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Eigentlich erschien Hunter selten vor acht Uhr im Dezernat, doch die neuen Entwicklungen der letzten Tage hatten ihn und die Untersuchung auf Trab gebracht. Er verspürte wieder den Biss aus seinen Anfangstagen als Detective.
»Gehst du eigentlich auch mal nach Hause, oder bist du schon hier eingezogen?«, fragte er, als er zu seiner Überraschung Garcia bereits am Schreibtisch vorfand.
»Der Captain will dich sofort sehen«, sagte Garcia, ohne auf die Bemerkung seines Partners einzugehen.
Hunter schaute auf die Uhr. »Machst du Witze, Grünschnabel? Es ist halb acht morgens!«
»Ich weiß. Er hat so gegen sieben hier oben angerufen. Ich war gerade reingekommen.«
»Du bist um sieben gekommen? Schläfst du eigentlich auch irgendwann mal?«, fragte Hunter und zog seine Jacke aus. »Hat er gesagt, worum es geht?«
»Mir nicht.«
»Haben wir gestern keinen Bericht vorgelegt?«
»Doch, hab ich. Zwar erst kurz nach zehn Uhr, aber er hat ihn bekommen.«
Hunter roch frisch gekochten brasilianischen Kaffee. Das war genau das, was er brauchte, bevor er Captain Bolter gegenübertrat.
Das Großraumbüro des Morddezernats war beinahe ausgestorben, mit Ausnahme von Detective Maurice, der am Fenster stand. Auf seinem Schreibtisch und am Boden lag Papier verstreut. Er sah aus, als wäre er seit Tagen nicht zu Hause gewesen. Hunter grüßte ihn mit einem schlichten Kopfnicken, doch Maurice schien ihn nicht einmal wahrzunehmen. Hunter erreichte das Büro des Captains und klopfte zweimal an.
»Herein«, rief der Captain von drinnen.
Obwohl es noch früh am Tag war, fühlte sich der Raum bereits heiß an. Es gab keine Klimaanlage, keines der Fenster war geöffnet, und die zwei Ventilatoren waren ausgeschaltet. Der Captain saß hinter seinem Schreibtisch und las die Morgenzeitung.
»Sie sind früh da«, stellte Hunter trocken fest.
»Ich bin immer früh da«, erwiderte der Captain und blickte auf, um Hunter zu begrüßen.
»Sie wollten mich sprechen?«
»Genau.« Der Captain zog die oberste Schublade seines Schreibtischs auf und holte das Phantombild heraus, das Patricia am vorherigen Nachmittag gezeichnet hatte. »Sehen Sie sich die mal an«, sagte er zu Hunter und deutete auf seinen Computerbildschirm. Hunter ging um die zwei großen Sessel herum und stellte sich neben den Captain. Auf dem Monitor waren mehrere Variationen des Phantombilds zu sehen – mit längeren Haaren, kurzgeschoren, Vollbart, Oberlippenbart, Brille –, insgesamt zwanzig verschiedene Zeichnungen.
»Wir haben alle Veränderungsmöglichkeiten durchgespielt, die uns eingefallen sind, und die Bilder an sämtliche Polizeidienststellen in Los Angeles geschickt. Wenn der Kerl noch in der Gegend ist, dann stoßen wir früher oder später auf ihn.«
»Oh, der ist garantiert noch in der Gegend«, sagte Hunter mit felsenfester Überzeugung. »Wir werden uns auch die Bars und Nachtclubs vornehmen. Wir fangen heute Abend in Santa Monica an. Mit etwas Glück hat ihn ja vielleicht jemand vor kurzem gesehen.«
»Gut …«
Hunter merkte, dass der Captain irgendwie herumdruckste. »Irgendwas liegt Ihnen noch auf der Seele, oder?«
Der Captain ging zu seiner Kaffeemaschine. »Kaffee?«
Hunter schüttelte den Kopf. Den Fehler, einen Kaffee vom Captain anzunehmen, hatte er nur einmal gemacht. Er sah zu, wie sich der Captain eine Tasse eingoss und vier Stück Zucker hineinfallen ließ.
»Die Frau, die Ihnen diese Beschreibung gegeben hat … Haben Sie etwas mit ihr? Haben Sie eine Beziehung mit einer potentiellen Zeugin?«
»Moment mal, Captain. Die Nummer ist hier völlig fehl am Platz«, erwiderte Hunter alarmiert. Er schaltete sofort auf Verteidigung. »Wir waren ein paarmal zusammen, aber ich habe sie kennengelernt, bevor sich herausstellte, dass sie einem potentiellen Verdächtigen begegnet ist. Ich habe sie einfach nur in einer Bar getroffen … und sie ist auch keine potentielle Zeugin. Sie hat ja gar nichts gesehen, was es zu bezeugen gäbe.«
»Ach, Sie wissen genau, was ich meine. Eine persönliche Beziehung mit jemandem, der auf irgendeine Art und Weise in eine laufende Ermittlung involviert sein könnte, ist, um es mal milde auszudrücken, riskant. Um es deutlicher zu sagen, es verstößt gegen die Regeln und ist dumm.«
»Ich habe mit ihr geschlafen. Das heißt noch lange nicht, dass ich eine Beziehung mit ihr habe. Schon gar nicht in L.A. Und sie ist auch nicht in diese Untersuchung involviert. Sie ist weder eine Zeugin noch eine Verdächtige. Sie ist ein glücklicher Zufall für uns, und ehrlich gesagt, einer, den wir verdammt dringend gebraucht haben.«
»Haben Sie auf einmal den Verstand verloren?« Der Ton des Captains war knochentrocken. »Sie wissen doch, wie Serienkiller arbeiten. Oder, um es präziser zu sagen, Sie wissen genau, wie dieser hier arbeitet. Er erstellt Profile von Leuten, genau so, wie wir versuchen, eins von ihm zu erstellen. Er studiert seine potentiellen Opfer, manchmal monatelang, weil er weiß, wenn er sich das falsche aussucht, ist sein Spiel aus. Wenn das unser Kerl ist, dann glauben Sie doch wohl nicht ernsthaft, dass er Ihrer Freundin in dieser Bar nur zufällig begegnet ist?«
Genau dieser Gedanke geisterte Hunter im Hinterkopf herum, seit Isabella ihm von dem Mann im Venice Whaler erzählt hatte. Hunter wusste, wie methodisch der Killer vorging. Keine Fehler, keine Unachtsamkeiten. Er beschattete seine Opfer, studierte ihre Gewohnheiten, ihre Tagesabläufe und wartete auf den passenden Augenblick, um zuzugreifen.
»Ich weiß, Captain. Es wäre möglich, dass der Killer sich auf diese Art seine Opfer aussucht. Dass er sie in einer Bar oder einem Nachtclub mit einer belanglosen Bemerkung anspricht, um einen Eindruck von ihnen zu gewinnen.«
»Und das beunruhigt Sie nicht?«
»Alles an diesem Fall beunruhigt mich, Captain. Aber dieser spezielle Vorfall gibt eher Anlass zur Hoffnung.«
»Zur Hoffnung? Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, fragte der Captain mit großen Augen.
»Die Begegnung ist über zwei Monate her. Das heißt, sie fand statt, bevor er wieder mit dem Morden anfing. Der erste Mord ist ja gerade erst eine gute Woche her. Vielleicht hatte er sich Isabella als potentielles Opfer ausgesucht, und etwas an ihr hat ihn gestört. Vielleicht passte sie nicht in sein Opferprofil, also ließ er sie in Ruhe und hielt nach jemand anderem Ausschau.«
»Der gesichtslosen Frau?«
Hunter nickte.
Captain Bolter trank einen Schluck Kaffee und verzog angeekelt das Gesicht. »Aber warum? Warum sollte er sie nicht als Opfer wollen? Sie lebt allein, nicht wahr?«
»Ja.«
»Damit wäre sie doch ein leichtes Ziel. Weshalb hat er sie aussortiert?« Bolter ging zur Kaffeemaschine zurück und warf zwei weitere Stück Zucker in seine Tasse.
»Das weiß ich auch noch nicht, aber es ist einer der Gründe, weshalb ich in ihrer Nähe bleiben muss. Ich muss herausfinden, weshalb sie nicht in sein Profil gepasst hat. Vielleicht ist sie zu eigenwillig. Isabella ist keine Frau, der man etwas vormachen kann. Vielleicht hat ihn die Tatsache, dass sie seine Tätowierungen bemerkte, aufgeschreckt. Vielleicht hat er den Eindruck gewonnen, dass sie doch kein so leichtes Ziel ist.« Hunter schwieg einen Moment lang unbehaglich. »Oder aber sie ist nach wie vor ein potentielles Ziel und steht nur einfach weiter unten auf der Liste des Killers.«
Diese Möglichkeit hatte Captain Bolter noch nicht bedacht. »Glauben Sie das?«
»Bei diesem Killer ist alles möglich, Captain. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Jeder könnte sein nächstes Opfer sein«, bemerkte Hunter skeptisch. Die Hitze im Büro wurde allmählich unerträglich. »Darf ich ein Fenster aufmachen?«, fragte er.
»Und den Stadt-Smog in mein Büro lassen? Zum Henker, nein.«
»Ist Ihnen nicht heiß?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Kann ich dann wenigstens einen der Ventilatoren anschalten?«
Der Captain lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Wenn es sein muss.«
»Danke.« Hunter schaltete einen der Ventilatoren auf die höchste Stufe.
»Was glauben Sie? Könnte der Kerl unser Täter sein?«, fragte der Captain.
»Schwer zu sagen. Aber er ist auf jeden Fall von Interesse.«
»Das heißt, wenn er unser Täter ist, hat er seinen ersten Fehler seit drei Jahren gemacht?«
»Aus seiner Sicht hat er keinen Fehler gemacht.«
Captain Bolter sah Hunter verdutzt an.
»Sehen Sie, Captain, er hat ja nur jemanden in einer Bar angesprochen, und wie gesagt könnte das seine Methode sein, sich seine Opfer auszusuchen.«
»Aber er hat nicht damit gerechnet, dass die Frau, die er ansprach, ausgerechnet Ihre Freundin werden würde.« Ein fast boshaftes Lächeln spielte um Captain Bolters Lippen.
»Sie ist nicht meine Freundin«, erwiderte Hunter fest. »Aber ja, er konnte nicht damit rechnen, dass wir beide uns kennen. Und wir hätten auch nie erfahren, dass es zu dieser Begegnung kam, wenn ich nicht geistesabwesend das Doppelkreuz auf ein Blatt Papier gekritzelt hätte, während ich im Wohnzimmer saß und wartete. Deshalb meinte ich eben, dass es ein glücklicher Zufall für uns ist.«
»Wir werden die ganze Sache nicht mehr lange vor der Öffentlichkeit geheim halten können. Wenn er noch einmal mordet, wird die Presse Nachforschungen anstellen, und dann dauert es garantiert nicht mehr lange, bis irgend so ein neunmalkluger Reporter die neuen Morde mit den Kruzifix-Morden in Verbindung bringt. Und wenn das passiert, dann sind wir erledigt.«
»Ich spüre, dass wir dicht dran sind, Captain. Diesmal müssen Sie mir vertrauen.«
Captain Bolter fuhr sich mit der Hand über den Schnauzbart und musterte Hunter mit Laserblick. »Ich habe Ihre Ansicht schon einmal ignoriert und teuer dafür bezahlt. Die ganze Abteilung hat teuer dafür bezahlt, und ich weiß, dass Sie selbst es sich niemals verziehen haben. Dieser millionenschwere Plattenproduzent. John Spencer hieß er, nicht wahr?«
Hunter nickte schweigend.
»Sie haben auf mich und Wilson eingeredet, dass wir den Falschen hätten. Dass er seine Frau nicht umgebracht haben kann. Dass er einfach nicht das Zeug zum Mörder hätte. Aber wir wollten es nicht hören. Sie wollten mit der Untersuchung fortfahren, selbst nachdem der Fall offiziell abgeschlossen war, und ich habe es Ihnen untersagt, das weiß ich sehr wohl noch. Himmel noch mal, ich hätte Sie beinahe vom Dienst suspendiert.« Captain Bolter beugte sich vor, stützte beide Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf den geballten Fäusten ab. »Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal. Tun Sie, was immer Sie für notwendig halten, Robert. Aber fangen Sie mir diesen gottverdammten Killer.«