57
59, 58, 57 … Hunters Blick war wie gebannt auf die Digitalanzeige über Garcias Kopf gerichtet. Sein Herz klopfte wie ein Presslufthammer. Obwohl der Kellerraum sich anfühlte wie eine Sauna, war es Hunter kalt. Eine Eiseskälte, die von innen kam und ihn zittern ließ.
Such eine Farbe aus … irgendeine Farbe, dachte er fieberhaft. Schwarz, weiß, blau oder rot. Die Farben tanzten vor seinen Augen herum wie in einem psychedelischen Film. Er sah Garcia, an das Kreuz genagelt. Blut lief ihm übers Gesicht, von der Dornenkrone, die ihm in den Schädel gerammt worden war.
Es ist ganz einfach, hatte die metallische Stimme auf dem Band gesagt. Wähl die richtige Farbe aus, und die Tür zu dem kugelsicheren Plexiglaskäfig geht auf. Hunter könnte zu Garcia gelangen, und dann nichts wie raus hier mit ihm. Such die falsche Farbe aus, und eine Stromladung fließt durch die Dornenkrone auf Garcias Kopf. Und als ob das noch nicht grausam genug wäre, würde auch noch eine Sprengladung hinter dem Käfig detonieren und den ganzen Raum in die Luft jagen, sobald Garcias Herzrhythmus aussetzte.
Garcia schien erneut das Bewusstsein verloren zu haben.
»Grünschnabel, bleib wach«, schrie Hunter und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür des Käfigs.
Keine Reaktion.
»Carlos …« Der laute Ruf hallte durch den Kellerraum.
Diesmal hob Garcia minimal den Kopf.
Hunter schaute auf den Herzmonitor. Der kleine Lichtpunkt hüpfte immer noch in gleichmäßigen Intervallen nach oben.
43, 42, 41 …
»Komm schon, Grünschnabel, halt durch«, bettelte Hunter und sah sich fieberhaft in dem Raum um – nach irgendetwas, das ihm helfen könnte, irgendeinem Hinweis auf den richtigen Knopf. Doch da war nichts.
Noch nicht einmal zwei Monate. Garcia ist noch nicht einmal zwei Monate beim Morddezernat. Warum mussten sie ihn ausgerechnet mir zuteilen?, fluchte Hunter im Geiste. Das hätte nicht sein erster Fall sein sollen.
Garcias Körper zuckte in einem Krampfanfall, was Hunters Gedanken schlagartig wieder in den Kellerraum zurückbrachte.
32, 31, 30 …
Wie viel Blut er wohl verloren hat? Selbst wenn ich ihn hier lebend rausbringe, schafft er es womöglich nicht. Hoffentlich war Garcia zäher als erwartet.
Nur noch ein paar Sekunden. Hunters Gehirn arbeitete auf Hochtouren, doch er wusste, dass er ein Wunder brauchte, um herauszufinden, welches der richtige Knopf war. Er konnte nur raten. Auf einmal spürte er seine abgrundtiefe geistige Erschöpfung. Er hatte es satt, ständig diese Spielchen zu spielen. Die er sowieso nie gewinnen konnte, weil der Killer immer im Vorteil war. Auch jetzt hatte er keine Garantie, dass das, was der Kruzifix-Killer gesagt hatte, überhaupt der Wahrheit entsprach. Vielleicht öffnete keiner der vier Knöpfe die Tür. Vielleicht ging er gerade dem sicheren Tod entgegen.
Hunter drehte sich um und starrte die Kellertür an. Er konnte noch immer da rausgehen und lebend entkommen.
Wenn ich hierbleibe, bin ich so gut wie tot.
Einen Sekundenbruchteil lang vergaß er alles, woran er immer geglaubt hatte, und erwog, einfach um sein Leben zu rennen. Der Gedanke löste ein Gefühl von Übelkeit und Scham in ihm aus.
Was denke ich da für einen Mist? Wir sind noch nicht tot.
15, 14, 13 …
»Scheiße!« Er fasste sich an die Nasenwurzel und kniff die Augen so fest zusammen, wie er konnte. »Schluss jetzt, Robert. Entscheid dich einfach für einen verdammten Knopf!«, befahl er sich. »Farben. Wieso Farben? Der Killer hätte ihnen Nummern geben können, weshalb sind es Farben?«
Ihm war klar, dass ihm die Zeit ausging.
»Er spielt wieder so ein beschissenes Spiel, genau wie bei dem Hunderennen …« Auf einmal erstarrte er mitten im Satz. »Das Hunderennen … der Gewinner, welche Farbe hatte der?« Er versuchte nachzudenken. Er wusste, es war der Hund mit der Nummer zwei gewesen, aber welche Farbe hatte seine Startnummer gehabt?
»Mist, welche Farbe hatte der Gewinner?«, rief er laut.
Er hob den Blick von den Knöpfen und sah Garcia in die Augen, der gerade wieder zu sich kam.
6, 5, 4 …
»Es tut mir leid«, sagte Hunter mit tieftraurigem Blick. Er wollte schon auf einen der Knöpfe drücken, als er sah, wie sich Garcias Lippen bewegten. Es kam kein Laut heraus, doch Hunter konnte seine Lippenbewegung problemlos lesen.
»Blau …«
Hunter blieb keine Zeit mehr für weiteres Zögern. Er drückte auf den blauen Knopf.
2 …
Die Digitalanzeige blieb stehen. Die Tür des Plexiglaskäfigs summte kurz und sprang auf. Auf Hunters Gesicht breitete sich grenzenlose Erleichterung aus. »Ich fass es nicht!« Er rannte in den Käfig und hob Garcia das Kinn von der blutigen Brust. »Halt durch, Grünschnabel.«
Hunter sah sich rasch in dem Käfig um. Garcia war mit den Händen an das Holzkreuz genagelt. Unmöglich, ihn zu befreien. Er musste Hilfe holen.
Er zog sein Handy heraus. »Komm schon, jetzt gib mir ein verdammtes Signal«, schrie er es an. Doch es war zwecklos: Er musste nach oben laufen.
»Halt durch, Grünschnabel. Ich hol Hilfe. Bin sofort wieder da«, sagte er, doch Garcia hatte bereits wieder das Bewusstsein verloren. Hunter trat aus dem Käfig, als ein Piepton hinter ihm ihn abrupt innehalten ließ. Er drehte sich um – und riss entsetzt die Augen auf.
»Das darf nicht wahr sein!«