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Kinderkliniken und psychiatrische Einrichtungen ausgenommen, gab es im zentralen Stadtbereich von Los Angeles insgesamt acht Krankenhäuser, doch nur vier hatten in den letzten Tagen anonyme Zugänge zu verzeichnen. Jerome gab sich mal als Arbeitskollege, mal als Freund aus, wurde jedoch in keinem der vier fündig. Wenn Jenny in irgendeinem Krankenhaus gelandet war, dann jedenfalls nicht in Downtown L.A.
Jerome hatte überlegt, ob er seine Suche noch auf Santa Monica, San Diego, Long Beach und Santa Ana ausweiten sollte, doch das hätte eine ganze Woche gedauert, und so viel Zeit hatte er nicht. So beschloss er, Detective Culhane zu kontaktieren.
Mark Culhane hasste es zwar, von einem Kriminellen, einem Drogenboss, Geld zu erhalten, doch konnte er die Finanzspritzen gut gebrauchen. Es war mehr als das Doppelte von dem, was er beim Drogendezernat verdiente. Als Gegenleistung wurde von ihm erwartet, dass er bei größeren Drogengeschäften wegschaute, die Ermittlungen ein wenig behinderte und hin und wieder eine Insider-Information herausrückte. Die Welt ist nun mal korrupt, und es hatte D-King nicht allzu viel Mühe gekostet, jemanden wie Mark Culhane zu finden.
Jerome und Culhane trafen sich im In-N-Out Burger Restaurant in der Gayley Avenue, einem von Jeromes bevorzugten Hamburger-Lokalen. Als Culhane eintraf, hatte Jerome bereits seinen zweiten Double-Double-Burger intus.
Culhane war neunundvierzig, eins siebzig groß, hatte schütteres Haar und einen beängstigenden Bierbauch. Jerome fragte sich immer, wie Culhane eigentlich einen Flüchtigen zu Fuß verfolgen wollte.
»Culhane … setzen Sie sich«, sagte Jerome, während er sich seine letzten Pommes in den Mund schob.
Culhane nahm Jerome gegenüber an dem Tisch Platz, der im altmodischen Stil durch die hohe Rückenlehne der Sitzbank vom nächsten Tisch abgeschirmt war. Er sah älter aus, als ihn Jerome in Erinnerung hatte. Die Tränensäcke waren noch größer geworden. Jerome hatte keine Zeit für höfliche Konversation, deshalb schob er dem Detective wortlos einen braunen Umschlag zu. Culhane griff danach, hielt ihn sich direkt vor die Brust wie ein Blatt Pokerkarten und warf einen Blick auf das Foto.
»Sie ist verschwunden«, erklärte Jerome.
»Ach ja? Wieso versucht ihr es dann nicht bei der Vermisstenstelle? Ich bin im Drogendezernat, schon vergessen?«, erwiderte Culhane genervt.
»Was soll denn der Ton?«, fragte Jerome zurück und nahm einen kräftigen Schluck von seinem Riesenbecher Root-Beer.
Culhane schwieg.
»Sagen wir einfach, sie liegt D-King besonders am Herzen.« Er schob Culhane noch einen braunen Umschlag zu. »Kleines Extra.«
Diesmal musste Culhane nicht erst hineinsehen, um zu wissen, was drin war. Er nahm den Umschlag und steckte ihn in seine Jackentasche.
»Wie heißt sie?«, fragte er in besänftigenden Ton.
»Jenny Farnborough.«
»Ist sie ihm abgehauen, oder vermutet ihr was anderes?«
»Wir sind nicht sicher, aber eigentlich ist sie nicht der Typ, der einfach abtaucht. Sie hat keinen Grund wegzulaufen. Außerdem sind ihre Sachen alle noch da.«
»Nimmt sie was? Ist sie vielleicht einfach nur auf ’nem Trip hängengeblieben und liegt irgendwo rum?«
»Unwahrscheinlich. Sie kokst hin und wieder mal, um sich bei Laune zu halten, aber sie ist kein Junkie. Sonst würde sie nicht für den Boss arbeiten.«
»Freund? Familie?«
»Kein Freund, und ihre Familie lebt irgendwo in der Pampa in Idaho oder Wyoming, aber mit denen kommt sie sowieso nicht klar.«
»Wann habt ihr sie das letzte Mal gesehen?«
»Letzten Freitagabend. Sie war mit dem Boss weg, ein paar andere Mädels waren auch noch mit dabei. Sie ist aufs Klo gegangen, ihr Make-up auffrischen oder so, und danach war sie weg, einfach so.«
»Vielleicht wurde sie festgenommen und hängt noch in irgendeiner Ausnüchterungszelle ab.«
»Dann hätte sie angerufen, außerdem gibt’s keinen Grund, wieso sie festgenommen werden sollte. Aber checken Sie das ruhig mal ab.«
»Kann ich Ihnen irgendwas bringen?« Die Frage kam von einer jungen brünetten Bedienung, die an ihren Tisch getreten war.
»Nein, danke«, sagte Culhane mit einer abwehrenden Geste und wartete, bis die Bedienung wieder außer Hörweite war. »Muss ich sonst noch was wissen?«, fragte er Jerome.
»Nein, ich schätze, das wäre alles.«
»Hat sie vielleicht Geld geklaut oder so, irgendwas, was ihr einen Grund gäbe abzutauchen?«
»Nicht von uns.«
»Spielschulden?«
»Nicht dass wir wüssten.«
»Und wenn sie noch mit jemand anderem im Geschäft war, bei D-Kings Konkurrenz vielleicht?«
»Niemals«, gab Jerome mit einem Kopfschütteln zurück. »Sie war ein richtig gutes Mädchen, vielleicht sein bestes. Sie hatte absolut keinen Grund, vor irgendwas wegzurennen.« Er trank erneut an seinem Root-Beer.
»Die Guten sind normalerweise die Schlimmsten«, sagte Culhane, doch Jerome fand die Bemerkung nicht amüsant. »Seit wann ist sie bei D-King?«
»Knapp drei Jahre.«
»Vielleicht hatte sie einfach genug und wollte raus.«
»Sie wissen doch, dass der Boss kein Problem damit hat, wenn ein Mädchen rauswill. Wenn sie genug hatte, hätte sie es bloß zu sagen brauchen. Und wie schon gesagt, sie hat nichts mitgenommen.«
»Okay, geben Sie mir vierundzwanzig Stunden Zeit, und ich sehe zu, was ich rausfinden kann.« Culhane schickte sich an zu gehen.
»Culhane.«
»Ja?« Culhane wandte sich noch einmal zu Jerome um.
»D-King will keinen Wirbel um die Sache. Also gehen Sie bloß nicht mit dem Foto hausieren.«
Culhane nickte und ging zur Tür, während Jerome sich die Speisekarte schnappte und die Desserts aufschlug.
Im Wagen angelangt, sah sich Culhane das Foto noch einmal genauer an, das Jerome ihm gegeben hatte. Das Mädchen sah atemberaubend aus. Um mit so einer zu schlafen, musste man einen ziemlichen Haufen Geld hinblättern. Er befühlte den anderen Umschlag in seiner Jackentasche. Hallo, neuer Wagen, dachte er und grinste breit.
Culhane vermutete, dass das Mädchen auf dem Foto in Schwierigkeiten steckte. D-King war ziemlich gut zu seinen Mädchen – schöne Wohnungen, teure Klamotten, Drogen gratis, ein Leben wie ein Superstar. Er hatte noch nie gehört, dass eine von ihnen abgetaucht wäre.
Er könnte damit anfangen, die Krankenhäuser zu checken, aber das würde eine Ewigkeit dauern. Er überlegte kurz, zog dann sein Handy heraus und rief Peter Talep an, einen guten Freund bei der Vermisstenstelle des LAPD.
»Peter, hier ist Mark vom Drogendezernat, wie geht’s? Sag mal, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun …«
Die Abteilung für vermisste Personen beim LAPD war 1972 eingerichtet worden. Ihr Zuständigkeitsbereich war das gesamte Stadtgebiet von Los Angeles. Über fünfundzwanzig Detectives kümmerten sich dort um vermisst gemeldete Erwachsene. Peter Talep war einer von ihnen.
Peter und Culhane trafen sich in der Eingangshalle des South Bureau Police Departments an der 77th Street. Wenn Culhane Peter bitten wollte, inoffiziell in der Vermisstendatenbank nach jemandem zu suchen, musste er ihm eine gute Geschichte auftischen, sonst riskierte er hochgezogene Augenbrauen. Also erzählte er ihm, Jenny sei eine seiner wichtigsten Informantinnen aus der Drogenszene und irgendwann im Lauf der letzten zweiundsiebzig Stunden verschwunden. Culhane wollte, dass Peter über den Zugang seiner Abteilung die Krankenhausdatenbank überprüfte.
»Hast du ein Foto von dem Mädchen?«, fragte Peter.
»Leider nicht, deswegen muss ich selbst mit dir die Daten durchgehen. Fotos von Informanten können einem einen Haufen Scherereien einbringen«, log Culhane. Wenn D-King die Sache verschwiegen behandelt wissen wollte, wäre es keine so gute Idee, Peter das Foto zu geben.
»Na gut, wonach suchen wir?«
»Eine Frau, kaukasischer Typ, ungefähr drei-, vierundzwanzig, blond, blaue Augen, sieht umwerfend aus. Wenn du ein Foto von ihr sehen würdest, wüsstest du sofort, was ich meine«, sagte Culhane mit einem verschmitzten Grinsen.
»Wann hattest du das letzte Mal Kontakt zu ihr?«
»Letzten Freitag.«
»Hat sie vielleicht Familie in der Nähe, irgendwen, der sie als vermisst melden würde?«
»Nein, ich glaube nicht, sie lebt allein. Ihre Familie ist von außerhalb.«
»Fester Freund oder Ehemann?«
»Nein.«
»Das heißt, niemand würde sie vermisst melden? Du bist der Erste?«
»Genau«, bestätigte Culhane.
»Also, wenn sie am Freitag verschwunden ist, dann bist du viel zu früh dran«, sagte Peter und schüttelte den Kopf.
»Wie meinst du das? Wieso zu früh?«
Peter rollte sich auf seinem Schreibtischstuhl vom Computer weg. »Sämtliche Einträge, die wir in unserer Datenbank haben, beziehen sich auf Personen, die von irgendjemandem vermisst gemeldet wurden – einem Familienangehörigen, dem Freund, wem auch immer. Normalerweise bringen die Leute ein Foto mit und füllen dann eine Vermisstenmeldung aus, du kennst ja das Prozedere. Und diese Meldung wird dann in die Vermisstendatenbank eingespeist. Wenn jemand nicht vermisst gemeldet wird, gibt’s auch keinen Eintrag.«
»Ja, aber was ist mit nicht identifizierten Personen, zum Beispiel namenlose Einlieferungen in den Krankenhäusern?«
»Die gibt’s eigentlich nicht oft.«
»Mag sein. Aber es gibt sie doch, oder?«
»Schon, aber dann müssten sie entweder bewusstlos sein oder unter Amnesie leiden. In diesem Fall würde das Krankenhaus für gewöhnlich zwischen sieben und vierzehn Tage warten, bevor sie den Patienten tatsächlich als namenlos bezeichnen und uns melden. Dann gleichen wir das Bild, das uns das Krankenhaus geschickt hat, mit der Datenbank ab, und wenn sich da kein Treffer ergibt, wird das Foto in die Datenbank für nicht identifizierte Personen eingespeist. Das heißt, wenn sie am Freitag verschwunden ist und niemand sie als vermisst gemeldet hat, dann ist es viel zu früh, um in der Datenbank nach ihr zu suchen. Falls sie bewusstlos in irgendeinem Krankenhaus liegt oder das Gedächtnis verloren hat, musst du entweder warten, bis sie wieder zu sich kommt, oder Krankenhaus für Krankenhaus abklappern, oder du kannst in zwei Wochen wieder bei mir nachfragen.«
»Mist!«
»Tut mir leid, Mark, aber ich fürchte, ich kann im Moment nichts für dich tun.«
»Schon gut. Trotzdem danke.«
Vor dem Gebäude des South Bureau Police Department blieb Culhane in seinem Wagen sitzen und überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben. Ganz sicher würde er nicht sämtliche Krankenhäuser in L.A. nach einer von D-Kings Nutten absuchen. Die Übersicht der Festnahmen des vergangenen Wochenendes, die er angefordert hatte, war ihm gerade eben ins Auto gefaxt worden. Auf sechs Mädchen passte seine Beschreibung. Drei waren bereits wieder auf Kaution frei. Und eine Ahnung sagte ihm, dass auch keine der anderen drei die Gesuchte war.
Es dauerte ungefähr fünf Minuten, bis die Fotos durch das Faxgerät kamen. Wie er vermutet hatte, war keine von ihnen Jenny. Blieb nur noch eine Möglichkeit: Er musste die Leichen überprüfen.
Er konnte einfach beim Morddezernat anrufen, doch zwischen denen und der Drogenfahndung herrschte von jeher böses Blut. Allzu häufig führte die Ermittlung der einen Behörde irgendwann zur anderen. In L.A. gingen Morde und Drogen Hand in Hand.
Zum Teufel mit dem Morddezernat, dachte Culhane. Wenn Jenny tot war, dann wusste er, wo er sie suchen musste: in der Leichenhalle der Rechtsmedizin.