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Zugegeben, sie war nervös. Womöglich doch mehr, als sie gedacht hatte. Fast den ganzen Tag hatte sie ständig mit einem Auge auf die Uhr geschielt. Becky war sich nicht sicher, ob es mehr Bangigkeit oder Vorfreude war, jedenfalls gaben die Schmetterlinge in ihrem Bauch seit heute Morgen, als sie aus dem Bett gestiegen war, keine Ruhe. Sie hatte sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren können, hatte mehr Pausen eingelegt als gewöhnlich, aber heute war ja auch kein gewöhnlicher Tag. Jedenfalls nicht für Becky.
Sie hatte ihr Büro in der Hauptfiliale der Union Bank of California in der South Figueroa Street ungefähr um halb sechs verlassen, was nicht ihre übliche Zeit war. Als Finanzberaterin verlangte ihr Job ihr einiges ab. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie bis sieben oder acht Uhr abends im Büro blieb. Heute hatte ihr sogar ihr Chef wohlmeinende Ratschläge erteilt, und er sah es mit Genugtuung, dass sie diesmal ein wenig früher als sonst Feierabend machte.
Obwohl der Verkehr ziemlich heftig war, blieb Becky genug Zeit, um kurz in ihre Wohnung zu fahren und schnell zu duschen. Außerdem wollte sie das kleine Schwarze ausprobieren, das sie sich heute in ihrer Mittagspause extra für den Abend gekauft hatte. Als sie an das neue Kleid dachte und sich überlegte, wie sie ihre Haare tragen sollte, befiel sie auf einmal wieder die Anspannung. Sie stellte das Radio an in der Hoffnung, dass die Musik sie beruhigen würde.
So schwer konnte das doch nicht sein, oder? So viel konnte sich seit ihrem letzten Date doch nicht verändert haben. Allerdings war das fast fünf Jahre her. Sie erinnerte sich noch genau daran. Wie sollte sie es auch je vergessen? Der Mann, mit dem sie an jenem Abend verabredet gewesen war, war ihr Ehemann geworden.
Becky hatte Ian Tasker über ihre Arbeit bei der Bank kennengelernt. Ein charmanter, großgewachsener Playboy mit blonden Locken, der gerade eben durch den Tod seines Vaters, eines Immobilienmillionärs, ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte. Da er ein Einzelkind war und seine Mutter bereits im Alter von fünf Jahren verloren hatte, war er der alleinige Erbe.
Ian hatte noch nie gut mit Geld umgehen können, und wäre es nach ihm gegangen, hätte er vermutlich sein ganzes Vermögen an den Blackjack- und Roulette-Tischen in Las Vegas und Atlantic City verspielt, doch aus irgendeinem Grund hatte er auf den Rat seines besten Freundes gehört und beschlossen, einen Teil des Geldes anzulegen.
Ian war völlig ahnungslos in diesen Dingen. Er hatte noch nie einen Cent gespart, geschweige denn investiert, doch sein bester Freund kam ihm auch hierbei zu Hilfe. Er schlug ihm vor, sich die Angebote der Union Bank of California zur »Vermögensplanung« anzusehen.
Angesichts der Summe, die Ian anlegen wollte, stellte ihm die Bank mit Freuden Rebecca Morris als seine persönliche Anlageberaterin zur Seite.
Ihre Beziehung war zunächst strikt beruflicher Natur gewesen. Allerdings war Becky sehr schnell angetan von Ians Naivität in Finanzdingen und seinen charmanten blauen Augen. Ihre anfänglich noch schüchterne Zuneigung füreinander war beiderseitig. Ian war fasziniert von der süßen, eins fünfundsechzig großen Brünetten. Sie war attraktiv und intelligent und besaß einen laserscharfen Humor. Nach nur einer Woche war Ians Interesse von Beckys Finanzwissen auf Becky selbst übergesprungen. Täglich rief er sie an, fragte nach Tipps für den Finanzmarkt, Anlageempfehlungen, egal was, Hauptsache er kam in den Genuss ihrer Stimme. Und das wusste sie.
Obwohl Ian Tasker unleugbar ein Playboy und selbsternannter Frauenheld war, verschwanden seine Arroganz und sein überzogenes Selbstbewusstsein in Beckys Gegenwart. Becky war anders als all die blutsaugenden Frauen, die er sonst so kennengelernt hatte. Ihr Interesse an seinem Geld schien rein professionell zu sein. Nach knapp zwei Wochen nahm er endlich all seinen Mut zusammen und fragte sie, ob sie Lust hätte, mit ihm auszugehen.
Es war beileibe nicht das erste Mal, dass Becky von Bankkunden auf eine private Verabredung eingeladen wurde. Meistens von verheirateten Männern. Sie hatte immer höflich abgelehnt. Auch Ians Playboyallüren waren nicht gerade das, was sie sich unter einem potentiellen Beziehungskandidaten vorstellte. Und doch beschloss sie, diesmal ihre eigene Regel – »keine privaten Kontakte mit Kunden« – zu brechen.
Der Abend war so vollkommen, wie sie es sich nur hätte erträumen können. Ian hatte ein kleines Restaurant am Meer in Venice Beach ausgesucht, und zunächst wusste Becky nicht recht, was sie davon halten sollte, dass er für den Abend das gesamte Restaurant nur für sie beide gemietet hatte. War das nun ein Trick, um sie zu beeindrucken, oder hatte er wirklich eine romantische Ader? Doch im Verlauf des Abends fühlte sich Becky mehr und mehr zu ihm hingezogen, zunächst von seinem jungenhaften Charme und lebenslustigen Naturell, schließlich jedoch von seiner überraschend anregenden Gesellschaft. Ian war ohne Zweifel sehr von sich eingenommen, aber er war auch clever, witzig, nett und unterhaltsam.
So zog ihr erster gemeinsamer romantischer Abend eine Kette von weiteren nach sich, und mit jedem neuen Rendezvous blühte ihre Bekanntschaft auf. Mit seiner ungenierten Art eroberte er ihr Herz im Sturm, und als er schließlich die entscheidende Frage in der Pause zwischen einem Lakers-Spiel live im landesweiten Fernsehen an sie richtete, war Becky die glücklichste Frau in Los Angeles.
Gegen seinen Willen bestand sie auf einem Ehevertrag: Sie liebe ihn und nicht sein Geld, sagte sie.
Ihre Ehe setzte dort ein, wo ihre Verabredungen aufgehört hatten. Alles schien perfekt. Ian war ein aufmerksamer und rücksichtsvoller Ehemann, und Becky kam sich vor wie in einem Märchen. Zwei Jahre lang lebte Becky ihren Traum. Den Traum vom vollkommenen Glück, den Traum, mit jemandem zusammen zu sein, dem man wichtig ist und von dem man geliebt wird. Doch dann nahm das Schicksal eine drastische Wendung.
Vor ziemlich genau zweieinhalb Jahren war Ian aus purem Pech an dem sprichwörtlichen falschen Ort zur falschen Zeit gewesen. Auf dem Heimweg von seiner Freitagnachmittags-Golfpartie hatte Becky ihn angerufen und gebeten, bei einem Liquor-Store vorbeizufahren und eine Flasche Rotwein mitzubringen.
Während er das wenig eindrucksvolle Wein-Sortiment durchsah, bemerkte er nicht, dass zwei neue Kunden mit Eishockey-Masken den Laden betreten hatten. Dieser spezielle Laden war bereits mehrfach ausgeraubt worden, allein im letzten Monat zweimal. Der Besitzer hatte inzwischen genug von der, wie er es nannte, »Unfähigkeit der Polizei«. Wenn die Polizei seinen Laden nicht beschützen konnte, dann musste er es eben selbst tun, hatte er beschlossen.
Ian hatte sich endlich für eine Flasche australischen Shiraz entschieden, als er auf einmal lautes Geschrei aus dem vorderen Bereich des Ladens hörte. Erst dachte er, es wäre nur ein Kunde, der sich lautstark über etwas beschwerte, doch dann erhitzte sich die Situation schneller als normal. Er spähte vorsichtig um die Regalecke, hinter der er stand. Die Szene, die sich ihm bot, hatte fast etwas Tragikomisches. Die beiden maskierten Männer standen mit gezogenen Pistolen vor dem Ladenbesitzer und zielten auf ihn, während der Besitzer mit seiner Doppelflinte im Anschlag abwechselnd auf den einen, dann wieder auf den anderen zielte.
Instinktiv wich Ian einen Schritt zurück, um sich hinter einem Ständer mit Brandy und Whisky zu verstecken. Doch aus Nervosität stolperte er beim Zurückgehen und stieß an den Whiskyständer, wodurch zwei Flaschen zu Boden fielen und zerbarsten. Der unerwartete Lärm ließ alle herumfahren, und die beiden maskierten Männer eröffneten im Schreck das Feuer in Ians Richtung.
Da die beiden Maskierten einen Sekundenbruchteil lang abgelenkt waren, erkannte der Ladenbesitzer seine Chance und schoss auf den einen der beiden, der näher bei der Tür stand. Die Wucht des Geschosses schleuderte den Mann durch die Luft und blies ihm den Kopf weg. Glassplitter von der Eingangstür flogen wie ein Hagelsturm durch den Raum. Der zweite Maskierte geriet beim Anblick seines geköpften Komplizen in Panik. Bevor der Ladenbesitzer dazu kam, sein Gewehr auf den zweiten Mann zu richten, hatte dieser zweimal seine Waffe abgefeuert und sein Ziel beide Male in den Bauch getroffen.
Der Ladenbesitzer taumelte nach hinten, fand jedoch noch die Kraft und Zeit, den Abzug seiner Flinte zu drücken.
Die ersten Kugeln hatten Ian allesamt verfehlt und nur einige Brandy- und Whiskyflaschen hinter ihm zerschossen. In seiner Panik stolperte er erneut und griff im Fallen nach dem ersten möglichen Halt. Das Einzige, was er zu fassen bekam, war der Flaschenständer selbst. Wie eine Ladung Ziegel stürzte er auf Ian nieder und krachte ihm auf die Beine. Rund um ihn gingen Flaschen zu Bruch. Für Ian hätte all das immer noch ein glückliches Ende nehmen können, wäre der Flaschenständer nicht ausgerechnet gegen eine Insektenlampe an der Wand gekracht, die sofort zu Bruch ging und Funken schlug. Der Alkoholcocktail, in dem Ian lag, entzündete sich wie Benzin.
Die Ampel sprang auf Grün, und Becky fuhr an, während sie verzweifelt gegen die Tränen ankämpfte.
Fast zweieinhalb Jahre lang hatte Becky keine Verabredung angenommen, und selbst jetzt war sie sich noch unsicher, ob sie wirklich wollte. Der Schmerz über Ians Verlust war immer noch lebendig.
Schließlich hatte Becky im Supermarkt um die Ecke Jeff kennengelernt. Dort ging sie zweimal die Woche auf dem Heimweg vom Büro einkaufen. Es war eine zufällige Begegnung gewesen. Becky hatte nach einer reifen Melone für ein neues Salatrezept gesucht und sich dabei von einer Frucht zur nächsten durchgearbeitet: eine jede in beide Hände genommen, sie einmal prüfend gedrückt und sich dann ans Ohr gehalten und sie geschüttelt.
»Suchen Sie nach der mit dem Überraschungsgeschenk drin?«, waren die ersten Worte, die Jeff an sie gerichtet hatte.
Sie musste lächeln. »Ich bin Schlagzeugerin. Melonen eigenen sich prima als Maracas.«
Jeff runzelte die Stirn. »Wirklich?«
Becky lachte. »Tut mir leid. Das war nur ein Scherz. Ist mein Humor – trocken wie die Wüste. Nein, ich versuche nur, eine gute Melone zu finden … eine reife.«
»Nun, dann kommen Sie mit Schütteln nicht weiter.« Sein Ton war kein bisschen besserwisserisch. »Das Geheimnis dabei ist der Geruch. Wenn Sie daran riechen, werden Sie feststellen, dass manche einen süßeren, reiferen Geruch besitzen. Das sind die reifen Früchte«, sagte er, hielt sich zur Demonstration eine Melone an die Nase und sog ihren Duft ein. »Zu süß sollten sie allerdings auch nicht riechen. Dann sind sie nämlich schon überreif.« Er streckte den Arm aus und reichte ihr die Melone, an der er gerade gerochen hatte. Sie probierte es aus. Ein einladender, süßer Duft ging von der Melone aus. Jeff zwinkerte ihr kurz zu und setzte dann seinen Einkauf fort.
In den folgenden Wochen trafen sie mehrmals zufällig im Supermarkt aufeinander. Becky war immer sehr gesprächig und lustig, während Jeff ihr amüsiert zuhörte und über ihre Witze lachte. Ihr Humor kam in jeder ihrer Unterhaltungen durch.
Nach zwei, drei Monaten mit Supermarktbegegnungen fand Jeff schließlich den Mut, Becky zum Dinner einzuladen. Zuerst zögerte sie, doch dann sagte sie zu.
Sie verabredeten sich für den folgenden Montag um zwanzig Uhr dreißig im Belvedere Restaurant in Santa Monica.