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Das Good Samaritan Hospital ist in einem imposanten Gebäude am Wilshire Boulevard in Downtown Los Angeles beherbergt. Den Haupteingang erreicht man über eine kreisförmige Zufahrt an der Ostseite der Witmer Street. Normalerweise hätte Hunter für die Fahrt vom Griffith Park dorthin eine knappe Stunde gebraucht. Diesmal schaffte er es in weniger als einer halben. Garcia erlitt auf dem Beifahrersitz fast einen Herzinfarkt.
Sie eilten durch die blitzsauberen Eingangstüren in die Halle und direkt zum Empfang. Zwei Schwestern mittleren Alters arbeiteten sich durch Stöße von Papier, nahmen Anrufe entgegen und kümmerten sich um die anspruchsvolle Schar wartender Patienten und ihrer Angehörigen. Hunter ignorierte die Schlange und ging direkt an den Schalter.
»Wo ist die Notaufnahme?«, fragte er mit seiner Polizeimarke in der Hand.
Eine der beiden Schwestern blickte von ihrem Computerbildschirm auf und musterte die beiden Männer durch die Gläser ihrer dickrandigen Brille hindurch, die sie auf die Nasenspitze geschoben hatte. »Sind Sie blind? Da steht eine Schlange von Leuten vor Ihnen.« Ihr Ton war so gelassen, als hätte sie alle Zeit der Welt.
»Ja, genau, wir warten hier alle. Stellen Sie sich gefälligst hinten an«, beschwerte sich ein älterer Mann mit eingegipstem Arm. Andere stimmten empört mit ein.
»Wir sind dienstlich hier, Sir«, erklärte Hunter rasch, aber bestimmt und fragte erneut: »Die Notaufnahme, wo ist die?« Sein dringlicher Ton ließ die Schwester erneut aufblicken. Diesmal nahm sie die beiden Polizeimarken zur Kenntnis.
»Hier durch und am Ende des Gangs links«, sagte sie widerwillig und deutete auf den Flur zu ihrer Rechten.
»Scheiß Cops. Nicht mal ein Danke kriegt man«, murmelte sie, als Hunter und Garcia bereits davongestürmt waren.
In der Notaufnahme wimmelte es von Ärzten, Schwestern, Sanitätern und Patienten, die umhereilten, als wäre der Jüngste Tag angebrochen. Der Raum war eigentlich ziemlich groß, wirkte wegen des Durcheinanders von Leuten und Tragen aber trotzdem überfüllt.
»Wie kann man nur in so einem Chaos arbeiten? Der Karneval in Rio ist ein Dreck dagegen«, stellte Garcia mit besorgter Miene fest.
Hunter hielt in dem ganzen Gewirr nach einer Person Ausschau, die ihnen vielleicht Auskunft geben könnte. An einer Wand des Raums befand sich eine halbkreisförmige Empfangstheke. Dahinter stand eine Schwester mit vor Hektik gerötetem Gesicht. Hunter und Garcia steuerten ohne Zögern auf sie zu.
»Vor fünf oder zehn Minuten kam hier ein Notfallpatient an. Wo wurde der hingebracht?«, fragte Hunter die Frau. Seine Stimme klang allmählich genervt.
»Das ist hier eine Notaufnahme, Süßer. Alle Patienten, die hier durchkommen, sind Notfallpatienten«, sagte sie mit sanfter Stimme und starkem Südstaatenakzent.
»Opfer eines Verbrechens, Griffith Park, männlich, Anfang dreißig, der ganze Körper voller Blasen«, gab Hunter ungeduldig zurück.
Sie zog ein frisches Taschentuch aus einer riesigen Box auf der Theke, tupfte sich die Stirn ab und richtete ihre glänzenden schwarzen Augen auf die beiden Detectives. Hunters dringlicher Tonfall kam endlich bei ihr an, und sie warf einen Blick in ihre Unterlagen.
»Ja, ich erinnere mich, dass der vor kurzem hergebracht wurde …« Sie hielt einen Moment inne und holte tief Luft. »Wenn ich mich recht erinnere, war er DOA.«
»Was?«
»Dead on Arrival. Tot bei Einlieferung«, erklärte sie.
»Wir wissen, was DOA heißt. Aber sind Sie sicher?«, fragte Garcia.
»Nicht hundertprozentig. Dr. Phillips hat den Patienten angenommen. Er kann Ihnen sicher Näheres dazu sagen.«
»Und wo finden wir den?«
Sie stand auf und ließ den Blick suchend durch die Notaufnahme schweifen. »Da drüben … Dr. Phillips«, rief sie und winkte ihm.
Ein kleiner, kahlköpfiger Mann drehte sich in ihre Richtung um. Sein Stethoskop baumelte ihm um den Hals, der weiße Overall wirkte verknittert, und den dunklen Ringen unter seinen Augen nach zu urteilen, hatte der Mann in den letzten sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen. Er redete gerade mit einem anderen Mann, in dem Hunter den Notarzt vom Griffith Park wiedererkannte.
Die beiden Detectives eilten zu den zwei Männern und stellten sich kurz vor.
»Der Mann aus dem Park – wo ist der? Was ist passiert?«, fragte Hunter.
Der Notarzt wich Hunters Blick aus und schaute zu Boden. Der Arzt blickte ein paarmal zwischen Hunter und Garcia hin und her. »Er hat es nicht geschafft. Sie mussten die Sirene fünf Minuten vom Krankenhaus entfernt abschalten. Er war DOA, also tot bei Einlieferung.«
»Wir kennen die Abkürzung, danke«, knurrte Hunter, inzwischen mit unverhohlenem Ärger.
Nach kurzer Stille seufzte Garcia frustriert auf: »Verdammt! Das wäre einfach zu gut gewesen.«
»Tut mir leid«, sagte der Notarzt mit gequälter Miene. »Wir haben getan, was wir konnten. Er bekam keine Luft mehr und drohte an seinem eigenen Blut zu ersticken. Wir wollten schon einen Luftröhrenschnitt durchführen, doch ehe wir dazu kamen …« Er vollendete den Satz nicht. Dr. Phillips fuhr fort.
»Als der Krankenwagen hier eintraf, konnten wir nichts mehr für ihn tun. Er wurde um 15.18 Uhr für tot erklärt.«
»Was war die Todesursache?«
Dr. Phillips stieß einen nervösen Lacher aus. »Die Leiche kam zwar gerade erst rein, aber suchen Sie sich’s aus: Erstickung, Herzstillstand, multiples Organversagen, innere Blutungen – was davon den letzten Ausschlag gab, könnte ich im Moment auch nur raten. Um Genaueres zu erfahren, müssen Sie schon die Autopsie abwarten.«
Eine Lautsprecherdurchsage unterbrach Dr. Phillips. Er wartete, bis sie vorbei war, und fuhr dann fort: »Im Moment ist die Leiche unter Quarantäne.«
»Wieso unter Quarantäne?«, fragte Garcia beunruhigt.
»Haben Sie den Mann gesehen? Er ist voller Blasen und offener Stellen.«
»Ja. Wir dachten, es wären Verbrennungen oder so was.«
Dr. Phillips schüttelte den Kopf. »Ohne Obduktion kann ich Ihnen nicht genau sagen, was die Ursache ist, aber Verbrennungen sind das nicht.«
»Ganz sicher nicht«, stimmte auch der Notarzt zu.
»Ein Virus?«, fragte Hunter.
Dr. Phillips sah ihn interessiert an. »Auf den ersten Blick, ja. Irgendeine Krankheit.«
»Eine Krankheit?« Die verwunderte Frage kam von Garcia. »Da liegt doch wohl ein Irrtum vor, Doktor. Der Mann ist ein Mordopfer.«
»Mord?« Diesmal lag die Verwunderung bei Dr. Phillips. »Diese Blasen kann ihm nicht jemand zugefügt haben. Die hat sein eigener Körper als Reaktion auf irgendetwas hervorgebracht, auf einen Krankheitserreger oder eine Allergie. Glauben Sie mir, dieser Mann ist einer scheußlichen Krankheit zum Opfer gefallen.«
Hunter war klar, was der Killer getan hatte. Er hatte sein Opfer mit irgendeinem tödlichen Virus infiziert. Aber seit dem Hunderennen war gerade mal ein Tag vergangen – wie konnte die Reaktion derart schnell eingetreten sein? Welche Krankheit konnte einen Mann binnen eines Tages umbringen? Auch für eine Antwort auf diese Frage würden sie Dr. Winstons Autopsie abwarten müssen.
»Wenn es denn tatsächlich ein Krankheitserreger ist, müssen wir zunächst einmal feststellen, was für einer und ob er ansteckend ist.« Dr. Phillips wechselte einen Blick mit dem Notarzt. »Darüber haben wir eben gesprochen. Über direkten Hautkontakt mit dem Opfer. Hatten Sie beide …?«
»Nein«, kam die Antwort im Chor von Hunter und Garcia.
»Wissen Sie, ob jemand anderes direkten Kontakt mit dem Opfer hatte?«
»Zwei Beamte der Spezialeinheit«, gab Hunter sofort zurück.
»Dann müssen die unbedingt für ein paar Untersuchungen herkommen, je nachdem, wie die Ergebnisse der Biopsie ausfallen.«
»Und wann rechnen Sie mit den Ergebnissen?«
»Wie gesagt, die Leiche kam ja eben erst an. Ich schicke so schnell wie möglich eine Gewebeprobe ins Labor und hänge einen Dringlichkeitsvermerk dran. Mit etwas Glück liegt uns noch im Lauf des Tages ein Resultat vor.«
»Was ist mit der Leiche – wegen der Autopsie?«
»Wir schicken sie heute noch zum Rechtsmedizinischen Institut. Allerdings wird durch ihren Zustand und die Tatsache, dass sie unter Quarantäne bleiben muss, alles ein wenig komplizierter, so dass ich Ihnen keine genaue Uhrzeit sagen kann. Noch etwas: Ich will Sie nicht anlügen, Detective. Was immer diesen Mann getötet hat, hat es verdammt schnell und sehr qualvoll getan. Falls das irgendeine ansteckende Krankheit sein sollte, dann haben wir es dem Zustand nach zu urteilen, in dem er hier eingeliefert wurde, womöglich mit einer grauenhaften Seuche zu tun. Die ganze Stadt könnte in Gefahr sein.«