17

 

Chris Melrose arbeitete seit drei Jahren beim Rechtsmedizinischen Institut in Los Angeles. Schon früh hatte er einen Hang zum Morbiden entwickelt, ihn faszinierte alles, was mit dem Tod zu tun hatte. Eigentlich hätte er Forensiker werden wollen, doch angesichts seiner mageren Schulnoten war ein Studienplatz an der Universität utopisch gewesen.

So fing er zunächst als Hilfsarbeiter in einem Leichenschauhaus an. Zu seinen Aufgaben gehörten sämtliche anfallenden Arbeiten, von Beerdigungsvorbereitungen bis zum Präparieren von Särgen und Waschen und Ankleiden von Leichen. Doch das war nicht das, was er sich vorgestellt, wovon er immer geträumt hatte. Chris wollte die blutverschmierten Kleider, die Edelstahltische, den stechenden, elektrisierenden Geruch des Todes. Er wollte mit Leichen im Rohzustand arbeiten, bevor sie gesäubert und für die Beerdigung hergerichtet wurden. Nachdem er sich auf fast jeden einfachen Job der rechtsmedizinischen Einrichtungen in Los Angeles beworben hatte, erhielt er endlich eine Anstellung als Laborreinigungskraft. Er hatte die Obduktionsräume zu reinigen und dafür zu sorgen, dass die nötigen Instrumente sauber und gebrauchsfertig waren; und er transportierte die Leichen vom Kühlraum zu den Labors und zurück. Den Ärzten und Sektionsassistenten des Instituts war noch nie jemand begegnet, der diese einfachen Arbeiten mit solchem Stolz verrichtete. So hatte er bei allen einen Stein im Brett. Am meisten freute er sich, wenn er bei einer Autopsie zusehen durfte. Keiner der Mediziner hatte je etwas dagegen.

Chris’ Nachtschicht dauerte von halb acht abends bis halb acht morgens. Seine erste Pause machte er immer kurz vor Mitternacht. Dann zündete er sich eine Zigarette an und aß ein Sandwich mit Banane, Erdnussbutter und Honig.

Chris zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, schnippte die Kippe in die Luft und folgte mit den Augen dem gelben Bogen, den der Funke in der Nacht beschrieb. Anschließend erhob er sich von seiner Bank, faltete seine leere Sandwichtüte zusammen und machte sich auf den Rückweg über den Hof zum Institutsgebäude. Plötzlich packte ihn eine kalte Hand an der Schulter.

»Hallo, Chris.«

»Himmel!« Chris fuhr erschrocken herum. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. »Bist du verrückt? Du hast mir einen Höllenschrecken eingejagt.«

Mark Culhane schenkte Chris ein eingeübtes, öliges Lächeln.

»Wenn ich eine Knarre hätte, dann könntest du jetzt tot sein. Du kannst dich doch nicht einfach so anschleichen! Irgendwann passiert dir mal was«, sagte Chris. Er hatte sich die Hand auf die Brust gelegt und spürte seinen pochenden Herzschlag.

»Ich bin nun mal Detective. Mich anzuschleichen macht mir Spaß«, sagte Culhane grinsend. »Und außerdem, wieso solltest ausgerechnet du eine Knarre haben? Sind doch sowieso schon alle tot, mit denen du zu tun hast.«

»Heutzutage trägt doch jeder ’ne Waffe. Wir sind hier schließlich in L.A. Aber … du warst eine Ewigkeit nicht hier. Was zum Teufel willst du?«

Chris war Anfang dreißig. Er hatte glattes braunes Haar, das er ziemlich kurz geschnitten trug, katzenartige braune Augen, eine kräftige Nase, rötliche Haut und ein

paar Kilo zu viel.

»Oh, Chris, begrüßt man so einen alten Kumpel?«

Chris sagte nichts darauf, sondern wartete mit hochgezogenen Brauen, dass Culhane ihm sagte, was er wollte.

»Ich muss einen Blick auf die Eingänge der letzten paar Tage werfen«, sagte der Detective schließlich.

»Mit Eingängen meinst du wohl Leichen?«

»Was sollte ich wohl sonst damit meinen, Klugscheißer?«

»Warum reichst du nicht einfach eine Anfrage ein? Bist doch Polizist, oder?«

»Ist für’n Freund von mir, nicht unbedingt was Offizielles.«

»Einen Freund?« Chris’ Stimme klang misstrauisch.

»Sag mal, willst du Bulle werden, oder was? Was soll die Fragerei? Zeig mir einfach die Leichen.«

»Und wenn ich dir sage, dass das nicht geht, weil es gegen die Vorschriften verstößt?«

Culhane legte Chris den rechten Arm um den Nacken und zog sein Gesicht zu sich her. »Nun, dann würde ich ehrlich gesagt ziemlich stinkig werden. Und ich glaube nicht, dass du das riskieren willst, oder?«

Stille.

Culhane verschärfte seinen Griff.

»Okay … okay. Ich wollte sowieso gerade reingehen«, sagte Chris und hob beschwichtigend die Hände. Sein Ton hatte etwas Flehendes.

»Braver Junge«, sagte Culhane und entließ ihn aus dem Schwitzkasten.

Sie gingen schweigend zum Institutsgebäude. Chris um diese Zeit aufzusuchen bot Culhane den Vorteil, dass er das Institut nicht durch den Haupteingang betreten musste. Um diese Uhrzeit war hier fast nichts los, er brauchte keine Marke vorzuzeigen, keinen Papierkram auszufüllen – kurzum, er erregte weniger Verdacht.

Sie erreichten die Eingangstür fürs Personal an der Südseite des Gebäudes, und Chris tippte den Zahlencode in die seitlich angebrachte Tastatur. Mit einem Summen öffnete sich die Tür.

»Warte hier, ich bin gleich zurück«, sagte Chris und verschwand ins Innere des Gebäudes, während Culhane mit verdutzter Miene vor der Tür stehen blieb. Nicht einmal eine Minute später kam Chris mit einem weißen Overall zurück, wie ihn Kriminaltechniker und Rechtsmediziner bei der Arbeit tragen. »Zieh dir den über. Müsste passen. War der größte, den ich finden konnte.«

»Soll das jetzt lustig sein?«

Chris wollte um jeden Preis vermeiden, dass jemand herausfand, dass er einen Fremden ins Gebäude gelassen hatte, ohne ihn am Empfang einzutragen, selbst wenn dieser Fremde ein Polizist war. Er führte Culhane durch die leeren Gänge im Erdgeschoss, dann durch eine Schwingtür hindurch und eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Culhane war schon so oft hier entlanggegangen, dass er aufgehört hatte mitzuzählen. Doch noch immer beschlich ihn dabei ein flaues Gefühl. Er hätte es nie im Leben zugegeben, doch er war froh, in Begleitung zu sein. Sie erreichten die letzte Tür am Ende des Flurs.

Nach jeder Obduktion wurden die Leichen in den Kühlraum gebracht – »the big chill«, wie er im Institut genannt wurde. Entlang der rückwärtigen Wand gab es Kühlzellen für über fünfzig Leichen. Culhane und seine Kollegen von der Drogenfahndung hatten ihren eigenen Namen für diesen Raum: die Waben des Todes.

Chris schloss die Tür hinter sich, damit sie nicht gestört würden, und ging zum Computerterminal am anderen Ende des Raums.

»Na gut, dann geben wir mal eine Suche ein … männlich oder weiblich?«, fragte er, ohne weitere Zeit zu verschwenden. Je schneller er Culhane wieder loswurde, umso besser.

»Weiblich.«

»Weiß, schwarz …?«

»Kaukasisch, blond, blaue Augen, schlank und sehr attraktiv.«

Chris grinste verlegen. »Na gut. Ab welchen Datum soll ich suchen?«

»Versuchen wir mal ab letzten Freitag.«

Chris warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Das war der … 1. Juli, oder?«

»Ja, genau.«

»Okay.« Chris tippte die Informationen ein und drückte auf Enter. Nicht einmal fünf Sekunden später kam eine Antwort.

»Ja, wir haben sechzehn Treffer. Hast du einen Namen?«

»Jenny Farnborough. Aber der erscheint garantiert nicht auf dieser Liste.«

Chris ging rasch die Liste mit den Namen durch. »Nee, stimmt. Der Name ist nicht dabei.«

»Gibt’s irgendwelche nicht identifizierten Frauenleichen?«

Christ schaute erneut nach. »Ja, vier Stück.«

»Dann sehen wir uns die mal an.«

Ein Paar Mausklicks später hatten sie einen Ausdruck in der Hand. »Na gut, sehen wir nach«, sagte Chris und ging auf die Kühlzellen zu. Vor einer Tür mit der Nummer C11, der ersten auf Chris’ Liste, blieben sie stehen. Es dauerte vielleicht fünf Minuten, bis sie die vier unidentifizierten Leichen überprüft hatten. Jenny Farnborough war nicht darunter.

»Sind das alle? Oder gibt es noch einen Kühlraum in diesem Gebäude?«, fragte Culhane.

»Ja, es gibt noch einen im Keller, aber zu dem habe ich keinen Zutritt«, antwortete Chris.

»Wieso? Wie kann das sein?«

»Der ist abgeriegelt. Streng geheim.«

»Wie kann es in einem Rechtsmedizinischen Institut einen abgeriegelten Bereich geben?«

Chris freute sich, einem Detective der Polizei von Los Angeles etwas erklären zu können, was dieser nicht wusste. »Es gibt manchmal Fälle, die als zu gefährlich eingestuft werden – verstrahlte Leichen, Giftopfer, hohes Ansteckungsrisiko, solche Sachen. In diesem Fall nimmt der Chef des Instituts die Autopsie persönlich in einem isolierten Bereich vor.«

»Und weißt du, ob da unten im Moment eine Leiche liegt?«

»Dr. Winston hat heute bis spät in die Nacht hinein dort unten gearbeitet. Die Leiche ist nicht raufgeschickt worden, also wird sie vermutlich noch da unten sein.«

»Aber sie muss doch in die Wabe.«

»Wabe?«, fragte Chris stirnrunzelnd.

»Diesen Raum hier … den Kühlraum.« Culhanes Stimme klang eine Spur gereizt.

»Nein, der Obduktionsraum unten im Keller verfügt über eigene Kühlzellen. Die Leiche kann da unten bleiben«, sagte Chris, was die Gereiztheit des Detectives noch erhöhte.

»Und du kannst mich da wirklich gar nicht reinlassen?«

»Unmöglich. Nur Dr. Winston hat einen Schlüssel, und den behält er immer bei sich.«

»Gibt’s nicht noch eine andere Möglichkeit?«

»Nicht dass ich wüsste. Die Tür ist mit einem Alarm und Überwachungskamera gesichert. Wenn man nicht eingeladen wird, kommt man da nicht rein.«

»Wie viele Leichen liegen da unten?«

»Soviel ich weiß, im Augenblick nur eine.«

»Gibt es vielleicht ein Foto von der Leiche oder sonst irgendwas im Computer?«

»Nein, sämtliche Informationen zu den Fällen, die dort unten bearbeitet werden, bewahrt Dr. Winston in dem Raum auf. Die Infos gehen nicht mal in die Hauptdatenbank, bis der Doktor sie persönlich freigibt. Aber selbst wenn ich ein Foto von der Leiche hätte, würde das wahrscheinlich nicht viel nützen.«

»Warum?«

»Also, es geht das Gerücht, dass die Leiche unkenntlich gemacht wurde … irgendwie kein Gesicht hat oder so.«

»Tatsächlich?«

»Das habe ich jedenfalls gehört.«

»Eine Enthauptung?«

»Weiß nicht genau. Ich hab nur gehört, dass die Leiche kein Gesicht hat. Könnte durch einen Schuss weggepustet worden sein. So was gibt’s ja ab und zu«, sagte Chris und schüttelte den Kopf.

Mark Culhane dachte kurz nach. Seiner Einschätzung nach war die Wahrscheinlichkeit, dass Jenny Farnborough dort unten in dem versiegelten Bereich lag, ziemlich gering. Also würde es kaum was bringen, das noch weiterzuverfolgen.

»Danke, Chris. Tust du mir einen Gefallen? Halt ein wenig die Augen offen nach der Beschreibung, die ich dir gegeben habe, okay? Wenn jemand reinkommt, der darauf passen könnte, ruf mich an, ja? Es ist wichtig.« Culhane gab Chris seine Visitenkarte.

Chris betrachtete sie eine Sekunde lang und sagte dann: »Klar. Für das LAPD gerne.«

»Ich geh dann mal. Wär’s okay, wenn ich durch dieselbe Tür rausgehe, durch die wir reingekommen sind?«

»Kein Problem. Allerdings muss ich mit runtergehen und den Code eingeben.«

Sie verließen den Kühlraum und gingen schweigend den Weg zurück, den sie gekommen waren. An der Tür gab Culhane Chris den weißen Overall zurück, während der den Code eintippte und die Tür öffnete. Culhane war froh, wieder draußen zu sein.

In seinem Wagen angekommen, zündete er sich eine Zigarette an. Es gab noch zwei Rechtsmedizinische Institute in Los Angeles, eines in Santa Clarita und eines in West Lancaster, doch er war sich nicht sicher, ob sich die Fahrt dorthin lohnen würde. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und gelangte zu dem Schluss, dass er erst einmal genug getan hatte, um diese Jenny Farnborough zu finden. Schließlich war sie bloß irgendeine Nutte. Morgen früh würde er Jerome anrufen und ihm Bescheid geben. Im Augenblick hatte er Wichtigeres zu tun.

Der Kruzifix-Killer
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