EPILOG

Dad hat immer gesagt: Es kann sich noch so viel ändern, am Ende bleibt alles beim Alten. Jetzt, wo ich älter werde, beginne ich zu verstehen, was er meinte.

Ich wollte gerade aus der Tür gehen, als das Telefon klingelte. «Mom?» Es war acht Uhr morgens, da war sie sonst längst im Atelier. Es musste etwas Wichtiges sein.

Ihre Stimme ertönte aus dem Lautsprecher. «Hallo, meine Süße.»

Offenbar war sie noch nicht bei der Arbeit. Ich sah sie vor mir, wie sie mit ihrem uralten schnurlosen Telefon durch die Küche lief. Ich hatte keine Ahnung, wie sie überhaupt noch Akkus dafür auftrieb. Maddie und ich hatten versucht, ihr ein moderneres aufzuschwatzen, aber Mom wollte keinen elektronischen Firlefanz, weil man sich darauf nicht verlassen könne.

«Ich weiß, dass du ins Labor musst, Kate. Ich wollte nur schnell hören, ob du unseren Freitag auch nicht vergessen hast.»

Was sollte das denn? Natürlich hatte ich den Freitag im Kopf. Den einen Tag im Jahr, an dem wir außer an den Feiertagen alle zusammenkamen. «Natürlich nicht. Frank kommt auch mit.»

«Wunderbar. Dann wird das Haus ja voll. Ist euch sechs Uhr recht?»

Mom wohnte eine Stunde entfernt. Ich würde im Labor früher Schluss machen müssen. «Sechs ist gut. Meinst du, dass Jacob mit mir fahren will?»

«Den holt Onkel Mike ab.»

Ich erschrak ein wenig. «Ist das wirklich eine gute Idee?»

«Ja, klar. Es sind nur zwei Stunden bis zur Uni, und es ist noch früh am Tag.»

«Trotzdem.» Jede Kleinigkeit konnte dazu führen, dass mein Onkel aus der Rolle fiel. Ein Lied im Radio, der Duft von Keksen im Ofen.

«Ja, ich weiß», sagte Mom. «Aber Mike wird aufpassen. Und er braucht ein bisschen Zeit allein mit Jake.»

«Na schön.» Ich musste endlich diese Große-Schwester-Allüren ablegen. Mom würde bestimmt keine unnötigen Risiken eingehen. Darauf konnte ich mich absolut verlassen. Das würde sich niemals ändern, auch wenn sonst alles drunter und drüber ging.

«Ach, noch was, Kate. Ich habe eine Überraschung für dich.»

Ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. «Was für eine Überraschung denn?» Wollte sie das Haus verkaufen? Wieder heiraten? Umziehen? Nicht alle Überraschungen mussten schlecht sein. Das sollte ich mir wirklich mal merken.

«Das wirst du dann sehen.» Ihr Ton war leicht.

Überraschungen brachten Veränderungen. Sie waren nicht gerade meine Stärke. Dafür beunruhigten sie mich viel zu sehr. Ich hoffte, dass sie nur eine kleine Überraschung parat hatte, bei der meine Richterskala nicht gleich ausschlagen würde.

 

Wir haben nicht allzu lange in der Hütte gewohnt, nur zwei Jahre, so lange, bis Mom sicher war, dass sich die Dinge wieder so weit normalisiert hatten, wie es nach allem, was passiert war, möglich war. Doch jedes Mal, wenn ich in die Einfahrt zu unserem Haus in Columbus bog, überkam mich das gleiche Gefühl wie damals bei unserer Rückkehr. Beklommenheit.

Das Haus der Guarnieris war vollkommen verfallen, kein Stein stand mehr auf dem anderen. Alles Brauchbare hatte man geborgen, und das Übrige holte sich die Natur zurück. Bei Maddie und ihren Freunden hieß es das Spukhaus, und obwohl ich sie damit aufzog, fand auch ich es unheimlich, im Dunkeln dort vorbeizugehen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Jodis Geist im Gestrüpp umherschwebte.

Auch andere Gegenden hatten ihre Spukhäuser, unvermittelte Lücken, in denen einst Häuser gestanden hatten, die abgebrannt oder verfallen waren, nachdem die Besitzer nicht mehr da waren. Man fuhr durch eine Straße oder spazierte auf dem Gehweg und stand plötzlich an einem Briefkasten, zu dem kein Haus mehr gehörte, oder an einer Einfahrt, die ins Leere führte.

Frank lächelte mir aufmunternd zu und stieß die Autotür auf. «Wollen wir?»

Maddie war schon da. Sie hatte ihr blaues Auto an der Straße geparkt, und ich hörte sie im Garten lachen. Barney der Dritte tollte schwanzwedelnd und bellend auf mich zu. Im Gegensatz zu Barney dem Ersten, der cremeweiß und schokoladenbraun gewesen war, war er schwarzweiß, aber Mom hatte ihn im Tierheim ausgesucht, und sie hatte recht behalten. Er war ein würdiger Nachfolger.

Ich bückte mich, um ihm die Ohren zu kraulen. Er schleckte mir übers Gesicht. Er hatte wirklich etwas vom guten alten Barney.

Onkel Mike machte die Haustür auf. «Katytan! Dachte ich mir doch, dass ich dein Auto gehört habe.»

Seine Umrisse hoben sich gegen das Flurlicht ab. Die Form seiner Schultern, die Art, wie er den Kopf neigte … einen Augenblick stockte mir der Atem. Dad. Mom sah es auch. Manchmal, wenn sie Mike anguckte, stand ihr die Trauer ins Gesicht geschrieben.

«Onkel Mike, du kennst Frank, oder?»

«Ja, klar.» Er grinste und klopfte Frank liebevoll auf die Schulter. Die meisten Leute mochten Frank. Er war ein stiller Typ, aber man merkte sofort, dass er eine treue Seele war, jemand, auf den man sich verlassen konnte. «Du bist der Kerl, der die Welt retten will.»

«Ganz genau. Mit Hilfe deiner Nichte.»

«Na, das soll uns nur recht sein.» Onkel Mike zog mich ins Haus. «Genug rumgestanden, Kate. Kommt doch rein.» Er schloss die Tür hinter uns, und mir wurde ein wenig flau.

Ich konnte diesen Flur nicht betreten, ohne mich daran zu erinnern, wie ich damals als Fünfzehnjährige wiedergekommen war, wie alles nach Ruß und Asche gerochen, ich die Einschusslöcher in der Wand gesehen hatte und wie die Glasscherben unter meinen Schuhen geknirscht hatten.

Mom hatte damals hörbar Luft geholt, und Maddie hatte sich hinter mir durch die Tür gedrängt. Draußen war unglaublich schönes Wetter gewesen. Wir waren Mom von Zimmer zu Zimmer gefolgt, und unsere Schritte hallten durch die leeren Räume. In den zwei Jahren unserer Abwesenheit war offenbar immer wieder eingebrochen worden, es waren Dinge gestohlen, Möbel verbrannt, Gardinen von den Fenstern gerissen worden. Mom hatte eine Weile alles stumm in sich aufgenommen. Ihr Blick war an einem Vogelnest im Kronleuchter im Wohnzimmer hängengeblieben. «Tja, ihr zwei», hatte sie gesagt. «Sieht aus, als hätten wir jede Menge Besuch gehabt, während wir weg waren.»

An Moms Seite hatte die Schrotflinte gehangen. Wir hatten uns an ihren Anblick gewöhnt. Nachts schliefen wir mit der Waffe im Zimmer, und wenn wir in die Stadt fuhren, versteckten wir sie zwischen den Sitzen. Aber Mom hatte sie nur das eine Mal gebraucht, in jener letzten Nacht, als ich dachte, sie hätte den Mann erschossen und, schlimmer noch, auch Barney.

Barney war ungeschoren davongekommen. Dem Einbrecher war es weniger gut ergangen.

Stöhnend hatte er auf dem Boden gelegen. Barney hatte geknurrt und gebellt und bei der kleinsten Bewegung nach ihm geschnappt. Ich war an meinem Platz an der Wand vollkommen erstarrt, zu Tode erschrocken vom vielen Blut. Im Mondlicht hatte es ausgesehen wie schwarze Farbe.

Mom hatte die Flinte auf den anderen Einbrecher gerichtet. «Hau ab und nimm ihn mit», sagte sie in dem kältesten Ton, den ich je bei ihr gehört hatte. Er machte mir Angst. Der lange dünne Mann lief zu seinem Freund und schleppte ihn aus dem Haus. Der Verletzte schrie vor Schmerz, als er über die Stufen vor dem Haus geschleift wurde. Ich gebe es ungern zu, aber es tat mir gut, ihn leiden zu hören.

Wir haben nie erfahren, was aus den beiden geworden ist. Mom hatte ihnen noch lange nachgeblickt, nachdem sie in der Dunkelheit verschwunden waren, die Flinte in der Hand, und sich dann zu mir umgedreht.

«Kate», sagte sie. «Ich brauche dich. Du musst mir helfen, das Auto zu beladen.»

Ihre Stimme war wieder normal, aber es war eine Veränderung in ihr vorgegangen.

 

Es dauerte eine Weile, bis alles wieder ganz war, aber Onkel Mike half uns. Er war eines Tages aufgetaucht und hatte mich beinahe zu Tode erschreckt, als er so plötzlich vor der Tür stand, aber es stellte sich heraus, dass Mom und er sich Mails geschrieben hatten. Sie kam die Treppe herunter und fiel ihm um den Hals. «Ich habe so gehofft, dass du kommst.» Sie wischte sich die Freudentränen ab und küsste ihn auf beide Wangen. «Wir sind jetzt deine Familie», hatte sie gesagt. Damals hatte sich alles in mir gesträubt, weil ich dachte, sie meinte, er würde von nun an Dads Stelle einnehmen. Inzwischen weiß ich, dass wir ihm die Familie ersetzen sollten. Seine Frau und sein Sohn Mikey, an den ich mich kaum erinnern kann, waren gestorben. Er spielte gern mit Autos und tobte unter dem Rasensprenger. Aber vielleicht sehe ich da auch nur Jacob vor mir. Das Gedächtnis spielt einem manchmal komische Streiche.

«Die anderen sind hinten», sagte Onkel Mike. «Jake holt gerade noch Eis, aber er muss jeden Moment zurück sein.»

Wir gingen durch die Küche. Dort hatte sich am meisten verändert. Mom hatte die Dielen rausgerissen, eine Fußbodenheizung eingebaut und Terrakottafliesen verlegt. Die alten Möbel waren durch eine Ledergarnitur mit filigranen schmiedeeisernen Gestellen ersetzt worden, die ein Freund aus der Künstlerkolonie gebaut hatte, in der sie jetzt verkehrte. An den Fenstern hingen bunte handgewebte Schals. Im Wohnzimmer brannte ein Feuer im Kamin, obwohl es ein warmer Oktoberabend war. Und es gab weitere, weniger sichtbare Veränderungen – den riesigen Generator in der Garage, die Solaranlage auf dem Dach.

Auf dem Küchentisch standen Schüsseln mit Essen. Ein bunter Blattsalat, rote und gelbe Äpfel, Weintrauben. Und auf der Theke stand noch mehr. Eine Käseplatte, eine Schüssel mit Avocadocreme, eine reife Ananas. Ich wusste, ohne nachzusehen, dass die Speisekammer bis oben hin mit Schachteln und Büchsen vollgestopft war. Der Kühlschrank war mit frischen Sachen gefüllt, und in der Gefriertruhe lagerten Fleisch und Gemüse.

Mein Schwager war dabei, etwas aus dem Ofen zu holen. Einen von Mutters alten verbeulten Töpfen mit geschwärztem Boden. Maddie und ich hatten ihr vor ein paar Jahren zu Weihnachten einen neuen Satz gekauft, aber wir hatten ihn noch nie in Gebrauch gesehen.

«Ich staune immer, dass das alte Ding nicht auseinanderfällt.» Alan schloss die Ofentür mit dem Knie. Er kam um die Insel in der Mitte der Küche und umarmte mich. Sein Hemd war knallrot, und dazu trug er eine gelbe Krawatte.

Laut und fröhlich wie immer. Und hatte er tatsächlich abgenommen? Maddie versuchte immer, ihn zu mehr Fitness zu animieren. «Riecht köstlich, Alan.»

Er schüttelte Frank kräftig die Hand. «Das ist ein neues Rezept. Ihr müsst mir unbedingt sagen, wie es euch schmeckt.»

Onkel Mike nahm ein Glas in die Hand. «Ich werde euch beiden was zu trinken holen.» Er stützte sich mit einer Hand an der Küchentheke ab. Vermutlich hatte er sich schon den einen oder anderen Schluck genehmigt.

Mom hatte mir erzählt, dass er früher nicht getrunken hatte. Ich hoffte vor allem, dass er noch nüchtern war, als er Jacob abgeholt hatte.

«Lieber erst später», sagte ich, und Frank nickte.

Maddie war mit ihren Kindern bei der Schaukel. Sie winkte, und ich winkte zurück. Mom saß auf der Terrasse, mit dem Blick dahin, wo früher die Birke gestanden hatte, die vor einigen Jahren vom Blitz getroffen worden war. Ich war eines Nachmittags hinzugekommen, als sie dabei war, ein Loch für einen Schössling zu graben, dessen Wurzeln noch in einem Jutesack steckten. Erst mit Hilfe von Dr. Singh von gegenüber schafften wir es, den neuen Baum zu setzen.

Mom erhob sich, als wir hinaustraten. Ihre Umarmung war herzlich wie immer. Und sie roch vertraut – nach Rosen und sonnenwarmer Baumwolle.

Ich drückte sie einen Augenblick länger als nötig. Hinter uns knarrte die Gartenpforte.

«Katie!»

Als ich mich umdrehte, stand mein kleiner Bruder da, groß, braungebrannt und … ohne Bart. «Du hast dir das Ding abrasiert.»

Er rieb sich traurig das Kinn. «Ja, die Frauen sind nicht so drauf geflogen, wie ich dachte.» Er kippte die Eiswürfel in die Kühlbox am Tisch und umschlang mich mit seinen langen Armen. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um die Umarmung zu erwidern.

Natürlich hatte er William nicht ersetzen können. Er war nicht William. Zum einen war er blond, und seine Augen waren braun. Er hatte Grübchen, für die Maddie und ich alles gegeben hätten, und einen Hang zum Unfug, durch den er öfter mal aneckte, aber zum Glück war er so charmant, dass es ihm immer gelang, sich wieder rauszuboxen. Wir kannten ihn beinahe sein ganzes Leben lang, und er liebte unsere Mom genauso wie wir. Wenn ihn das nicht zum Mitglied der Familie machte, was dann?

«Ehe ich’s vergesse», sagte er. «Im Laden hab ich Connie Nguyen getroffen. Sie sagt, ich soll euch grüßen.»

Mom lächelte. «Sie ist ein nettes Mädchen.»

Jake verdrehte die Augen. «Ja, ja.»

Mom versuchte ständig, eine Freundin für ihn zu finden.

«Wie ich höre, warst du dieses Semester artig», frotzelte ich.

Sein Grinsen wurde breiter. «Wenn du das sagst.»

Ich stöhnte und knuffte ihn schwesterlich. «Wenn Mom doch wieder einen Anruf vom Dekan kriegt …»

Lachend schüttelte er Frank die Hand. «Schön, dich zu sehen.»

«Ebenso.» Frank lächelte. «Was macht denn das Filmseminar?»

«Mann, du müsstest mal die Kulisse sehen, die wir gebaut haben.» Er nahm sich einen Stuhl, und Frank setzte sich zu ihm. Sofort vertieften sich die beiden in Fachsimpeleien, bei denen wir anderen überhaupt nicht mitkamen.

Ich verdrehte die Augen, und Mom grinste. «Geh mal deine Schwester begrüßen. Ich bleib hier und leiste meinen Jungs Gesellschaft.»

Meine Jungs. Das schloss Frank mit ein. So war es eben. Alle mochten ihn. Was es mir nicht unbedingt leichter machte.

Maddie saß auf dem Sandkistenrand und sah zu, wie ihr kleiner Sohn Petey mit einer Plastikschaufel auf den Sand einhieb. Kayla hockte vor der Schaukel und stocherte im Boden herum. Als sie mich sah, quietschte sie: «Tante Kate! Tante Kate!»

«Hallo, kleine Maus.» Ich winkte und setzte mich zu meiner Schwester.

Maddie sah mich an und grinste. «Sie hat ein Bild für dich gemalt.»

«Klasse.» Ich hatte schon eine ganze Sammlung von Kaylas Bildern. Ich neckte sie immer damit, dass sie mir eines Tages die Rente aufbessern würden. Seit kurzem malte sie mit Ölkreide. Das wusste ich von Mom, die stolz hinzugefügt hatte, dass das für eine Fünfjährige eigentlich noch viel zu schwer sei. Offensichtlich waren die Kunstgene über die mütterliche Linie weitergereicht worden. Nur mich hatten sie übersprungen. Ich konnte nicht mal Strichmännchen zeichnen.

«Was macht deine Ausstellung in der Galerie?», fragte ich.

«Gerade hat ein Kritiker aus Chicago für die Eröffnung zugesagt.» Maddie grub ihre nackten Zehen in den Sand. Petey streckte sich und haute ihr mit dem Schäufelchen auf den Fuß. «Au.» Sie zog ihren Fuß weg und rieb sich die Stelle.

«Er ist schon wieder gewachsen.»

«Der Arzt sagt, er liegt über dem oberen Durchschnitt.»

«Dann kommt er nach Alan. Aus unserer Familie hat er das sicher nicht.» Wir grinsten beide.

Von der Schaukel rief Kayla: «Schiebst du mich an, Tante Kate?»

«Ja», rief ich. «Ich komme gleich.»

Sie nickte und schob ihren Po auf den hölzernen Sitz.

«Hat Mom dir was von einer Überraschung gesagt?», fragte ich Maddie.

Sie nickte. «Aber ich habe das Gefühl, die ist mehr für dich als für mich oder Jacob.»

«O Gott, hoffentlich nicht schon wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass wir endlich einen Termin für die Hochzeit festlegen sollen.»

Maddies Blick wanderte zur Terrasse, wo Mom und Onkel Mike gerade über irgendeinen von Jacobs Scherzen lachten. Frank hatte sich zurückgelehnt, mit verschränkten Armen, ein Bild der Zufriedenheit. «Wie sieht es denn aus mit euch beiden?», fragte sie.

«Gut, denke ich.» Mal so, mal so. Ich war hin-und hergerissen. Oft schien alles ganz einfach. Wenn Frank und ich abends vor dem Kamin saßen und lasen zum Beispiel oder wenn ich ihn anschaute, wenn er schlief. Warum nicht für immer? Aber manchmal, wenn er mich so ansah und offen zeigte, wie sehr sein Herz an mir hing, verkrampfte ich mich innerlich und hatte das Gefühl, dass ich zu mehr nicht fähig war.

«Er wird nicht ewig warten.» Maddies Stimme war sanft.

Ich zuckte die Achseln und wandte mich Petey zu, der hochkonzentriert Sand in einen Eimer rieseln ließ.

«Oh.» Maddie klang auf einmal anders. Sie schien verwirrt.

«Was ist?» Ich folgte ihrem Blick zum Haus.

«Kate! Maddie!», rief Mom. «Wir haben Besuch.»

Neben ihr stand jemand. Es war eine große, schlanke Frau.

«Wer ist das?», fragte Maddie mich leise.

«Ich hab nicht die geringste Ahnung.» Doch irgendwas an ihr kam mir bekannt vor. Mom und die Frau machten sich auf den Weg zu uns. Und auf einmal fielen die Jahre von mir ab, ich war wieder dreizehn, und es war Winter. Ungläubig stand ich auf.

Glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar, Mandelaugen, ein scheues Lächeln. «Ihr seid erwachsen geworden», sagte sie. Ihre Vokale waren weich, die Konsonanten präzise. Auch das war vertraut. Sie ließ ihren Blick auf mir ruhen, sah Maddie an und dann wieder zu mir. «Du siehst deinem Vater sehr ähnlich.»

«Shazia», sagte ich.

Ich glaube, Shazia und ich waren beide erstaunt, als wir uns unwillkürlich in die Arme fielen. Sie duftete nach Patschuli, und ihre Umarmung war herzlich. Mit einem Freudenschrei umschlang Maddie uns beide.

Schließlich löste ich mich. «Wo warst du? Mom, wie hast du sie gefunden?»

Mom grinste. «Wie wohl?»

Ihr Familiensuchdienst.

Die Einkünfte aus ihrem Unternehmen hatten uns damals über die ersten Jahre gerettet, während wir darauf warteten, dass die Universität und die Versicherung mit der Rente rüberkamen. Ich hatte einigermaßen gestaunt, als meine technisch unbedarfte Mutter stundenlang am Computer saß und Leuten dabei half, ihre verlorenen Angehörigen und Freunde wiederzufinden. Aber die entscheidende Veränderung war eigentlich erst später gekommen, als Mom wieder anfing zu malen und sich herausstellte, dass es ein unglaublich großes Interesse an postpandemischer Kunst gab. Eines Morgens kam ich in die Küche, und Mom war schon draußen auf der Terrasse. Sie stand an einer Staffelei, die ich noch nie gesehen hatte, und während ich beobachtete, wie sie die Palette hielt und sich vorbeugte, um die alte Birke in all ihrer Pracht wiederauferstehen zu lassen, ging mir auf, dass ich sie überhaupt nicht richtig kannte. Vermutlich war das der Moment, an dem sich unser Verhältnis besserte. Wie gesagt, nicht alle Überraschungen sind schlecht.

«Ich habe einen Sohn», sagte Shazia. «Ali.» Sie wandte sich Jacob zu, der neben Mom stand und uns neugierig beobachtete. «Er ist ungefähr so alt wie du.» Dann schüttelte sie den Kopf. «Ich kann es immer noch nicht glauben. Du bist schon ein Mann.»

«Schön wär’s, was, kleiner Bruder?», sagte ich, und Jacob und ich grinsten uns an.

Mom berührte Shazias Arm. «Ich würde ihn gerne mal kennenlernen.»

Shazia nickte. «Das fände ich auch schön. Im Augenblick studiert er in Kairo. Aber ich habe Bilder dabei.»

Später servierte Alan Kürbissuppe und Garnelen-Paprika-Spieße zu Paella. Jacob und Onkel Mike zündeten die Gartenfackeln an, und Jacob gab acht, dass Onkel Mike keinen Unsinn anstellte. Überall brannten Kerzen, flackernd und hell, und es duftete nach Blumen, Sandelholz, Vanille und Gewürzen.

Die untergehende Sonne spielte im Geäst der Bäume. Mal blitzte ein langer goldener Lichtstrahl auf, dann wieder ein leuchtendes Rot.

Ich half Mom in der Küche mit dem Kuchen. Es war der gleiche wie immer, Möhrenkuchen mit einem Guss aus Frischkäse.

Früher hatte ich immer genörgelt. ‹Warum können wir keine richtige Torte haben?›, hatte ich gefragt.

Inzwischen war es mein absoluter Lieblingskuchen.

«Hat Shazia dir erzählt, wo sie damals hingegangen ist?», flüsterte ich, obgleich sonst niemand in der Küche war.

Mom schüttelte den Kopf. «Sie will nicht drüber reden.» Sie schob die Schublade mit der Hüfte zu und drehte sich mit einem Stapel Teller um. «Das ist nicht so ungewöhnlich.»

Ich nickte. Es gab Dinge, über die auch wir nicht redeten.

«Aber ich glaube nicht, dass sie ihn gefunden hat.»

«Wen? Alis Vater?»

«Vielleicht erzählt sie es uns irgendwann. Wir lernen uns ja gerade erst wieder kennen.»

«Trotzdem hätte sie schreiben oder anrufen können, um dir zu sagen, dass alles okay ist. Sie muss doch gewusst haben, dass ihr euch Sorgen macht, du und Dad.»

«Ich glaube, sie hatte Schuldgefühle.»

«Weswegen?»

«Dein Vater hat mal so was erwähnt. Er war ins Labor gefahren, um die Proben vom zweiten großen Vogelsterben zu analysieren, und als er wiederkam, war er ziemlich durcheinander. Die Zahl stimmte nicht mit den Proben vom ersten Mal überein. Ein Röhrchen fehlte. Er wollte nicht drüber reden, aber ich bin später dahintergekommen, nachdem er gestorben war.»

Dad war auf hochpathogene H5-Viren gestoßen. Die Uni hat seine Aufzeichnungen aufbewahrt. Jahre später durfte ich sie mir ansehen. Er war ein gründlicher Wissenschaftler.

«Ihm ist eine Probe abhandengekommen? Das klingt aber gar nicht nach ihm.»

«Es ist auch nicht ihm passiert, sondern Shazia.» Mom hob den Kopf und schaute hinaus auf die Terrasse, wo schon alle am Tisch saßen. Dann sah sie mich an. «Sie muss ihr runtergefallen sein oder so was. Und sie ist mit zu uns gekommen, obwohl sie wusste, dass sie dem Virus ausgesetzt gewesen war.»

«Was?» Die Nachricht machte mich sprachlos. Ich lehnte mich an die Küchentheke und starrte sie an. Bei dem Gedanken, was hätte passieren können, sträubten sich mir die Haare.

«Gott sei Dank ist sie nicht krank geworden. Eine Zeit lang war ich ihr böse. Dann ging mir auf, dass sie das Beste getan hatte, was ihr unter den Umständen möglich war. Es war besser, eine vierköpfige Familie dem Risiko auszusetzen als ein ganzes Studentenheim. Dein Vater hätte es genauso gemacht.»

«Aber sie hätte doch etwas sagen müssen.»

«Stell dir vor, was für Angst sie ausgestanden haben muss, Kate. Sie war damals sechsundzwanzig Jahre alt und Tausende von Meilen von ihrer Familie entfernt. Sie kannte mich nicht. Sie wusste nicht, was ich tun würde.»

Und was hätte sie getan? Ich erinnerte mich noch gut, wie Mom die Tür versperrt hatte, sodass Dad ums Haus gehen musste, um Jake reinzuholen. Ich sagte es nicht laut, aber Mom nickte. Ich glaube, sie wusste, woran ich dachte. Sie schien inzwischen einigermaßen ihren Frieden damit gemacht zu haben.

Sie steckte Kerzen in einen bunten Ring, wobei sie jede vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger nahm. So rührte sie auch ihren Eistee um, als ob sie einen Stift in der Hand hielte. Vertraute Kleinigkeiten wie diese taten mir gut. Ihre Liebe zu mir war durch nichts zu erschüttern gewesen. Das hatte mir damals durch die schweren Jahre geholfen. Ich wusste nicht, ob ich je eine so starke Frau werden könnte wie sie.

«Frank hat mir einen Heiratsantrag gemacht», gestand ich fast wider Willen.

Sie sah mich an. «Und?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Mein Schatz –»

Ich war den Tränen nahe. «Mom, ich kann es einfach nicht.»

Meine Nichte machte die Tür auf. «Beeil dich, Grandma. Die Sonne geht unter.»

Es war Zeit.

Ich trug den Kuchen hinaus. Kayla stieg auf eine Kiste, um die Kerzen auszupusten. Alan fuhr ihr durchs Haar. Petey lag schlafend in Maddies Armen. Ich stellte einen Teller vor Onkel Mike, obwohl es sinnlos war. Ihm war das Kinn auf die Brust gesackt, und er schnarchte leise. Jacob und Frank würden ihn nachher ins Gästezimmer tragen.

 

Am nächsten Morgen holte mich Mom in ihr Atelier. Sie hatte die Garage umgebaut und ein Oberlicht installiert. Noch eine Veränderung. Meine Mutter überraschte mich immer wieder. Ihre frühen Bilder, Aquarelle in sanften Farben, lagen in Schränken gestapelt. Eines Tages würden sie Maddie, Jacob und mir gehören, hatte sie gesagt, wenn wir sie haben wollten.

Ich wollte. Aber noch mehr liebte ich die Arbeiten, die sie jetzt machte. Große Bilder in kräftigen Acrylfarben. Aus den Wirbeln und Linien und Formen las ich Mut und Entschlossenheit heraus. Hoffnung.

Sie nahm eine Holzkiste aus dem Schrank, stellte sie auf ihren Zeichentisch und winkte mich an ihre Seite. «Ich finde, es ist Zeit, dass ich dir das hier zeige.»

Ich hatte die Kiste noch nie gesehen. Sie klappte den Deckel auf, und ich trat näher.

Papiere, Dutzende, mit vergilbten Kanten und zu einem sauberen Stapel geordnet. Verschwenderisch viel Papier. Interessant, wie viel man früher aufgeschrieben hatte. Aber noch kostbarer war die Schrift auf diesen Seiten – schmal und schräg und bis ganz an den Rand, mit Pfeilen, die auf andere Themen verwiesen.

«Was ist das?»

«Das Buch, an dem dein Vater schrieb. Und ein paar andere Kleinigkeiten.»

In ihrer Stimme lag so viel Zärtlichkeit. Ich bin froh, dass Mom und Dad sich versöhnt haben, bevor er starb. Ich weiß noch, wie ich eines Morgens aufwachte und sie engumschlungen in der Küche standen. Ich spürte sofort, dass etwas zwischen ihnen anders war. War es meine Teenagerphantasie, die mir sagte, dass sie nie aufgehört hatten, sich zu lieben, auch nicht in dem furchtbaren Jahr, in dem sie getrennt waren? Ich nahm das oberste Blatt in die Hand und versuchte die Worte zu entziffern.

 

Wildvögel und die Gewässer, in denen sie

leben, sind seit Jahrhunderten mal mehr,

mal weniger von Viren befallen.

Dieses Auf und Ab ist ein komplizierter,

natürlicher Prozess, in dessen

Wellenbewegungen auch der Austausch

zwischen Wild-und Zuchtvögeln einfließt.

 

Und danach hatte dieser Prozess die Menschheit erfasst und fast die halbe Weltbevölkerung dahingerafft. Später schätzte man, dass an die 40 Prozent der Amerikaner an der Vogelgrippe gestorben waren. 120 Millionen Menschen. Darunter Freunde von mir. Nachbarn. Die Welt war uns hinterher viel kleiner erschienen. Die Überlebenden waren von Misstrauen gezeichnet. Ich weiß noch, wie Autos auf der Autobahn sich beeilten, an uns vorbeizusausen. Ich weiß noch, wie ich als Teenager geredet habe, schnell und ungeduldig. Das alles ist vorbei. Die Leute fahren wieder normal. Ich halte inne, bevor ich den Mund aufmache. Wie alle anderen auch.

Ich legte das Blatt beiseite und sah mir das nächste an. Sparrow Lake, las ich und sagte nachdenklich: «Das ist der See, an dem Dad den ersten toten Vogelschwarm gefunden hat.»

«Ja, aber nicht nur das. Euer Vater hat den See geliebt, er war für ihn weit mehr als ein Forschungsgegenstand.»

Die Handschrift auf der nächsten Seite kannte ich. «Das habe ich geschrieben», sagte ich überrascht. «Maddie und ich mussten Briefe an alle Nachbarn schreiben. Mir war so langweilig, dass ich mich noch nicht einmal beschwert habe.»

Als Nächstes kam ein weißes Blatt, das klein zusammengefaltet war.

«Das habe ich in seiner Hosentasche gefunden.»

Ich faltete es auseinander und las die getippten Zeilen. Ann. Verzeih, dass ich mich einfach so melde, nach allem, was war. Aber ich muss es tun. Wir haben es geschafft, sind in Virginia, und ich habe heute Morgen verschiedene Datenbanken durchsucht. Es tut mir so leid, dass deine Mutter und deine Schwester tot sind. Ich weiß, wie nahe ihr euch gestanden habt. Vielleicht können wir uns, wenn dies alles vorbei ist, wieder begegnen. Wir vermissen euch alle. Rachel

Ich sah Mom an. «Wer ist Rachel?» Der Name kam mir irgendwie bekannt vor.

«Sie ist die Mutter einer Freundin von Maddie.»

Richtig. Die Mutter von Hannah, Maddies bester Freundin, als sie klein war.

«Das ist die Mail, durch die du von Grandma und Tante Beth erfahren hast?», fragte ich, und Mom nickte.

Was mit meinem Großvater passiert ist, haben wir nie erfahren. Meine Mutter hat alles versucht, aber er war und blieb verschwunden, wie so viele andere auch. Trotzdem hat sie nicht aufgegeben. Genau wie mit Shazia. Zwanzig Jahre waren ins Land gegangen, ohne dass sie aufgehört hatte zu suchen, jeden Tag aufs Neue.

Ich griff tiefer in den Kasten und fand eine vergilbte Zeitungsnotiz. Mit einem Bild meines lange verstorbenen Bruders. William. «Mein Gott, Petey sieht ihm so ähnlich!»

«Das finde ich auch.»

Ich starrte auf das dünne Papier. Meine Hand begann zu zittern.

Mom berührte meinen Arm. «Ich durfte nie mit dir über ihn reden.»

«Ich kann mich kaum an ihn erinnern.»

«Du warst drei. Du warst selbst noch ganz klein.»

Ich hätte es nicht vergessen dürfen, aber ich habe es trotzdem getan. Ich hatte die Erinnerung daran verloren, wie ich mit meinem Kissen zu meinem kleinen Bruder in die Wiege geklettert war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie Mom ins Zimmer gekommen war und William unter dem Kissen herausgezogen hatte, unter dem ich ihn im Schlaf begraben hatte. Ich konnte mich nicht an seinen stillen leblosen Körper erinnern. Und auch nicht daran, wie mich die Frau vom Jugendamt meinen Eltern weggenommen hatte, bis der Vorfall rechtlich geklärt war. Meine ersten Erinnerungen fingen erst zwei Jahre später an, mit einem verschwommenen Bild von meiner Erzieherin im Kindergarten, die ihr helles Haar zu einem Knoten aufgesteckt trug. Aber irgendwo in mir lag diese Erinnerung begraben. Ich hatte nie wieder mit einem Kissen geschlafen. Als Jacob zu uns kam, war das eine Chance, es diesmal anders zu machen. Ich bekam die Chance, es wiedergutzumachen.

«Frank ist ein wunderbarer Mann, mein Schatz», sagte meine Mutter unvermittelt.

Daher wehte also der Wind. Ich setzte dazu an, ihr die Kiste wiederzugeben, doch Mom schüttelte den Kopf.

«Nein, ich habe die Sachen lange genug behalten. Ich brauche sie nicht, um mich an euren Vater zu erinnern.»

Noch am selben Abend las ich alles zweimal durch, um es mir ins Gedächtnis zu brennen. Dann machte ich ein Feuer, warf den ganzen Haufen in die Flammen und rührte die Asche um, bis nichts mehr davon übrig war.

 

Langsam fuhr ich mit meinem Pick-up über den schmalen holprigen Weg. Auf beiden Seiten streiften Pinien den Wagen und verströmten ihren Duft. Dann wurde es hell, und vor mir lagen ein Sandstrand und ruhiges graues Wasser. Ich stellte den Pick-up am Rand der Lichtung ab und machte den Motor aus. Nichts und niemand störte die Stille. Ich stieg aus und schlug die Tür zu. Über mir kreiste ein Habicht. Ich ging ans Ufer. Die kleinen Wellen schwappten über meine Stiefelspitzen. Längliche Schatten schwammen heran und schossen davon. Fische. Auch sie waren wiedergekommen.

Das Boot ließ sich leicht ins Wasser schieben. Als ich weit genug vom Ufer entfernt war, warf ich den Motor an und ließ das Boot über die Wellen hüpfen. Die Haare peitschten mir ins Gesicht. Der Habicht folgte mir, entfernte sich, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte, und tauchte wieder auf. Von Dad habe ich gelernt, Eulen von Möwen und Adler von Habichten zu unterscheiden. Nicht an der Form. Manchmal sind sie zu weit weg, als dass man sie richtig erkennen könnte. Dann muss man ihr Verhalten beobachten. Wie ich festgestellt habe, gilt das auch für Menschen.

Ich lenkte näher ans Ufer und stellte mir vor, wie es hier wohl vor zwanzig Jahren ausgesehen hatte. Ich wette, es hat mehr Häuser gegeben, und ich wäre wenigstens einem zweiten Boot auf dem Wasser begegnet. Jetzt gab es außer mir nur den Habicht und die gespenstischen Reste des alten Unterstands für die Entenjagd mit seinen schiefen Pfosten. Schon lange trugen sie kein Dach mehr, wie die Wände war es zerfallen und im Wasser versunken.

Vor mir lag eine mit Fichten bestandene Landspitze. Ich drosselte den Motor und folgte der Uferlinie bis in eine kleine Bucht. Hier hatte Dad damals die toten Blauflügelenten gefunden. Der Platz schien nicht weiter bemerkenswert. Es war einfach eine von vielen Buchten im See, mit einem stillen baumgesäumten Ufer. Doch Dad hätte die Stelle sofort erkannt. Das Erlebnis dort hatte ihn verwandelt. Ich weiß noch, wie ich ihn mit Shazia im Hobbyraum darüber reden hörte. Ich war reingekommen, weil ich ihn um Hilfe bei den Schulaufgaben bitten wollte. Sie saßen mit dem Rücken zu mir und unterhielten sich. Sie haben sich dort zum Sterben versammelt. Bei diesen Worten blieb ich in der Tür stehen und zog mich leise einen Schritt zurück, um unbeobachtet weiter zuhören zu können.

Sie müssen umhergeflogen sein, bis sie einen geschützten Fleck gefunden hatten. Dann haben sie sich dort auf dem Wasser niedergelassen und sind eine nach der anderen umgekippt.

Sie hatte gefragt: Glaubst du, es ist hochpathogen?

Und er hatte geantwortet: Ich hoffe nicht.

Ich versuchte es mir vorzustellen: Hunderte der kleinen hübschen Vögel, die eingerollten Füßchen im Bauchgefieder versteckt, die Köpfe im Wasser, die Schnäbel aufgerissen. Die Leichen reichten bis ans Ufer und schwappten gegen das Boot.

Fast erwartete ich, ihre Geister über dem See schweben zu sehen, aber da war nichts, bloß leise plätscherndes Wasser und die Wolken, die sich darin spiegelten. Dad musste mitten in den Schwarm gefahren sein, um die erste kleine Leiche herauszufischen. Ich sah ihn vor mir, wie er Röhrchen verstöpselte, den Vogel wieder ins Wasser warf und sich den nächsten vornahm. An dem Morgen waren noch zwei Jäger dabei gewesen. Sie hatten bestimmt geholfen, das Boot zu steuern und die toten Vögel herauszufischen. Sicher waren sie beunruhigt und stellten Fragen. Dad wird den Kopf geschüttelt und unverbindliche Antworten gefunden haben, aber es musste ihm gleich klar gewesen sein.

Er hatte damals noch einen ganzen Tag gebraucht, um den Verdacht zu bestätigen. Heutzutage braucht es nur einen Tropfen und einmal schütteln, damit Frank und ich wissen, was wir gefunden haben. Dad würde staunen. Ob er überrascht wäre, dass ich dort weiterarbeite, wo er damals aufgehört hat?

Ich stellte den Motor aus, langte nach der Kiste, die ich an den Bug gestellt hatte, und klappte den Deckel auf. Durch den Inhalt raschelte ein leichter Wind. Ich lehnte mich mit der Kiste über die Bordwand und neigte sie zur Seite. Der Wind fegte die Asche hinaus und trug sie übers Wasser.

Ich werde Frank mein Jawort geben, dachte ich, während sie sich zerstreute. Menschen verändern sich. Sie werden erwachsen. Sie schaffen es, Risiken auf sich zu nehmen.

In der Ferne über den Baumwipfeln drehte der Habicht seine Runden. Es wurde Herbst. Die Tage wurden kälter, und das Laub legte sein flammendes Kleid an. In ein, zwei Wochen würde der Zug der Wildenten nach Süden beginnen. Es kann sich noch so viel ändern, am Ende bleibt alles beim Alten.

Bald war wieder Grippezeit.

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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