2

 

Hunter rannte mit Riesensätzen die Treppen des alten Gebäudes im Ostteil von L.A. hinunter. Mit jedem Treppenabsatz, den er weiter in die Tiefe drang, wurde es dunkler und heißer. Sein Hemd war klatschnass geschwitzt, die engen Schuhe quetschten ihm die Zehen zusammen.

»Wo ist dieser verdammte Wäscheraum?«, flüsterte er, als er den Keller erreicht hatte.

Am Ende eines dunklen Korridors drang ein schmaler Lichtschein unter einer anscheinend geschlossenen Tür hervor. Er rannte darauf zu und rief den Namen seines Partners.

Keine Antwort.

Hunter zog seine Pistole, eine Wildey Survivor mit Spannabzug, und stellte sich rechts neben der Tür mit dem Rücken an die Wand.

»Garcia …«

Stille.

»Grünschnabel, bist du da drin?«

Ein dumpfer Laut, wie ein Schlag, drang hinter der Tür hervor. Hunter spannte den Hahn und holte tief Luft.

»Scheiße!«

Immer noch mit dem Rücken zur Wand, stieß er mit der rechten Hand die Tür auf, duckte sich mit einer fließenden, eingeübten Drehung um die eigene Achse in die Türöffnung und riss die Waffe hoch. Ein unerträglicher Gestank nach Urin und Erbrochenem raubte ihm fast den Atem und ließ ihn unwillkürlich einen Schritt zurückweichen.

»Garcia …«, rief er erneut.

Stille.

Von der Tür aus konnte Hunter nicht viel erkennen. Über einem kleinen Holztisch in der Mitte des Raums hing eine Glühbirne von der Decke, doch ihr spärliches Licht reichte nicht aus, um den ganzen Raum zu erleuchten. Hunter holte noch einmal Luft und wagte sich einen Schritt in den Raum hinein. Der Anblick, der sich ihm kurz darauf bot, drehte ihm den Magen um. Garcia war an ein mannsgroßes Kreuz genagelt, das in einem abgeschlossenen Plexiglaskubus stand. Am Boden hatten sich Pfützen gebildet, von dem Blut, das aus seinen Wunden tropfte. Er trug nur seine Unterwäsche und hatte eine Dornenkrone auf dem Kopf. Die dicken Metallstacheln hatten sich ins Fleisch gebohrt. Sein Gesicht war blutüberströmt. Er wirkte leblos.

Ich komme zu spät, durchfuhr es Hunter.

Als er sich dem Plexiglaskäfig näherte, stellte er überrascht fest, dass im Inneren ein Herzmonitor aufgebaut war. Die angezeigte Herzkurve war flach, aber beständig. Garcia lebte noch.

»Garcia!«

Keine Regung.

»Carlos!«, schrie Hunter.

Mit größter Anstrengung gelang es Garcia, die Augen ein klein wenig zu öffnen.

»Halt durch, Partner.«

Hunters Blick streifte durch den spärlich beleuchteten Raum. Er war ziemlich groß, jede Wand bestimmt mindestens fünfzehn Meter lang. Der Boden war übersät mit alten Lumpen, gebrauchten Spritzen, Crackpfeifen und Glasscherben. In einer Ecke rechts von der Tür stand ein verrosteter Rollstuhl. Auf den Holztisch in der Mitte hatte jemand einen tragbaren Kassettenrekorder gestellt, auf einem Zettel daran stand in roter Schrift: »Spiel mich ab.« Hunter drückte auf Play, und aus dem kleinen Lautsprecher drang klirrend die inzwischen vertraute Metallstimme.

»Hallo, Robert, du hast es also rechtzeitig geschafft.« Pause. »Bestimmt hast du bereits bemerkt, dass dein Freund dringend deine Hilfe benötigt. Allerdings, wenn du ihm helfen willst, musst du ein paar Regeln befolgen … meine Regeln. Es ist ganz einfach, Robert. Ein kleines Spiel. Dein Freund befindet sich in einem kugelsicheren Glaskäfig. Versuch also erst gar nicht zu schießen. An der Tür befinden sich vier verschiedenfarbige Knöpfe. Einer von ihnen öffnet die Tür, die anderen drei – nicht. Du musst also nichts weiter tun, als dich für einen der Knöpfe zu entscheiden. Wenn du den richtigen drückst, geht die Tür auf, du kannst deinen Partner befreien und einfach aus dem Raum spazieren.«

Eine Chance von eins zu drei, um Garcia zu retten – nicht gerade eine gute Ausgangsposition, zuckte es Hunter durch den Kopf.

»Und jetzt kommt der lustige Teil«, fuhr die Stimme auf dem Kassettenrekorder fort. »Wenn du einen der drei falschen Knöpfe drückst, fließt augenblicklich eine hohe Ladung Strom durch die Dornenkrone, die dein Freund auf dem Kopf hat, und zwar ohne Unterbrechung. Hast du schon einmal gesehen, was mit einem Menschen auf dem elektrischen Stuhl passiert?«, fragte die Stimme mit einem eiskalten Lachen. »Die Augen springen heraus, die Haut zerbrutzelt wie Speck in der Pfanne, die Zunge rollt sich im Mund zusammen, bis man daran fast erstickt, das Blut fängt an zu kochen und lässt die Adern platzen. Ein exquisites Schauspiel, Robert.«

Garcias Herzschlag fing an zu rasen. Hunter sah, wie die Ausschläge auf dem Monitor in immer kürzeren Intervallen kamen.

»Aber jetzt kommt erst der eigentliche Spaß an der Sache …« 

Hunter hatte geahnt, dass die Sache mit dem Strom nicht der einzige Haken war.

»Hinter dem Glaskasten habe ich genügend Sprengstoff deponiert, um den kompletten Raum in Schutt und Asche zu legen. Der Sprengstoff ist mit dem Herzmonitor gekoppelt, und sobald der keinen Herzschlag mehr anzeigt …« Diesmal folgte eine längere Pause. Hunter wusste, was jetzt gleich kommen würde.

»Bumm …! Dann fliegt hier alles in die Luft. Du siehst also, Robert, wenn du den falschen Knopf drückst, dann darfst du nicht nur zusehen, wie dein Freund durch deinen Fehler qualvoll stirbt, sondern gleich darauf wirst auch du sterben.« 

Inzwischen hämmerte Hunter das Herz in der Brust. Schweiß tropfte ihm von der Stirn und brannte ihm in den Augen. Seine Hände waren feucht und zitterten.

»Aber du hast die Wahl, Robert. Du musst deinen Partner nicht retten. Du kannst dich auch ganz ohne Risiko selbst retten. Geh einfach und lass ihn alleine sterben. Keiner außer mir weiß davon. Kannst du damit leben? Oder setzt du dein Leben für seines aufs Spiel? Such dir eine Farbe aus. Dir bleiben sechzig Sekunden Zeit.« Ein lauter Piepton erklang auf dem Band, dann trat Stille ein.

Hunter sah, wie über Garcias Kopf eine rote Digitalanzeige ansprang: 59, 58, 57 …

Der Kruzifix-Killer
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