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Hunter war neununddreißig, doch sein jugendliches Gesicht und sein durchtrainierter Körper ließen ihn wie einen Mann Anfang dreißig wirken. Er war etwas über eins achtzig groß, breitschultrig, hatte hohe Wangenknochen und kurze blonde Haare. Sein Outfit beschränkte sich in der Regel auf Jeans, T-Shirt und eine ausgebeulte Lederjacke. In jeder seiner Bewegungen lag eine geballte, konzentrierte Körperkraft, doch das Fesselndste an ihm waren seine durchdringend hellblauen Augen: Aus ihnen sprachen Intelligenz und absolute Entschlossenheit.

Hunter war als einziges Kind eines Ehepaars aus der Arbeiterschicht in Compton aufgewachsen, einem sozial schwachen Viertel im Süden von Los Angeles. Als er sieben war, verlor seine Mutter den Kampf gegen den Krebs. Sein Vater heiratete nicht wieder und musste zwei Jobs annehmen, um alleine mit einem Kind über die Runden zu kommen.

Hunter machte schon als Kind auf sich aufmerksam – es war offensichtlich, dass er anders war als seine Altersgenossen. Er hatte eine schnellere Auffassungsgabe als die meisten um ihn herum. Die Schule langweilte und frustrierte ihn. Den Sechstklässler-Stoff bewältigte er in gerade mal zwei Monaten und las sich danach, einfach um sich zu beschäftigen, den Stoff der siebten, achten und neunten Klasse an. Mr Fratelli, der Schuldirektor, war so beeindruckt von dem begabten Jungen, dass er ihm einen Termin an der Mirman School in Mulholland Drive verschaffte, einer Schule für Hochbegabte im Nordwesten von Los Angeles. Dr. Tilby, der Schulpsychologe der Mirman School, ließ Hunter ein ganzes Arsenal von Tests absolvieren: Hunter bestand sie alle, mit einem Ergebnis »jenseits der Skala«. Eine Woche später wechselte Hunter in die achte Klasse der Mirman School. Da war er gerade mal zwölf.

Mit vierzehn arbeitete er sich bereits mühelos durch den Highschool-Lehrplan in Englisch, Geschichte, Biologie und Chemie. Vier Jahre Highschool waren in zwei Schuljahren zusammengefasst, und so hatte Hunter bereits mit fünfzehn seinen Abschluss mit Bestnoten absolviert. Mit den Empfehlungsschreiben seiner sämtlichen Lehrer in der Tasche wurde Hunter als Ausnahmestudent mit Stipendium an der Stanford University angenommen – Amerikas Top-Universität für Psychologie zu der Zeit.

Eigentlich war Hunter gutaussehend, doch so jung und spindeldürr, wie er war, und dazu noch mit seinem eigenwilligen Kleidungsstil hatte er wenig Erfolg bei Mädchen und war ein bevorzugtes Opfer für die Schikanen tyrannischer Mitschüler. Er hatte weder den Körperbau noch eine besondere Begabung für Sport und verbrachte seine Freizeit am liebsten in der Bibliothek. Er las mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit, die Bücher wurden von ihm regelrecht verschlungen. Die Welt der Kriminologie faszinierte ihn ebenso wie die Psyche der sogenannten »Bösen«. Mühelos hielt er sein gesamtes Studium hindurch einen Top-Notendurchschnitt. Doch die ständigen Hänseleien und das Image der »halben Portion« nervten ihn. Also suchte er sich ein Fitnessstudio und nahm an Kampfsport-Kursen teil. Zu seiner eigenen Überraschung genoss er die physische Anstrengung des Trainings. Er trainierte wie ein Besessener, und nach einem Jahr waren die Erfolge nicht mehr zu übersehen: Er hatte massiv Muskulatur aufgebaut. Aus der »halben Portion« war ein Athlet geworden. Es dauerte nicht einmal zwei Jahre, bis er seinen schwarzen Gürtel in Karate hatte. Die Schikanen hörten auf, und plötzlich rissen sich die Mädchen um ihn.

Mit neunzehn hatte Hunter seinen Universitätsabschluss in Psychologie, mit dreiundzwanzig seinen Doktor in Kriminal- und Bio-Psychologie. Seine Doktorarbeit mit dem Titel »Eine vertiefende Studie zur Psychologie kriminellen Verhaltens« war als Buch erschienen und inzwischen zur Pflichtlektüre beim Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen beim FBI avanciert.

Alles lief bestens, doch zwei Wochen nachdem Hunter seinen Doktortitel erhalten hatte, brach seine Welt in Scherben. In den vorausgegangenen dreieinhalb Jahren hatte sein Vater beim Sicherheitsdienst einer Filiale der Bank of America am Avalon Boulevard gearbeitet. Bei einem Bankraub, der zu einer wilden Schießerei eskalierte, traf ihn eine Kugel in die Brust. Zwölf Wochen lang rang er im Koma mit dem Tod. Hunter wich keinen Augenblick von seiner Seite.

Diese zwölf Wochen, in denen er still am Bett seines Vaters saß und mit ansehen musste, wie dieser mehr und mehr aus dem Leben schwand, veränderten Hunter. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Rache. Als die Polizei ihm mitteilte, dass sie keinen Verdächtigen hatten, war Hunter klar, dass der Mörder seines Vaters nie gefasst würde. Eine abgrundtiefe Hilflosigkeit überkam ihn, und das Gefühl widerte ihn an. Nach der Beerdigung seines Vaters traf er eine Entscheidung. Er wollte nicht mehr nur die Psyche von Kriminellen studieren. Er wollte sie selbst jagen.

Also ging er zur Polizei, wo er sich rasch einen Namen machte und mit Lichtgeschwindigkeit durch die Hierarchieebenen aufstieg. Mit gerade mal sechsundzwanzig Jahren brachte er es bereits zum Detective beim Los Angeles Police Department. Bald schon rekrutierte ihn die Abteilung für Mord und bewaffneten Raubüberfall, wo er einem erfahrenen Detective, Scott Wilson, an die Seite gestellt wurde. Sie bildeten ein Team des Morddezernats 1, Zuständigkeit: Serienkiller und besonders schwere Morde und Gewaltverbrechen. All die Sachen, die aufwendige Untersuchungen erforderten.

Wilson war damals neununddreißig, ein Schwergewicht von knapp ein Meter neunzig Körpergröße bei 130 Kilo Fett und Muskelmasse. Das auffallendste Merkmal an ihm war eine leuchtende Narbe auf seinem kahlen Schädel. Sein bedrohliches Aussehen kam ihm natürlich in seinem Beruf nur gelegen. Wer legte sich schon mit einem Polizei-Detective an, der aussah wie ein übellauniger Shrek?

Wilson war bereits seit achtzehn Jahren bei der Polizei, die letzten neun davon als Detective beim Morddezernat. Zuerst war er alles andere als angetan von der Idee, mit einem jungen, unerfahrenen Partner zusammenzuarbeiten, doch Hunter lernte schnell, und seine scharfsinnigen Analysen und Schlussfolgerungen waren immer wieder erstaunlich. Mit jedem Fall, den sie zusammen lösten, wuchs Wilsons Respekt vor Hunter. Zwischen den beiden entwickelte sich eine tiefe Freundschaft auch jenseits der Arbeit.

Der Stadt Los Angeles mangelte es noch nie an schlimmen und brutalen Morden, doch an Detectives, um sie aufzuklären, sehr wohl. Wilson und Hunter arbeiteten nicht selten an bis zu sechs Fällen gleichzeitig. Der Druck störte sie nicht, im Gegenteil, er beflügelte sie. Doch dann kostete sie ein Mordfall um einen Hollywoodstar beinahe ihre Dienstmarken und ihre Freundschaft.

Bei dem Fall ging es um John Spencer, einen berühmten Plattenproduzenten, der mit drei aufeinanderfolgenden Rock-Alben einen Nummer-eins-Hit schaffte und so ein Vermögen gemacht hatte, und seine Frau Linda. John und Linda hatten sich bei einer After-Show-Party kennengelernt, es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und drei Monate später waren sie verheiratet. John hatte ein herrliches Haus in Beverly Hills gekauft, ihre Ehe wirkte wie aus dem Bilderbuch, alles schien perfekt. Die beiden luden gern Gäste ein, und mindestens zweimal im Monat gaben sie eine extravagante Party an ihrem Swimmingpool, der die Form eines Konzertflügels hatte. Doch das Märchen hielt nicht lange. Ihre Ehe war kaum ein Jahr alt, als die Liebe erkaltete und mit ihr die Feierlaune. Drogen und Alkohol bestimmten mehr und mehr Johns Leben, bis irgendwann die Streitereien an der Tagesordnung waren, nicht nur privat, sondern auch in aller Öffentlichkeit.

Nach einer Augustnacht, in der es wieder einmal zu einem heftigen Streit gekommen war, wurde Lindas Leiche in der Küche ihres Hauses gefunden. Sie war mit einem einzigen Revolverschuss, Kaliber .38, in den Hinterkopf regelrecht hingerichtet worden. Es gab weder Spuren eines Kampfes oder Einbruchs noch Kratzer oder Blutergüsse an Lindas Händen und Armen, die auf eine Verteidigung hingewiesen hätten. Die Spuren am Tatort und die Tatsache, dass John Spencer nach dem Streit verschwunden und seither nicht wieder aufgetaucht war, machten ihn zum einzigen Tatverdächtigen. Hunter und Wilson wurden mit dem Fall betraut.

John Spencer wurde einige Tage später gefasst: Er war betrunken und vollgepumpt mit Heroin. Im Verhör stritt er keineswegs ab, in jener Nacht wieder heftig mit seiner Frau gestritten zu haben. Er gab offen zu, dass ihre Ehe zuletzt nicht gut gelaufen war. Er erinnerte sich an den Streit und daran, das Haus aufgebracht und betrunken verlassen zu haben, doch was er in den paar Tagen bis zu seiner Verhaftung getrieben hatte, wusste er nicht mehr. Er hatte kein Alibi. Doch er behauptete unerschütterlich, dass er Linda nie etwas angetan hätte. Schließlich liebe er sie noch immer über alles.

Mordfälle, in die Hollywoodstars involviert sind, erregen immer eine Menge Publicity, und auch in diesem Fall hatten die Medien im Nu ihre eigene Version der Geschichte kreiert: »BERÜHMTER PLATTENPRODUZENT ERMORDET IN TOBSUCHTSANFALL SEINE SCHÖNE EHEFRAU.« Sogar der Bürgermeister verlangte lautstark nach einer raschen Aufklärung des Falls.

Die Untersuchungen ergaben, dass John tatsächlich einen Revolver Kaliber .38 besaß, der jedoch nie gefunden wurde. Auch mangelte es nicht an Zeugen, die die ständigen, unverhohlenen Streitereien zwischen John und Linda bestätigen konnten. Meist sei John derjenige gewesen, der laut herumschrie, während Linda einfach nur weinte. John Spencer ein aufbrausendes Temperament zu attestieren war praktisch ein Kinderspiel.

Wilson war von Spencers Schuld überzeugt, Hunter hingegen war sich sicher, dass ihnen der Falsche ins Netz gegangen war. In Hunters Augen war John nur ein verängstigter Junge, der zu schnell reich geworden war, und mit Ruhm und Reichtum kamen die Drogen. Er hatte keine gewalttätige Vorgeschichte. In der Schule war er nie besonders aufgefallen – ein normaler, leicht versponnener Jugendlicher, der in zerrissenen Bluejeans herumlief, einen komischen Haarschnitt zur Schau trug und permanent Heavy Metal hörte. Hunter redete wiederholt auf Wilson ein.

»Na gut, er hat sich mit seiner Frau gestritten. Zeig mir eine Ehe, in der es keinen Streit gibt«, argumentierte Hunter. »Aber er hat Linda bei keiner einzigen dieser lautstarken Auseinandersetzungen geschlagen oder verletzt.«

»Die Ballistik hat eindeutig bewiesen, dass die Kugel, die Linda getötet hat, aus dem Munitionsvorrat in Johns Schreibtischschublade stammt«, rief Wilson.

»Das beweist noch lange nicht, dass er auch den Abzug gedrückt hat.«

»Sämtliche Fasern am Opfer stammen von den Kleidern, die Spencer in der Nacht trug, als er gefunden wurde. Frag irgendwen, der die beiden kannte, und er wird dir bestätigen, dass Spencer ein aufbrausendes Temperament hatte, dass er sie ständig anschrie. Du bist der Psychologe. Du weißt doch, wie solche Sachen eskalieren.«

»Genau, sie eskalieren. Und zwar allmählich. Aber nicht vom bloßen Anschreien bis zu einem gezielten Schuss in den Hinterkopf in einem einzigen Schritt.«

»Hör zu, Robert. Ich habe deine Einschätzungen eines Verdächtigen immer respektiert. Sie haben uns viele Male in die richtige Richtung geführt, aber ich vertraue auch meinem Instinkt. Und mein Instinkt sagt mir, dass du diesmal falschliegst.«

»Der Mann hat eine Chance verdient. Wir sollten mit der Untersuchung noch weitermachen. Vielleicht haben wir irgendwas übersehen.«

»Wir können nicht weitermachen.« Wilson lachte. »Diese Entscheidung liegt nicht bei uns. Das weißt du ganz genau. Wir haben unseren Teil erledigt. Wir haben die Beweise gesichert und den Verdächtigen festgenommen, hinter dem wir her waren. Überlass den Rest seinen Anwälten.«

Hunter wusste, was einen Mörder ausmachte, und John Spencer passte einfach nicht ins Bild. Doch seine Meinung allein konnte nichts ausrichten. Wilson hatte recht. Es lag nicht mehr in ihren Händen. Sie waren bereits mit fünf weiteren Fällen im Rückstand, und Captain Bolter drohte Hunter, ihn zu suspendieren, wenn er noch mehr Zeit an einen Fall verschwendete, der offiziell abgeschlossen war.

Die Geschworenen brauchten nicht einmal drei Stunden, um sich auf ein »Schuldig im Sinne der Anklage« zu einigen, so wurde John Spencer zu lebenslanger Haft verurteilt. Und genau das bekam er: Achtundzwanzig Tage nach seiner Verurteilung erhängte sich John mit Hilfe seines Bettlakens in seiner Zelle. Neben ihm fand man eine Notiz: Linda, bald bin ich bei dir. Kein Streit mehr, versprochen.

Zweiundzwanzig Tage nach John Spencers Selbstmord wurde der Pool-Reiniger der Spencers in Utah in seinem Wagen angehalten. Darin fand man Johns Kaliber-.38-Revolver sowie eine Auswahl an Schmuck und Wäsche, die Linda Spencer gehört hatten. Forensische Untersuchungen erbrachten, dass die Kugel, die Linda getötet hatte, aus ebendiesem Revolver abgefeuert worden war. Der Pool-Reiniger gestand wenig später den Mord an ihr.

Hunter und Wilson gerieten unter heftigen Beschuss seitens der Medien, des Polizeichefs, der internen Ermittler und des Bürgermeisters. Man warf ihnen Nachlässigkeit und unterlassene Sorgfalt bei einer Untersuchung vor. Wäre Captain Bolter nicht für sie eingetreten und hätte einen Teil der Schuld auf sich genommen, hätten sie ihre Dienstmarken abgeben können. Hunter verzieh es sich nie, dass er damals nicht hartnäckig geblieben war, und seine Freundschaft mit Wilson hatte einen schweren Knacks erlitten. All das war sechs Jahre her.

Der Kruzifix-Killer
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