48

 

Wovon zum Teufel redest du? Was soll das heißen, es fehlt ein Opfer? Sie sind doch alle da. Sieben von den ersten Morden und zwei, seit es erneut losging.« Garcias Blick wanderte von den Fotos zu Hunter.

»Wir haben ein Opfer, das er nicht markiert hat. Kein Doppelkreuz im Nacken, kein Anruf bei mir. Wir haben ein Opfer, das er gar nicht getötet hat.«

»Ein Opfer, das er gar nicht getötet hat? Bist du high? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»O doch. Er hat es nicht selbst getötet wie die anderen … er hat es töten lassen.«

»Weißt du eigentlich, wie verrückt du dich gerade anhörst? Wen hat er nicht selbst getötet?«

Hunter richtete den Blick auf Garcia. »Mike Farloe.«

»Mike Farloe?« Garcia wirkte verblüfft.

»Der echte Killer hat ihm die Kruzifix-Morde angehängt. Das hab ich sogar dem Killer gesagt, als er mich kurz nach dem Auffinden der gesichtslosen Frau anrief. Aber aus irgendeinem Grund hat’s trotzdem nicht geklickt bei mir.«

»Ja, ich erinnere mich, dass du davon geredet hast. Ich stand direkt neben dir.«

»Er hat Mike Farloe reingelegt, und das macht Farloe zu einem seiner Opfer.«

»Indirekt«, sagte Garcia.

»Unerheblich, er ist dennoch ein Opfer.« Hunter ging zu seinem Schreibtisch zurück und blätterte in einem Stapel Unterlagen. »Na gut, was wissen wir über unseren Killer?«

»Nichts«, antwortete Garcia mit einem halben Lacher.

»Das stimmt nicht. Wir wissen, dass er sehr methodisch vorgeht, intelligent ist, pragmatisch und dass er sich seine Opfer sehr, sehr sorgfältig aussucht.«

»Okay.« Garcia klang nicht wirklich überzeugt.

»Der Killer hat auch Mike Farloe nicht zufällig ausgewählt. Genau wie bei seinen anderen Opfern musste auch diese Zielperson exakt in sein Opferprofil passen. Nur dass das Opferprofil diesmal das eines Mörders sein musste. Genauer gesagt, das eines sadistischen, religiös motivierten Serienmörders.«

Garcia fing an, Hunters Gedankengang zu folgen. »Du meinst, wenn du damals jemanden verhaftet hättest, der nicht in dieses Profil gepasst hätte, hätte man ihn nicht als Kruzifix-Killer geschluckt?«

»Genau. Unser Killer ist zwar clever, aber gleichzeitig weiß er, dass auch wir nicht dumm sind. Wir würden nicht gleich auf den Erstbesten hereinfallen, den er uns als Täter unterzujubeln versucht. Es musste schon die passende Person sein. Jemand, der uns als Killer glaubwürdig erscheint. Jemand, den wir für ihn halten konnten. Mike Farloe war die perfekte Wahl.«

Garcia fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und zog sie wie zu einem kleinen Pferdeschwanz nach hinten. »Hatte Farloe eine Strafakte?«

»O ja, allerdings. Der ist praktisch in Jugendstrafanstalten aufgewachsen. Drei Verurteilungen wegen Exhibitionismus. Am liebsten machte er es vor Schulkindern.«

»Ein Pädophiler?«, fragte Garcia angewidert.

»Allerdings. Er hat achtundzwanzig Monate gesessen, weil er einen zwölfjährigen Jungen in einer öffentlichen Toilette befummelt hatte.«

Garcia schüttelte den Kopf.

»Und wo findet man jemanden wie Mike Farloe?«, überlegte Hunter weiter.

»Vielleicht kannte ihn der Killer von früher«, schlug Garcia vor.

»Möglich, aber ich glaube eher nicht. Mike war ein Einzelgänger, lebte allein, keine Frau, keine Freundin, keine Kinder. Er hat als Müllmann gearbeitet und sich in seiner Freizeit in seiner winzigen, vergammelten Wohnung eingeschlossen, um die Bibel zu lesen. Der Typ hatte kein Sozialleben.«

»Vielleicht eine Krankenakte? Unser Killer könnte Zugang zu Krankenakten gehabt haben. Wir wissen immerhin, dass er medizinische Fachkenntnisse besitzen muss, Dr. Winston meinte sogar, es würde ihn nicht wundern, wenn er Chirurg wäre.«

Hunter nickte. »Genau daran dachte ich auch.«

»Religiöse Zirkel, Kirchen? Wenn Farloe da hinging, könnte ihn der Killer dort aufgestöbert haben.«

»Auch das sollten wir überprüfen.«

»Was wissen wir sonst noch über Mike Farloe?«, fragte Garcia.

»Nicht viel. Es gab keinen Grund, noch groß Nachforschungen über ihn anzustellen, denn er hatte ja gestanden.«

»Stimmt. Und das bringt mich auf meine ursprüngliche Frage zurück: Warum? Warum zum Teufel hat er gestanden? Warum gesteht jemand so grauenhafte Verbrechen, wenn er sie gar nicht begangen hat und weiß, dass er dafür die Todesstrafe kriegt?«

»Um seinem Leben ein bedeutungsvolles Ende zu setzen«, sagte Hunter überzeugt.

»Wie bitte?«

»Du hast doch bestimmt schon von Leuten gehört, die nicht den Mut aufbringen, sich das Leben zu nehmen, also kaufen sie sich eine Waffe und wedeln auf offener Straße damit herum. Die Polizei kommt, fordert die Person auf, die Waffe abzulegen, die fuchtelt noch wilder damit herum, bis den Cops nichts anderes übrigbleibt, als zu schießen.«

»Ja, hab davon gehört. Suizid durch die Polizei.«

»Genau. Farloes Fall folgt demselben Prinzip. Wie gesagt, Farloe war ein Einzelgänger, keine Freunde, kein Sozialleben und auch keine Aussicht auf das eine oder andere davon. Und über den Kruzifix-Killer wusste er offensichtlich gut Bescheid.«

»Das taten alle, dafür hat die Presse gesorgt.«

»Haargenau. Dann wird es dich auch nicht überraschen zu hören, dass es da draußen einige religiöse Fanatiker gab, die auch noch fanden, der Kruzifix-Killer würde gute Arbeit leisten. Weil er Sünder tötete.«

»Und Farloe war einer von denen«, vollendete Garcia Hunters Gedankengang.

»Eben. Für diese Leute war der Kruzifix-Killer ein Held, jemand, der Gottes Werk verrichtet. Und auf einmal erhält Farloe die Chance, sein eigener Held zu werden.«

»Du meinst wohl eher, für seinen Helden die Prügel zu kassieren.«

»Das spielt keine Rolle. Für den Rest der Welt würde Mike Farloes Name synonym mit dem des Kruzifix-Killers sein. Eine perfekte Gelegenheit für Farloe, die eigene bedeutungslose Existenz hinter sich zu lassen. Sein Name würde in Büchern stehen und in Kriminologievorlesungen behandelt werden. Als Toter hätte er den Ruhm, der ihm als Lebender verwehrt blieb.«

»Aber du hast gesagt, Farloe wusste bestimmte Dinge über die Opfer, die eigentlich nur der Killer wissen konnte … wie die Motive für die Morde. Er hätte zum Beispiel was davon erzählt, dass eines der Opfer sich bis an die Spitze seiner Firma hochgeschlafen habe. Woher konnte er so etwas wissen?«

»Weil der Killer es ihm erzählt hat«, schloss Hunter.

»Was?«

»Überleg doch mal. Du bist der Killer, okay? Und du willst jemandem deine Taten anhängen. Du hast endlich den Richtigen gefunden. Du freundest dich mit ihm an.«

»Was vermutlich nicht allzu schwierig war, da Farloe keine Freunde hatte.«

»Genau. Deine Unterhaltungen kreisen hauptsächlich um die Kruzifix-Morde. Was der Killer für tolle Arbeit leistet, indem er die Welt von der Sünde befreit und so Zeug. Und dann fütterst du Farloe mit allerlei Gerüchten. Ich habe gehört, eins der Opfer war eine Prostituierte mit einer Geschlechtskrankheit … eine andere hat mit allen möglichen Leuten in ihrer Firma geschlafen, nur um nach oben zu kommen.« Hunter wechselte die Tonlage, um in die Rolle des Killers zu schlüpfen.

»Das Ganze als Vorbereitung für seine Festnahme«, führte Garcia den Gedankengang fort.

Hunter biss sich auf die Lippe und nickte.

»Aber warum erzählt er ihm dann nicht von dem echten Doppelkreuz, das er den Opfern in den Nacken ritzt?«

»Weil niemand davon wusste, mit Ausnahme des wahren Killers und einer Handvoll Leute, die an dem Fall arbeiteten. Wenn der echte Killer damit rausgerückt wäre, hätte das Farloe sofort misstrauisch gemacht. Mike war zwar durchgeknallt, aber nicht blöd.«

»Du meinst, Farloe wäre darauf gekommen, dass die Person, mit der er da redete, der echte Killer war.«

»Möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Vermutlich hätte Farloe eher gedacht, dass der Kerl einen Haufen Scheiße im Hirn hat.«

»Warum?«

»Was glaubst du, wie Farloe überhaupt vom Kruzifix-Killer erfahren hat?«

»Durch die Presse.«

»Genau. Vermutlich hat er alles verschlungen, was die Medien zu dem Thema verbreiteten. Und jedes Wort davon geglaubt. Menschen lassen sich ziemlich leicht beeindrucken. Farloe indirekt zu sagen, dass das, was er da las, ein Haufen Mist ist, hätte ihn eher zurückgestoßen. Aber der Killer wollte ja sein Vertrauen gewinnen. Wem glaubt wohl ein ganz normaler Durchschnittsbürger eher, den Medien oder einem x-beliebigen Fremden?«

Garcia überlegte eine Weile. »Da ist was dran.«

Hunter nickte. »Der Killer wusste schon, wie er Farloes Vertrauen gewinnen konnte.«

»Glaubst du, er ging fest davon aus, dass Farloe gestehen würde?«

»Vielleicht. Ich bin nicht sicher.«

»Er hatte nichts zu verlieren«, räumte Garcia ein, schien jedoch noch immer nicht befriedigt. »Aber warum?«

Hunter blickte ihn alarmiert an. »Hast du mir eigentlich zugehört? Ich habe dir gerade erklärt, warum.«

»Nein, ich meine: Warum Farloe die Morde anhängen?«

Hunter schwieg eine Weile und blickte geistesabwesend auf seine Kaffeetasse. »Das wäre auch meine nächste Frage gewesen. Weshalb hängt man jemand anderem ein Verbrechen an?«

»Rache?«

»Nicht im wirklichen Leben.«

»Wieso?«

»Jemandem aus Rache ein Verbrechen anzuhängen, so was kommt nur in Hollywoodfilmen vor. Im wirklichen Leben machen sich Menschen nicht die Mühe, sondern jagen der betreffenden Person einfach eine Kugel in den Kopf. Warum erst lange an einer komplizierten Falle arbeiten? Außerdem starb Farloe durch die Todesspritze, was kein besonders qualvoller Tod ist. Wenn unser Killer wollte, dass er leidet, hätte er sich selbst um ihn gekümmert.«

Garcia nickte zustimmend. »Das stimmt allerdings.«

»Was gibt’s noch für Gründe?«

»Vielleicht wollte er, dass die Ermittlungen aufhören.«

»Wäre möglich.«

»Vielleicht wollte er ursprünglich nur sieben Morde begehen.« Garcia goss sich ein Glas Wasser ein. »Nachdem die Morde, die er sich vorgenommen hatte, erledigt waren, wollte er vielleicht, dass die Untersuchung abgeschlossen würde, damit nicht womöglich Jahre später doch noch mal ein Cop zufällig auf irgendein Beweisstück stößt. Wenn er das Ganze jemand anderem anhängt, wird die Akte geschlossen, und er ist raus.«

»Und jetzt hat er seine Meinung geändert und begeht noch einmal sieben Morde?«

Garcia zog eine Augenbraue hoch. »Könnte doch sein.«

»Das überzeugt mich nicht. Der Killer hatte von Anfang an eine klare Agenda, und ich bin mir sicher, dass er der noch immer folgt. Wenn er mit dem fertig ist, was er vorhat, und wir ihn bis dahin nicht geschnappt haben, wird er verschwinden, und wir werden nie wieder irgendwas von ihm hören.« Hunters Ton war düster.

»Als Farloe verhaftet wurde, gab es da noch einen anderen Verdächtigen? Warst du an irgendjemandem dran?«, fragte Garcia in die eingetretene Stille hinein.

Hunter schüttelte den Kopf.

»Du hattest keine heiße Spur, weder eine Person noch sonst irgendwas?«

»Das hab ich dir doch schon ganz am Anfang gesagt: Wir hatten nichts, keine Verdächtigen, keine Spuren – aber ich weiß, worauf du hinauswillst. Wenn wir an jemandem dran gewesen wären, ihm allmählich näher gekommen wären – dem wahren Täter –, dann hätte uns die Sache mit Farloe von dieser Spur abgelenkt.«

»Es hätte die Untersuchung schlagartig zum Abschluss gebracht. Warum noch weiter suchen, wenn man einen Verdächtigen inklusive überwältigendem Beweismaterial hat?«

»Nun, wir hatten aber vor Farloe keinen Verdächtigen.«

»Das wusste der Killer ja nicht. Es sei denn, er hätte einen Informanten bei der Polizei gehabt.«

»Nur sehr wenige Leute hier wussten davon, und sie waren alle absolut vertrauenswürdig.«

»Na gut, aber vielleicht warst du ja doch auf etwas gestoßen, das dem Täter gefährlich werden konnte.«

Ein Muskel an Hunters Kiefer zuckte. »Wir waren auf überhaupt nichts gestoßen. Das Einzige, was wir hatten, waren sieben Opfer und jede Menge Frust«, sagte Hunter und starrte mit abwesendem Blick aus dem Fenster. »Aber lass uns die Akten trotzdem noch mal durchgehen … vor allem die zwei Monate vor Farloes Verhaftung. Sehen wir uns näher an, was wir hatten und was nicht.«

»Es gäbe noch eine andere Möglichkeit«, sagte Garcia und blätterte hastig in ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch.

»Nämlich?«

»Wie viel Zeit ist zwischen Farloes Verhaftung und dem ersten neuen Opfer vergangen?«

»Ungefähr anderthalb Jahre.«

»Wenn der Killer nun Farloe ans Messer geliefert hat, weil er wusste, dass er eine Zeitlang außer Gefecht sein würde? Also, zum Beispiel, weil er wegen irgendeiner kleineren Sache im Gefängnis saß oder so.«

Hunter setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Problem dabei ist: Er hätte im Voraus wissen müssen, dass er eine Zeitlang außer Gefecht sein würde. Jemandem eine Tat anzuhängen, die er nicht begangen hat, erfordert lange Vorbereitung – wie schon gesagt, er musste ja erst einmal die passende Person finden. So viel Zeit bleibt einem aber nicht, wenn man verhaftet wird. Allerdings …« Hunter deutete mit dem Zeigefinger in Garcias Richtung.

»Was?«

»Eine Operation«, sagte Hunter mit hochgezogenen Augenbrauen. »Der Killer könnte eine Operation vor sich gehabt haben. Das hätte er rechtzeitig vorher gewusst.«

»Aber er war über ein Jahr von der Bildfläche verschwunden. Welche OP setzt einen so lange außer Gefecht?«

»Das ist leicht beantwortet. Rücken- und Hüft-OPs, und andere, bei denen anschließend eine längere Reha-Behandlung nötig ist, um wieder die volle Bewegungsfähigkeit und Muskelkraft zu erlangen. Und unser Killer braucht all seine Kraft, um diese Morde zu begehen. Er hätte nicht erneut angefangen, wenn er nicht hundertprozentig fit gewesen wäre. Also erstellen wir am besten mal eine Liste von allen Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen.«

Garcia war schon dabei, den ersten Suchbegriff in die Tastatur zu hämmern.

Der Kruzifix-Killer
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