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Carlos Garcia hatte sich als junger Detective bei der Polizei von Los Angeles fast so schnell emporgearbeitet wie Hunter. Er war der Sohn eines brasilianischen Bundesagenten und einer amerikanischen Geschichtslehrerin, deren Ehe in die Brüche ging, als er zehn war. Daraufhin zog seine Mutter mit ihm nach Los Angeles. Obwohl Garcia den Großteil seines Lebens in Amerika verbracht hatte, sprach er Portugiesisch wie ein Brasilianer. Sein Vater war ein höchst attraktiver Mann mit glatten, dunklen Haaren, braunen Augen und dunkler Haut. Seine Mutter war blond und blauäugig mit einem hellen, europäisch anmutenden Teint. Garcia hatte den dunklen Teint seines Vaters geerbt und ebenso die dunkelbraunen Haare, die er immer etwas länger trug, als seine Mutter es sich gewünscht hätte. Seine Augen waren zwar nicht so hellblau wie die seiner Mutter, doch sie kamen eindeutig von ihrer Seite. Obwohl schon einunddreißig, hatte er noch immer etwas Jungenhaftes an sich. Er war von leichter Statur, eher hager und sehnig als muskulös. Nicht zuletzt infolge jahrelanger Leichtathletik besaß er jedoch mehr Körperkraft, als man ihm zugetraut hätte.
Jennet Liams, Garcias Mutter, hatte mit aller Macht versucht, ihrem Sohn eine berufliche Laufbahn bei der Polizei auszureden. Ihre Ehe mit einem FBI-Agenten hatte sie in dieser Hinsicht einiges gelehrt. Es war ein gefährliches Leben, und nur wenige Menschen waren fähig und willens, den mentalen Druck auszuhalten, den ein solches Leben mit sich bringt. Ihre Familie und ihre Ehe hatten unter dem Beruf ihres Mannes gelitten, und sie wollte nicht, dass ihren Sohn und seine zukünftige Familie einmal dasselbe Schicksal ereilen würde. Doch als Garcia zehn war, stand sein Entschluss bereits fest. Er wollte genauso sein wie sein Vater, sein Held.
Seit der Highschool hatte er eine feste Freundin, und kurz nach ihrem Schulabschluss heirateten die beiden. Anna war ein reizendes Mädchen. Sie war ein Jahr jünger als Garcia, hatte wunderschöne haselnussbraune Augen und kurzes schwarzes Haar. Sie besaß eine eigenwillige, aber faszinierende Schönheit. Kinder hatten sie keine – eine Entscheidung, die sie beide zusammen getroffen hatten, zumindest fürs Erste.
Garcia verbrachte zwei Jahre als Detective im Norden von Los Angeles, bevor man ihn mit einunddreißig Jahren vor die Wahl stellte, entweder im Drogendezernat oder im Morddezernat anzufangen. Er entschied sich für das Morddezernat.
Am Morgen seines ersten Arbeitstags in der neuen Abteilung war Garcia früher als sonst aufgewacht. Er hatte sich bemüht, leise zu sein, aber Anna wachte trotzdem auf. Um acht Uhr dreißig sollte er in Captain Bolters Büro erscheinen, doch um halb sieben stand er bereits fix und fertig in Anzug und Krawatte in seiner kleinen Wohnung im Norden L.A.s und quälte sich damit, die verbleibende Zeit totzuschlagen.
»Wie sehe ich aus?«, fragte er seine Frau nach seiner zweiten Tasse Kaffee.
»Das fragst du mich jetzt schon zum dritten Mal«, antwortete Anna lachend. »Du siehst toll aus, Schatz. Die können sich glücklich schätzen, weil sie nämlich den hübschesten Detective in ganz L.A. kriegen«, sagte sie zärtlich und küsste ihn auf den Mund. »Bist du nervös?«
Garcia nickte und biss sich auf die Lippe. »Ein wenig.«
»Musst du nicht. Du wirst das großartig machen.«
Eigentlich war Anna Optimistin und sah an allem das Positive. Deshalb freute sie sich für Garcia, weil er dort angelangt war, wo er immer hingewollt hatte, doch tief in ihrem Inneren hatte sie Angst. In den vergangenen Jahren hatte Garcia bereits einige brenzlige Situationen erlebt. Als ihm eine Kugel Kaliber .44 das Schlüsselbein zertrümmerte, verbrachte er eine Woche im Krankenhaus – und Anna eine Woche in Tränen. Sie kannte die Gefahren, die sein Job mit sich brachte, und sie wusste, dass er niemals vor irgendetwas zurückschrecken würde. Und dieses Wissen erfüllte sie mit einer lähmenden Angst.
Um Punkt halb neun stand Garcia vor Captain Bolters Büro im Gebäude des Morddezernats. Schmunzelnd stellte er fest, dass auf dem Namensschild an der Bürotür »KONG« stand. Er klopfte dreimal.
»Herein.«
Garcia öffnete die Tür und trat ein.
Captain William Bolter war bereits Ende fünfzig, sah jedoch gut und gerne zehn Jahre jünger aus: groß, stark wie ein Ochse und mit einem vollen Schopf silbergrauer Haare und einem dicken Schnauzer. Seine Erscheinung war respekteinflößend. Wenn man den Geschichten glauben durfte, die über ihn kursierten, hatte er sich im Lauf seiner Dienstjahre über ein Dutzend Kugeln eingefangen, doch keine hatte ihn untergekriegt.
»Wer zum Teufel sind Sie? Kommen Sie von der Internen?« Seine Stimme war kraftvoll, aber nicht aggressiv.
»Nein, Sir …« Garcia trat einen Schritt näher und reichte ihm seine Unterlagen. »Carlos Garcia, Sir. Ich bin Ihr neuer Detective.«
Captain Bolter saß in einem imposanten Bürostuhl mit hoher Lehne hinter einem Rosenholzschreibtisch. Er blätterte die Unterlagen durch, wobei mehrfach ein anerkennender Ausdruck über sein Gesicht huschte, und legte sie dann vor sich auf dem Tisch ab. Er brauchte den Papierkram nicht, um zu wissen, dass Garcia ein guter Detective war. Wenn jemand seinem Dezernat zugewiesen wurde, musste er zwangsläufig ein hohes Maß an Kompetenz und Fachwissen bewiesen haben, und Garcias Akte bescheinigte dem jungen Mann jede Menge davon.
»Eindrucksvoll … und Sie sind pünktlich. Ein guter Anfang«, stellte der Captain mit einem flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr fest.
»Danke, Sir.«
Der Captain ging zu seiner Kaffeemaschine, die in einer Ecke des Zimmers stand, und goss sich eine Tasse ein. Garcia bot er keinen an. »Okay, erst mal das Wichtigste. Besorgen Sie sich einen anständigen Anzug. Wir sind das Morddezernat, nicht die Modepolizei. Die Jungs werden Sie kreuzigen«, sagte er mit einer vagen Geste zu den Büros hinaus.
Garcia warf einen Blick an sich hinunter. Er mochte diesen Anzug. Es war sein bester – und sein einziger.
»Wie lange sind Sie schon Detective?«
»Zwei Jahre, Sir.«
»Hm, das ist bemerkenswert. Gewöhnlich braucht man als Detective mindestens fünf oder sechs Jahre Erfahrung, bevor man überhaupt fürs Morddezernat in Frage kommt. Entweder sind Sie ’ner Menge Leute in den Hintern gekrochen, oder Sie sind wirklich gut.« Da von Garcia keine Antwort kam, fuhr der Captain fort. »Nun, Sie mögen da draußen ein guter LAPD-Detective gewesen sein, aber das hier ist das Morddezernat.« Er nippte an seinem Kaffee und kam damit zum Schreibtisch zurück. »Der Urlaub ist vorbei, Junge. Das hier ist härter und definitiv gefährlicher als alles, was Sie je gemacht haben.«
»Ich weiß, Sir.«
»Ach ja?« Er fixierte Garcia mit seinem intensiven Blick. Sein Tonfall wurde unheilschwanger. »Dieser Job hier wird Ihnen ans Mark gehen. Sie werden sich damit mehr Feinde als Freunde machen. Ihre alten Kumpel vom LAPD werden Sie wahrscheinlich von jetzt an hassen. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das hier wollen? Sind Sie sicher, dass Sie stark genug dafür sind? Und ich rede hier nicht von körperlicher Stärke, Junge. Sind Sie sicher, dass Sie bereit sind für das hier?«
Garcia war auf die Mordsgefährlicher-Job-Rede gefasst gewesen. Jeder Captain hat so eine im Repertoire. Ohne dem Blick des Captains auch nur einen Moment auszuweichen, erwiderte er mit fester, unerschütterlicher Stimme: »Ich bin bereit, Sir.«
Der Captain fixierte Garcia immer noch, suchte nach einer Spur von Furcht oder vielleicht Selbstzweifeln, doch seine jahrelange Erfahrung und Menschenkenntnis sagten ihm, dass dieser Junge hier keinen Schiss hatte, jedenfalls noch nicht.
»Na gut, das wär’s. Dann stelle ich Sie jetzt Ihrem neuen Partner vor«, sagte er. Er ging zur Tür seines Büros und zog sie auf. »Hunter … kommen Sie mal her«, rief er hinaus. Seine Stimme hallte auf der geschäftigen Etage wider.
Hunter war gerade eben angekommen, saß an seinem Schreibtisch und rührte seinen starken schwarzen Kaffee um. Infolge seines Schlafmangels dröhnte die Stimme des Captains wie eine Heavy-Metal-Band in seinem Kopf. Er nahm in aller Ruhe einen Schluck von dem bitteren Getränk und verbrannte sich die Lippen und die Zunge daran. In den letzten paar Monaten hatte seine Schlaflosigkeit, genährt von den ständigen Alpträumen, immer schlimmere Ausmaße angenommen. Wenn er Glück hatte, schlief er zwei, drei Stunden pro Nacht. Seine Tage verliefen inzwischen in einer Art dumpfer Monotonie – üble Kopfschmerzen, kochend heißer, starker Kaffee, einmal den Mund verbrannt und dann weiter mit dem Stapel zweitrangiger Fälle auf seinem Schreibtisch.
Hunter klopfte nicht an, sondern kam einfach zur Tür herein. Garcia stand neben dem Rosenholzschreibtisch.
»Hallo! O nein, Captain, da sind Sie bei mir falsch, mit der Internen habe ich nichts zu tun«, sagte Hunter sofort und biss sich auf die lose Haut an seiner verbrühten Oberlippe.
Garcia blickte erneut an seinem Anzug hinunter.
»Setzen Sie sich, Hunter, er ist nicht von der Internen«, entgegnete Captain Bolter und schwieg einen Augenblick, um die Spannung zu steigern. »Darf ich vorstellen, Ihr neuer Partner.«
Zunächst schien es, als kämen die Worte gar nicht bei Hunter an. Garcia ging zwei Schritte auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin. »Carlos Garcia. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Detective Hunter.«
Hunter ließ Garcias Hand einfach in der Luft hängen. Er zeigte keine Regung, nur seine Augen bewegten sich. Garcia spürte förmlich, wie Hunter ihn musterte, ihn einzuschätzen versuchte. Es dauerte zwanzig Sekunden, dann schien Hunter sich ein Bild von seinem neuen Partner gemacht zu haben.
»Nein danke, Captain. Ich komme ganz gut allein zurecht.«
»Einen Teufel tun Sie, Hunter«, erwiderte der Captain ruhig. »Seit Wilsons Tod machen Sie doch nichts mehr außer Bürokram und dem LAPD bei Ladendiebstählen und kleinen Einbrüchen zu helfen. Heilige Scheiße! Außerdem wussten Sie, dass es so kommen würde. Oder was glauben Sie, wer Sie sind? Dirty Harry? Hören Sie, Hunter, ich erspare Ihnen die blödsinnige Ansprache von wegen, was für ein toller Detective Sie sind und wie Sie Ihr Talent vergeuden. Sie sind der beste Detective, den ich je in meiner Abteilung hatte. Sie reimen sich Sachen zusammen, auf die niemand sonst kommt … nennen Sie es, wie Sie wollen, jedenfalls haben Sie es drauf wie kein anderer. Ich brauche Sie wieder hier im Morddezernat, und zwar hellwach und bei klarem Verstand. Sie wissen sehr wohl, dass ich einen Detective in einem Mordfall nicht allein auf die Straße schicken kann, das verstößt gegen die Regeln. In Ihrem momentanen Zustand sind Sie nutzlos für mich.«
»Ach, und wie kommen Sie darauf?«, schoss Hunter in halb beleidigtem Ton zurück.
»Werfen Sie mal einen Blick in den Spiegel.«
»Und jetzt geben Sie mir so einen Grünschnabel als Partner?« Er wandte sich an Garcia. »Sorry, ist nicht persönlich gemeint.«
»Schon klar.«
»Wir waren alle mal Grünschnäbel, Hunter«, entgegnete der Captain und strich sich mit den Fingern verschmitzt über den Schnauzbart. »Sie hören sich haargenau an wie Scott, als ich ihm damals eröffnet habe, dass er einen neuen Partner bekommt. Er konnte Sie am Anfang nicht ausstehen, wissen Sie noch? Sie waren jung und unerfahren … und jetzt sehen Sie mal, was aus Ihnen geworden ist.«
Garcia biss sich auf die Lippe, um sich ein Lachen zu verkneifen.
Hunter musterte ihn erneut. »Oh, Sie finden das also amüsant?«
Garcia neigte den Kopf ein wenig zur Seite und zuckte leicht mit den Achseln, als wollte er sagen, vielleicht.
»Erzählen Sie mir mal, was für Erfahrung Sie in dem Job haben«, forderte Hunter ihn auf.
»Ich war zwei Jahre lang Detective beim LAPD«, antwortete Garcia frischfröhlich.
»Oho, ein Eigengewächs.«
Garcia nickte.
»Warum sind Sie so nervös?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich nervös bin?«, fragte Garcia mit einem Kopfschütteln zurück.
Hunter warf Captain Bolter einen selbstzufriedenen Blick zu. »Ihre Krawatte ist zu fest gebunden, aber anstatt sie einfach ein wenig zu lockern, kreisen Sie ständig kaum merklich mit dem Kopf und hoffen, dass es keinem auffällt. Als Sie mir vorhin die Hand schütteln wollten, ist mir aufgefallen, dass sie feucht ist. Nun ist es hier drin aber nicht besonders warm, also schätze ich, dass Sie aus Nervosität schwitzen. Und seit ich hier hereinspaziert bin, verlagern Sie ständig das Gewicht von einem Bein aufs andere. Entweder haben Sie Rückenprobleme, oder Sie fühlen sich ein wenig unbehaglich. Und da Sie es mit Rückenproblemen schwerlich zum Detective gebracht hätten …«
Garcia runzelte die Stirn und blickte hilfesuchend zu Captain Bolter, der ihn vielsagend angrinste.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben?«, fuhr Hunter fort. »Wenn Sie nervös sind, setzen Sie sich lieber hin. Das ist nicht nur bequemer, sondern erlaubt Ihnen auch, verräterische Körpersignale besser zu verbergen.«
»Er ist gut, nicht?«, sagte Captain Bolter schmunzelnd. »Aber wie dem auch sei, Hunter, Sie haben in dieser Frage sowieso nichts zu melden. In meinem Urwald bin immer noch ich der King, und Sie arbeiten entweder mit einem neuen Partner, oder Sie fliegen raus.«
Nun verstand Garcia auch das Namensschild an der Tür. Er wartete ein paar Sekunden und streckte dann Hunter erneut die Hand hin.
»Wie schon gesagt: Carlos Garcia, und es freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Die Freude ist ganz Ihrerseits, und trocknen Sie sich mal die Hand ab«, entgegnete Hunter, wobei er Garcias Hand ein zweites Mal in der Luft hängen ließ. »Und sehen Sie zu, dass Sie diesen Anzug loswerden, Junge, oder was glauben Sie, wo Sie hier sind – bei der Modepolizei?«