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Freitagabends war im Vanguard Club immer viel los, doch an diesem Abend ging es noch turbulenter zu als sonst. An diesem Abend gastierte im Vanguard der berühmte holländische DJ Tiësto mit seinem einzigen Auftritt in Los Angeles.
Der Club war bis zum letzten Platz gefüllt. Die Hauptshow sollte um Mitternacht beginnen, doch schon jetzt war die Stimmung bombastisch.
Dieser Abend war perfekt für das, was er vorhatte. Je mehr Leute um ihn herum waren, umso weniger würde jemand Notiz von ihm nehmen.
Seit sechs Tagen hatte er sich einen Bart wachsen lassen, gerade genug, um verändert auszusehen. Vervollständigt wurde seine Verkleidung durch eine trendige Baseballkappe, eine professionelle, schwarze Perücke und ein farbiges Designerhemd. Dieses eher jugendliche Styling war weit entfernt von seinem üblichen Business-Outfit aus italienischem Designeranzug und ledernem Aktenkoffer. Doch heute Abend war er nicht als Geschäftsmann hier.
Heute Abend hatte er nur eines im Sinn, nämlich etwas abzuliefern. Er besaß es seit sechs Tagen, und genauso lange überlegte er schon, was er damit anfangen sollte. Geschäftsleute stehen nicht unbedingt in dem Ruf, es mit der Ehrlichkeit allzu genau zu nehmen, und er selbst war weiß Gott noch nie der ehrlichste Geschäftsmann gewesen, aber manche Dinge waren einfach inakzeptabel, selbst für ihn. Er musste irgendetwas tun.
Er stand in der Ecke des Clubs, die genau entgegengesetzt zur V.I.P.-Lounge lag, und beobachtete die pulsierende Menge. Seine Augen surften über die Tanzfläche, hielten Ausschau nach Leuten, die ihn eventuell erkennen könnten – doch bis jetzt war ihm niemand aufgefallen. Er schob die Hand in die Hosentasche und berührte den Gegenstand darin. Ein eisiges Frösteln lief ihm sofort vom unteren Ansatz der Wirbelsäule bis in den Nacken hinauf. Rasch zog er die Hand wieder aus der Tasche.
»Hey, Mann, brauchst du irgendwas?«
Ein junger, dunkelhaariger Typ, kaum älter als dreiundzwanzig, stand plötzlich vor ihm. Er kniff die Augen zusammen, als könnte er so besser sehen. »Bitte?«
»Du weißt schon, Mann … das is’n Rave … Brauchst du’n Trip?«
»O nein, ich hab alles«, erwiderte er, als er endlich kapierte, was der Typ von ihm wollte.
»Du musst dir jetzt was besorgen, bevor die Show losgeht«, sagte der Junge und nickte mit dem Kopf in Richtung Bühne, wobei seine Haare herumflogen wie in einer Shampoowerbung.
»Falls du’s dir noch anders überlegst, ich bin hier irgendwo.« Der junge Mann beschrieb mit dem Finger einen kleinen Kreis in der Luft und ging weiter.
Er trank einen Schluck von seinem Jack Daniels mit Cola und kratzte sich den juckenden Bart.
Die Musik hörte auf, und die Licht- und Lasershow über der Tanzfläche schaltete auf Overdrive. Weißer Rauch kam von der Decke und hüllte den Saal in farbige Nebelschwaden. Tosender Beifall, Geschrei und Gekreische setzten ein. Man war bereit für den Höhepunkt des Abends.
Das war der Augenblick, auf den er gewartet hatte. Jetzt waren aller Augen auf die Bühne gerichtet, niemand würde bemerken, wenn jemand ein kleines Päckchen über die Bartheke fallen ließ. Er ließ seinen Drink stehen und drängte sich durch die durstigen Kunden hindurch bis ans hinterste rechte Ende der nächstgelegenen Bar, ganz an die Wand. Selbst die Barkeeper hatten für ein paar Sekunden mit dem Bedienen aufgehört.
»Ladies and Gentlemen, es ist so weit. Schnüren Sie Ihre Tanzschuhe und machen Sie sich bereit zum Abtanzen. Der Vanguard Club präsentiert, exklusiv bei seinem einzigen Auftritt in Los Angeles, einen der weltweit größten Namen der House-Musik … Tiësto.« Die Menge tobte. Die farbigen Laser richteten sich auf die Bühne.
Rasch zog er das kleine, viereckige Päckchen aus der Tasche, beugte sich über die Theke und ließ es auf der anderen Seite herunterfallen. Im nächsten Augenblick drängte er sich bereits wieder durch die Menge davon, erleichtert, seine Last losgeworden zu sein. Er war sich sicher, dass ihn niemand beobachtet hatte.
Eine Viertelstunde später fiel dem zweiten Barkeeper das am Boden liegende Päckchen auf. Er war ans Ende der Bar geeilt, um einen besonders lautstarken Kunden zu bedienen, als er mit dem Fuß auf etwas trat. Nach unten blickend entdeckte er das Päckchen, bückte sich und hob es auf.
»Yo, Pietro!«, rief er seinem Kollegen zu.
Pietro bediente die zwei hübschen jungen Frauen zu Ende, die vor ihm an der Bar standen, und kam dann zu seinem Kollegen.
»Gehört das dir?«
Pietro nahm das kleine Päckchen entgegen und schaute es neugierig an. »Woher hast du das?«
»Ich hab’s gerade eben auf dem Boden gefunden, genau hier.« Er deutete auf die Stelle am Boden.
»Hast du gesehen, wer es da hingeworfen hat?«
»Nein, Mann. Es kann auch schon eine Weile da gelegen haben. Ich hab’s nur bemerkt, weil ich versehentlich draufgetreten bin.«
Pietro betrachtete das sorgfältig umwickelte Päckchen genauer. Er konnte zwar nicht sagen, was es war, doch die Aufschrift ließ keinen Zweifel darüber, für wen es bestimmt war: »An D-King«.