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Als es dunkel wurde über L.A., fuhren Hunter und Garcia noch einmal zu dem alten Holzhaus. Das Team von der Spurensicherung war inzwischen abgezogen, und der Ort lag verlassen da. Eine Besichtigung der Umgebung des Hauses kam angesichts der zunehmenden Dunkelheit und des dichten, undurchdringlichen Gestrüpps nicht mehr in Frage, doch Hunter hatte ohnehin keinen Zweifel, dass die Spezialisten von der Spurensicherung alles peinlich genau abgesucht hatten. So konzentrierten er und Garcia sich noch einmal auf das Haus, aber nach ein paar Stunden hatten beide das Gefühl, dass es nichts mehr zu holen gab.
»Falls hier irgendwas zu finden war, haben es die Leute von der Spurensicherung garantiert mitgenommen«, sagte Garcia mit einem Unterton von Hoffnung.
Hunter sah überall im Haus Reste des feinen, grün fluoreszierenden Pulvers, das die Forensiker benutzten, um mittels Laser und Ultraviolettlicht Fingerabdrücke sichtbar zu machen, die man mit bloßem Auge nicht entdeckte. Hunter beschlich eine dumpfe Ahnung, dass auch die Spurensicherung nichts erbracht hatte. »Hoffen wir, dass Dr. Winston morgen früh irgendetwas für uns hat«, sagte er zu Garcia. »Hier können wir heute nichts mehr tun.«
Es war schon nach Mitternacht, als Hunter seinen alten Buick in die Saturn Avenue und Templeton Street im Süden von Los Angeles steuerte. Die gesamte Straße wirkte renovierungsbedürftig mit ihren vor sich hin gammelnden Häusern und ungepflegten Vorgärten. Hunter parkte vor dem fünfstöckigen Wohnhaus, in dem sich sein Apartment befand, und blickte einen Moment lang daran hoch. Die einst leuchtend gelbe Fassade war inzwischen zu einem unappetitlichen Beige verblasst, und Hunter fiel auf, dass schon wieder jemand die Glühbirnen über dem Hauseingang zerschlagen hatte. Die Wände im Treppenhaus waren schmutzig, die Farbe blätterte ab, und außer Graffiti gab’s dort gar nichts Dekoratives. Trotz des heruntergekommenen Zustands fühlte sich Hunter in dem Gebäude wohl.
Hunter lebte allein, keine Frau, keine Kinder, keine Freundin. Er hatte eine Reihe fester Beziehungen gehabt, doch letztlich hatte sein Job in diesem Punkt immer seinen Tribut gefordert. Mit dem gefährlichen Lebenswandel eines Detectives beim Morddezernat fertig zu werden, war nicht leicht, und am Ende wollten seine Freundinnen immer mehr, als er zu geben bereit war. Inzwischen litt Hunter auch nicht mehr groß unter dem Alleinsein. Es war sozusagen sein Verteidigungsmechanismus. Wenn man niemanden hatte, der einem nahestand, konnte einem auch niemand entrissen werden.
Hunters Wohnung lag im dritten Stock und hatte die Nummer 313. Das Wohnzimmer hatte einen seltsamen Grundriss, und die Möbel sahen aus, als kämen sie vom Sperrmüll. An der langen Wand standen ein abgewetztes schwarzes Kunstledersofa und ein paar ungleiche Stühle. Auf dem kleinen, völlig verkratzten Holzschreibtisch rechts daneben thronten ein Laptop, ein Drucker und eine kleine Schreibtischlampe. Schräg gegenüber befand sich eine schicke Bar aus Glas, die überhaupt nicht zum Rest der Wohnung passte. Es war das einzige Möbelstück, das sich Hunter nagelneu und in einem trendigen Laden gekauft hatte. Darin standen mehrere schottische Single Malt Whiskys, denen Hunters Leidenschaft gehörte.
Hunter schloss die Wohnzimmertür hinter sich, schaltete das Licht an und dimmte es auf minimale Beleuchtung. Er brauchte jetzt einen Drink. Er goss sich einen doppelten Whisky von dem zwanzig Jahre alten Talisker ein und warf einen Eiswürfel ins Glas.
Das Bild der gesichtslosen Frau ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das Symbol in ihrem Nacken, roch er den beißenden Geruch in dem Raum. Ging das jetzt alles wieder los? Konnte es wirklich derselbe Killer sein? Und falls ja, warum fing er plötzlich wieder an zu morden? Eine Frage jagte die andere, und Hunter wusste sehr wohl, dass die Antworten bei weitem nicht in dieser Geschwindigkeit kommen würden. Er rührte mit dem Zeigefinger einmal den Eiswürfel im Glas herum und setzte es an die Lippen. Der herbe, scharfe Geschmack entspannte ihn sofort.
Hunter war sich sicher, dass ihm wieder eine schlaflose Nacht bevorstand, doch irgendwie musste er sich ausruhen. Er schaltete die Lampen im Schlafzimmer an und leerte den Inhalt seiner Taschen auf den Nachttisch: Autoschlüssel, Hausschlüssel, etwas Kleingeld und ein Papierschnipsel, auf dem stand: Ruf mich an – Isabella. Unwillkürlich musste Hunter schmunzeln, als ihm der Vorfall vom Morgen einfiel.
Ich fasse es nicht! Sie einfach so zu fragen, ob sie eine Nutte ist! Bei diesem Gedanken wurde aus dem Schmunzeln ein Lachen. Ihr sarkastischer Humor auf seine plumpe Unterstellung hin hatte ihm gefallen. Sie war jedenfalls ein anderes Kaliber als die langweiligen Frauen, die ihm sonst so in den Bars begegneten. Er warf einen Blick auf seine Uhr: Fast eins – zu spät, um noch anzurufen. Aber ein anderes Mal vielleicht.
Er ging in die Küche und heftete den Zettel mit Isabellas Nummer an die Pinnwand neben dem Kühlschrank. Dann ging er zurück ins Schlafzimmer, bereit für den Kampf gegen die Schlaflosigkeit.
Vom Parkplatz auf der Straße aus beobachtete eine dunkle, im Schatten verborgene Gestalt gespannt, wie in der Wohnung im dritten Stock die Lichter an- und ausgingen.