia fest. Er hatte sich wieder zur Pinnwand gedreht.

»Korrekt. Der Kerl nimmt sich richtig Zeit für seine Opfer. Er genießt es, ihnen zuzusehen, wie sie leiden. Er kostet ihre Qualen aus. Daraus zieht er seine Befriedigung. Er übereilt nichts, gerät nicht in Panik, und genau das ist sein größter Vorteil uns gegenüber.«

»Leute, die in Panik geraten, machen Fehler, vergessen irgendwas, lassen etwas liegen«, führte Garcia den Gedanken aus.

»Exakt.«

»Aber unser Killer nicht?«

»Bis jetzt nicht.«

»Was ist mit diesem Symbol? Was wissen wir darüber?«, fragte Garcia und deutete auf ein Foto, das das eingeritzte Doppelkreuz im Nacken eines der Opfer zeigte.

»Jetzt wird’s kompliziert.« Hunters Mund straffte sich. »Wir haben einen Fachmann für Symbolik dazu befragt, als das erste Opfer gefunden wurde.«

»Und?«

»Das Symbol ist anscheinend eine Rückkehr zur ursprünglichen Form des Doppelkreuzes, auch Lothringer Kreuz genannt.«

»Wieso ursprüngliche Form?«

»In seiner ursprünglichen Form bestand das Doppelkreuz aus einem längeren vertikalen Balken, gekreuzt von zwei kürzeren horizontalen Balken, die gleich lang waren. Der untere und obere Querbalken waren jeweils gleich weit vom jeweiligen Ende des Längsbalkens entfernt.«

»Warum ›waren‹?«

»Weil sich mit der Zeit die Form dieses Kreuzes verändert hat. Der untere Querbalken wurde etwas länger als der obere, und beide Querbalken sind jetzt etwas weiter nach oben verschoben.«

Garcia richtete den Blick wieder auf die Fotos. »Dann ist das also die alte Version?«

Hunter nickte. »Man nimmt an, dass diese Version auf heidnische Zeiten zurückgeht. Jedenfalls glauben Historiker, dass es da erstmals benutzt wurde, allerdings als Symbol für ein zweischneidiges Schwert.«

»Okay, lassen wir die Historiker mal beiseite. Was bedeutet das alles?« Garcia machte eine ungeduldige Geste, um Hunters Vortrag abzukürzen.

»Psychologisch betrachtet, steht das Symbol, so nimmt man jedenfalls an, für einen Menschen mit einem Doppelleben – ein zweischneidiges Schwert, also eines mit zwei Klingen, klar? Darum geht es also, um eine Dualität, Gut und Böse, Weiß und Schwarz, alles in einer Gestalt. Jemand, der zwei völlig gegensätzliche Seiten hat.«

»Also zum Beispiel jemand, der tagsüber ein unbescholtener Bürger ist und nachts zum psychopathischen Killer wird?«

»Genau. Diese Person könnte ein angesehenes Mitglied in der Gemeinde sein, Politiker oder sogar Priester, der heute gute Taten vollbringt und morgen jemandem die Kehle aufschlitzt.«

»Aber das ist doch ein klassischer Fall von Schizophrenie.«

»Nein, ganz und gar nicht«, widersprach Hunter. »Das ist ein gängiger Irrtum. Schizophrene haben keine geteilte Persönlichkeit, sondern leiden unter einer Denkund Wahrnehmungsstörung, die zu Halluzinationen, verwirrtem Denken und abnormalen sprachlichen Äußerungen oder Verhaltensweisen führt. Normalerweise stellen sie keine Gefahr für ihre Umwelt dar. Woran du denkst, sind Leute mit multipler Persönlichkeitsstörung. Diese Personen besitzen mehrere unterschiedliche, voneinander getrennte Identitäten oder Persönlichkeiten.«

»Vielen Dank, Professor Hunter«, sagte Garcia mit ironischem Unterton.

»Aber ich glaube nicht, dass unser Killer unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet.«

»Und warum nicht?«, fragte Garcia gespannt.

»Leute mit dieser Störung haben keinerlei Kontrolle darüber, wann sie in eine andere Persönlichkeit verfallen. Unser Killer dagegen ist sich seines Tuns voll und ganz bewusst. Er findet Gefallen daran. Er kämpft nicht mit sich selbst.«

Garcia dachte eine Weile über diesen Einwand nach. »Und wie steht es mit einem religiösen Hintergrund? Für mich sieht das Zeichen wie ein religiöses Symbol aus.«

»Also, in der Hinsicht wird es noch komplizierter«, antwortete Hunter, während er sich die geschlossenen Augenlider massierte. »Es gibt zwei wissenschaftliche Theorien dazu. Nach der einen ist das Doppelkreuz das älteste Symbol für den Antichristen.«

»Was? Ich dachte, das wäre das umgedrehte Kreuz.«

»So kennen wir es heute. Aber man nimmt an, dass die frühen Propheten das Doppelkreuz als Symbol verwendeten, um das Ende der Welt vorherzusagen, wenn die Ausgeburt des Bösen über die Welt kommen würde.«

Garcia warf Hunter einen ungläubigen Blick zu. »Also bitte, du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass wir ein gehörntes Wesen mit einer 666 auf der Stirn suchen, oder?«

»Würde mich nicht überraschen«, sagte Hunter, während sein Blick wieder zu den Fotos wanderte. »Jedenfalls«, fuhr er fort, »in diesen Prophezeiungen war davon die Rede, dass diese Verkörperung des Bösen das Symbol des absolut Bösen mit sich brächte. Ein Symbol, das die Umkehrung von Gott bedeutet.«

Garcia blickte erneut auf die Fotos, und auf seinem Gesicht dämmerte eine Erkenntnis. »Heilige Scheiße. Zwei Kreuze in einem«, stellte er fest. »Eins richtig rum, das andere auf dem Kopf?«

»Genau. Das Symbol Jesu mit seiner eigenen negativen Spiegelung. Der Antichrist.«

»Das heißt, wir könnten es hier tatsächlich mit einem religiösen Fanatiker zu tun haben?«

»Mit einem antireligiösen Fanatiker«, korrigierte Hunter.

Eine Weile herrschte Stille. »Und wie lautet die zweite?«

»Wie bitte?«

»Die zweite Theorie? Du hast eben gesagt, es gäbe zwei Theorien hinsichtlich der religiösen Bedeutung des Symbols.«

»Die musst du dir auf der Zunge zergehen lassen: Nach ihr glaubt der Killer, er wäre die Wiederkunft Christi.«

»Wie bitte? Soll das ein Witz sein?«

»Ich wünschte, es wäre einer. Einige Wissenschaftler sehen in dem frühen Doppelkreuz nicht etwa ein normales und ein auf dem Kopf stehendes Kreuz, sondern zwei übereinandergelegte Kreuze – ein Bild für den zweiten Sohn Gottes. Die Wiederkehr Christi.«

»Aber diese zwei Theorien widersprechen sich komplett. Nach der einen wäre der Killer der Antichrist und nach der anderen der wiederkehrende Christus.«

»Stimmt. Aber vergiss nicht, es sind eben nur Theorien, Forschermeinungen darüber, was das Doppelkreuz symbolisieren könnte. Das heißt noch lange nicht, dass eins davon auf unseren Killer zutrifft. Genauso gut könnte es sein, dass der Kerl sich das Symbol nur ausgesucht hat, weil es ihm einfach gefällt.«

»Wird es von irgendwelchen religiösen Gruppen oder Sekten benutzt?«

»Die neuere Version mit den beiden unterschiedlich langen, nach oben gerückten Querbalken wurde schon von diversen Gruppen als Emblem benutzt, mit und ohne religiösen Hintergrund. Sogar die American Lung Association hat es in ihrem Logo.«

»Und die alte Version? Die der Killer benutzt?«

»Da muss man über hundert Jahre zurückgehen, um überhaupt etwas zu finden. Allerdings gibt es auch da nichts, was für unseren Fall relevant sein könnte.«

»Was ist dein Bauchgefühl dazu?«

»Bauchgefühle spielen bei dem Fall keine Rolle. Das ist jedenfalls mein bisheriges Resümee.«

»Komm schon, mir zuliebe. Nach allem, was ich über dich gehört habe, besitzt du doch eine phänomenale Intuition«, sagte Garcia.

»Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher. Dieser Killer hat eine Reihe klassischer Verhaltensstörungen gezeigt, wie sie für Serienkiller typisch sind. Einige Dinge sind wie aus dem Lehrbuch, fast schon zu perfekt. Als wollte er unbedingt, dass wir ihn für einen typischen Serienkiller halten.« Hunter rieb sich einen Moment lang mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel. »Manchmal glaube ich, wir haben es mit einem religiös motivierten Spinner zu tun, dann wieder kommt mir der Kruzifix-Killer vor wie ein genialer Verbrecher, der sich ein Spiel mit uns liefert und immer die richtigen Fäden zieht, um uns in die falsche Richtung zu schicken. Ein Spiel, bei dem nur er die Regeln kennt, die er obendrein verändern kann, wann immer ihm der Sinn danach steht.« Hunter holte tief Luft und hielt sie ein paar Sekunden lang an. »Jedenfalls ist er hochintelligent und geht ebenso methodisch wie eiskalt vor. Er gerät nie in Panik. Aber wir müssen uns jetzt auf das neue Opfer konzentrieren. Vielleicht führt die Frau uns zu ihm.«

Garcia nickte. »Zuerst mal sollten wir das Foto an möglichst viele Model- und Schauspielagenturen faxen. Wenn wir ihre Identität kennen würden, wäre das schon mal ein guter Anfang.«

»Könnte sein. Aber zuerst möchte ich noch etwas anderes versuchen.«

»Und das wäre?«

»Weißt du noch, was Dr. Winston über das Opfer gesagt hat?«

»Er hat einiges über das Opfer gesagt.«

»Das mit dem Dauergast im Fitnessstudio.«

Garcia zog anerkennend die Brauen hoch. »Guter Gedanke.«

»Das Problem ist nur, dass es über tausend Fitnessstudios in dieser Stadt gibt.«

»Im Ernst?«, fragte Garcia überrascht.

»O ja, wir sind hier in L.A., der Stadt, in der man schon toll aussehen muss, wenn man sich um einen Kellner-Job bewirbt. Ohne Fitness läuft hier gar nichts.«

»In einem Land, in dem die Fettleibigkeitsrate jede Statistik sprengt?«

»Wie gesagt, das ist L.A., die Stadt der schönen, fitten Menschen.« Hunter spannte mit einem ironischen Grinsen seinen Bizeps an.

»Ja klar, in deinen kühnsten Träumen.«

»Wir sollten zumindest ein paar der größeren, bekannteren Studios probieren«, schlug Hunter vor und dachte kurz nach. »Dr. Winston meinte doch, dass sie teure Kosmetik verwendet. Also hat sie sich ihr Aussehen etwas kosten lassen.«

»Und mit so einem Körper wollte sie bestimmt gesehen werden«, warf Garcia ein.

»Denke ich auch.«

»Und wenn man seinen Körper zeigen will, in welches Studio geht man dann? Du bist doch dafür der Experte!«, fragte Garcia spöttisch.

»Nun, ich würde es bei Gold’s Gym versuchen. Davon gibt’s zwei Filialen in Hollywood, in denen eine Menge berühmter und angesagter Leute verkehren. Und dann gibt’s noch die berühmte Gold’s Gym von Arnold Schwarzenegger in Venice Beach.«

»Dann sollten wir uns die mal vornehmen.«

»Druck mir doch bitte das Computerbild aus, dann machen wir einen Besuch bei den Bodybuildern.«

Als Hunter die Bürotür erreichte, klingelte sein Handy. »Ja, Detective Hunter hier.«

»Hallo, Robert, hast du mich vermisst?«, fragte eine roboterhafte Stimme.

Der Kruzifix-Killer
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