ACHTZEHN
«So, Mom?» Maddie stützte die Ellbogen auf den Boden und reckte den Hintern in die Luft. Sie sah aus wie ein etwas zu breit geratenes, umgekehrtes V. Ann unterdrückte ein Grinsen. «Prima», sagte sie. «Du auch, Kate?»
«Okay. Aber ich mache nur zehn.»
«Ich mach zwölf», sagte Maddie.
«Streber», sagte Kate.
«Eins, zwei, drei, los.» Die Mädchen machten ein paar Liegestütze und ließen sich dann zu Boden fallen. Sie brauchten beide einen Haarschnitt. Maddie würde sich vielleicht von Ann die Haare schneiden lassen, aber Kate? «Setzt euch wieder hin, jetzt kommen die Sit-ups.» Peter war seit über einer Stunde weg. Er musste jede Minute wiederkommen. Es war ihr nicht recht gewesen, dass er das Haus verließ, aber sie freute sich darauf zu hören, was draußen los war. «Wisst ihr noch, was ich euch gezeigt hab?»
«Ich sterbe vor Langeweile.» Kate drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
«Komm, Schatz. Mach ein paar Sit-ups mit. Ein bisschen Bewegung tut dir gut.»
«Na klar.»
«Vielleicht könnten wir die Auffahrt räumen, dann hättest du Platz, um deine Rückhand zu üben.»
Kate drehte sich zu Ann um und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. «Ich hab’s dir schon gesagt. Ich hasse Tennis. Ich spiele nie wieder Tennis.»
Die Saison war ohnehin vorbei. «Wie wär’s mit einem Brettspiel? Cluedo zum Beispiel.»
«Maddie schummelt immer.»
«Gar nicht.»
«Puuuh.» Kate schlug mit den Fäusten auf den Teppich. «Ich sterbe vor Langeweile.»
«Das hast du doch schon gesagt», meinte Maddie. «Und ich schummle überhaupt nicht.»
«Ich werd mal gucken, ob Shazia mitspielen mag», schlug Ann vor.
«Na gut.» Kate starrte wieder an die Decke. «Sie kann mit aufpassen, dass Maddie nicht schummelt.»
«Mom!»
Ann floh aus dem Zimmer.
Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen. Dahinter war alles still. Zögernd klopfte sie an.
«Ja?»
Das kalte Zimmer war von der Sonne hell erleuchtet. Shazia lag auf dem Bett. Müde richtete sie sich auf.
«Entschuldigung.» Ann blieb in der Tür stehen. «Ich wusste nicht, dass du schläfst.»
«Das macht nichts.» Shazia gähnte und setzte die Füße auf den Boden. «Kann ich was helfen?»
«Die Mädchen und ich wollten fragen, ob du Lust hast, ein Brettspiel mit uns zu spielen.»
«Ach so. Okay.» Sie ließ die Füße in die Flanellpantoffeln gleiten, die sie aus den aussortierten Sachen für die Kleidersammlung gefischt hatten. Das Paar hatte früher Peter gehört. Shazia fasste ihr glänzendes schwarzes Haar zusammen, streifte ein Gummi von ihrem Handgelenk und band das Haar zu einem Pferdeschwanz.
Sie war wirklich eine Exotin, mit ihrer glatten Haut und den dunklen Mandelaugen, ihrem dicken Haar und der Art, wie sie ihren Blick langsam auf ihr Gegenüber richtete und ihn dort verweilen ließ. Wusste sie um ihre Wirkung? Ann bezweifelte das. Shazia schien sich kaum um ihr Aussehen zu kümmern, so, wie es nur echten Schönheiten gegeben war.
Ann sah sich im Zimmer um. Ein Koffer unter dem Schreibtisch, ein zweiter an der Wand. Mehr hatte Shazia nicht mitgebracht. Zwei Koffer. Auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto. Ein kleiner Junge mit rundem Gesicht grinste ihr entgegen.
Ann lächelte. «Wer ist denn das?»
«Das ist mein Neffe. Er ist gerade zwei geworden.» Shazia nahm ein anderes Foto vom Nachtschrank neben ihrem Bett. Sie hielt es Ann so hin, dass sie es sehen konnte. «Das sind meine Eltern.»
Ann trat näher und sah einen Mann und eine Frau in eleganter Kleidung an einem Tisch, die sich einander zulehnten und die Hände auf der Leinentischdecke verschränkt hatten. «Ein schönes Paar.»
«Danke.» Shazia strich mit dem Daumen über den geschnitzten Holzrahmen. «Das ist eine Aufnahme vom sechzigsten Geburtstag meines Vaters. Meine Schwester hat mir das Bild geschickt.»
«Sie haben immer noch nichts von ihnen gehört?»
Shazia schüttelte den Kopf.
Zwölf Tage. Ann hatte noch nie so lange nicht mit ihren Eltern geredet. Vielleicht war das bei Shazia und ihrer Familie anders. Vielleicht fanden sie es normal, über längere Zeiträume nichts voneinander zu hören, nur waren die Zeiten alles andere als normal. Dass sie gar nichts von ihnen hörte, konnte nur eines bedeuten. «Hast du deine Mitbewohnerin erreicht?»
«Ja. Das Studentenheim hat auch keinen Strom. Sie muss jedes Mal ins Foyer hinunter, wenn sie telefonieren will, und sie wohnt im vierzehnten Stock, deshalb werde ich vermutlich erst mal eine Weile wieder nichts von ihr hören.» Shazia zuckte die Achseln. «Es scheint ihr aber ganz gutzugehen. Auf ihrer Etage machen sie jeden Tag einen anderen Themenabend. Gestern war Hawaii dran. Heute Kerker und Drachen.»
So war das, wenn ein Haufen junger Leute zwischen zwanzig und dreißig zusammen war, dachte Ann. Blumenkränze und Schwertspiele. Vierzigjährige würden Rezepte und Haushaltsentrümpelungstricks austauschen.
«Sie sagt, es gibt nur im Flur Licht. Sie muss die Tür offen lassen, wenn sie in ihrem Zimmer was sehen will.»
Das klang ja furchtbar. «Hat sie was davon gesagt, ob es Grippefälle gibt?»
In dem Fall würde man in seinem Zimmer bleiben. Man würde sich kaum an den vielen Türen vorbei zum Telefon trauen. Man würde die Tür zumachen und sich mit der Dunkelheit abfinden.
Shazia stellte das Bild wieder auf den Nachttisch. Ann folgte ihr mit dem Blick und entdeckte dort ein offenes Fotoalbum. Es sah aus wie eines ihrer Familienalben. Was machte es hier? Es gehörte ins Wohnzimmer.
Shazia sah ihren Blick und wurde rot. «Entschuldigung. Ich hoffe, es macht dir nichts aus. Ich hatte nichts zum Lesen.»
«Aber nein.» Neugierig neigte Ann den Kopf, um zu sehen, welches Album sich das Mädchen genommen hatte. Sie sah Bilder von Kiefern, ein verwittertes Gebäude, Männer mit zotteligen Bärten, die in die Kamera grinsten.
Shazia nahm das Album und legte es sich auf den Schoß. «Das ist die Hütte am Sparrow Lake, nicht?»
«Einer von Peters Lieblingsplätzen.» Und da saß er ja auch und grinste, den Unterarm lässig auf das Knie gestützt. Die anderen Männer, alle in Tarnfarben und mit Baseballmützen, standen im Halbkreis um ihn herum.
«Er ist gleich in meiner ersten Woche mit mir rausgefahren, um mich allen vorzustellen. Er hatte Angst, die alten Männer würden nicht mit mir zusammenarbeiten, wenn er mich allein hinschickte, um die Tests zu machen.»
«Ja, er hat erzählt, dass sie ganz schön hart sein können.»
Shazia blätterte um. «Als sie merkten, dass sie mich nicht schocken konnten, ging’s prima.»
Wenn Peter von diesen Fahrten wiederkam, roch er nach frischem Blut und Zigarettenrauch. Ann hatte ihn gezwungen, sich in der Garage umzuziehen, bevor sie ihn ins Haus ließ. Einmal, als der Himmel strahlend blau war und die Bäume rot und golden leuchteten, hatte sie ihn gebeten, sie mitzunehmen, doch er hatte den Kopf geschüttelt. Es würde dir nicht gefallen, hatte er gesagt.
Aber Shazia hatte er mitgenommen.
Ann musterte die Fotos. Sie waren mehrere Jahre alt. Peter trug das Haar länger, sein Gesicht war weniger von Sorgen gezeichnet. Den Film hatte Ann entwickeln lassen, und sie hatte auch die Bilder ins Album sortiert. Sie hatte sie sich dabei gewiss angesehen, aber sie hatte sich nie die Mühe gemacht, Peter nach diesen Freunden zu fragen. «Ich kenne die Männer nicht.»
Shazia tippte auf einen kleinen bartlosen Mann. «Victor arbeitet bei Peter im Labor. Sam auch.» Sie zeigte auf einen schmächtigen Kerl, der ein wenig abseits stand. «Und das ist Harold. Er arbeitet eigentlich bei Dr. Lewis im Team. Ich kann mir nicht vorstellen, wie Peter es geschafft hat, dass er mitgefahren ist. Harold ist nicht gern draußen bei der praktischen Arbeit. Er bleibt lieber im Labor und führt die Experimente durch. Aber Peter sagt, man muss auch mal raus, um die Tiere kennenzulernen, die man retten will.»
Ann hatte ihn immer damit geneckt, dass es ein Glück war, dass er sich nicht mit Löwen und Tigern beschäftigte.
«Ich war vorher noch nie in einem Wald gewesen», sagte Shazia. «Die Sonne über dem See untergehen zu sehen, das war phantastisch.»
Peter liebte Sonnenuntergänge. Als sie noch nicht verheiratet waren, hatte er sie oft abgeholt, mit einer Flasche Wein und Käse und Brot, und vorgeschlagen, dass sie irgendwohin loszogen, wo sie die Sonne untergehen sehen konnten. «Klingt, als wäre es schön gewesen. Dann können die Jäger wohl nicht allzu garstig gewesen sein.»
Shazia strich mit der Hand über die Seite. «Nein, sie waren wundervoll.»
Ann starrte sie an. Peter und Shazia gingen so locker miteinander um, dass ihr anfänglicher Verdacht beinahe zerstreut worden war. Aber angesichts des schwärmerischen Ausdrucks in Shazias Augen verspürte sie erneut einen Anflug von Eifersucht. Offenbar wurde Peter wirklich von dieser jungen Frau geliebt. Sie musste versuchen, sich damit abzufinden.
Ann straffte die Schultern. «Du kannst die Bilder haben, wenn du magst.»
Shazia machte große Augen. «Ach nein, das kann ich unmöglich annehmen.»
«Ich bin sicher, Peter hätte nichts dagegen.»
Shazia sah sie an. Ann meinte in ihren Augen zu lesen, dass sie verstand, was in ihr vorging. Mit unsicherer Stimme sagte Shazia: «Gut, Ann. Danke schön.»
Unten donnerte irgendwas gegen eine Wand. Ann spürte den Boden unter ihren Füßen beben und senkte automatisch den Blick. Wieder knallte es dumpf, und diesmal wusste sie, wo das Geräusch herkam. «Da schlägt jemand ans Garagentor.»
O Gott. Die Mädchen waren allein unten.
Ann rannte die Treppe hinunter, indem sie immer zwei Stufen auf einmal nahm. «Kate, Maddie! Wo seid ihr?»
«Hier.»
Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und schaute nach unten. Maddie stand an der Tür und zog den Reißverschluss ihres Mantels zu. Neben ihr schlüpfte Kate eilig in ihre Stiefel.
«Wo wollt ihr denn hin?» Schnell lief Ann die letzten Stufen hinunter.
«Nach draußen», antwortete Kate mit leuchtenden Augen. «Es ist Krieg.»
Ann schob sich an ihren Töchtern vorbei zum Fenster neben der Tür. Im Garten auf der anderen Straßenseite flitzten bunte Gestalten herum. Sie hörte Schreie und Gelächter.
Shazia sagte: «Das sind Kinder. Sie machen eine Schneeballschlacht.»
«Ihr bleibt drinnen», befahl Ann ihren Töchtern. Sie sah den Kindern draußen zu, wie sie durcheinanderrannten, sich duckten, bückten und warfen. Wo waren die Eltern? Was dachten sie sich nur dabei? Dachten sie, wenn die Kinder draußen an der frischen Luft waren, könnte ihnen nichts passieren? Hatten sie denn nicht gehört, dass Jodi gestorben war? Sie war genauso durch die Gegend gerannt wie diese Kinder und hatte sich dabei die Grippe eingefangen. Gerade mal acht war sie gewesen.
Maddie zog sich ihre Mütze über die Ohren. «Dad sagt, wenn wir gut einen Meter Abstand zu anderen Leuten halten, sind wir sicher.»
Ann drehte sich um und sah Maddie an. «Dies ist was anderes. Ich verbiete euch, aus dem Haus zu gehen.»
Kate band sich einen Schal um und langte nach ihren Handschuhen. «Klar, weil die Schneebälle voller Bazillen sind, was?»
«Das kann man nicht wissen. Tut mir leid, ihr beiden, aber ihr müsst drinnen bleiben.»
Maddie starrte sie an. «Alle anderen dürfen raus!»
«Ich weiß, aber das macht es nicht richtiger.»
In Maddies Augen glänzten Tränen. Sie stampfte mit dem Fuß auf. «Ich hasse dich.» Sie band ihren Schal los und schmiss ihn auf den Boden. Shazia bückte sich schnell, um ihn wieder aufzuheben.
Kate guckte aus dem Fenster. Sie zuckte mit den Schultern. «Ist sowieso egal. Sie sind weg.»
Ann ertrug die Hoffnungslosigkeit in den Stimmen ihrer Töchter nicht. «Wollen wir …?», setzte sie an, aber Kate sah sie bloß an. Ihre flaschengrünen Augen funkelten kalt.
«Was ist mit dem Spiel, zu dem eure Mom mich holen wollte?», fragte Shazia. «Sollte ich nicht irgendwo mitspielen?»
Maddie verschränkte die Arme und sah zu Boden. Schmollend sagte sie: «Cluedo.»
«Ach ja. Ich hab schon davon gehört, aber ich hab es noch nie gespielt.»
«Es ist ganz leicht.»
«Alles ist leicht, wenn man schummelt.» Wütend zog Kate Finger für Finger ihre Handschuhe aus.
Maddie holte Luft zu einer giftigen Erwiderung, aber Shazia streckte die Hand nach ihr aus. «Bringst du es mir bei?»
Maddie zögerte, aber dann ließ sie sich, nicht ohne Ann noch einen bösen Blick zuzuwerfen, ins Wohnzimmer führen.
Ann sagte sanft: «Es tut mir furchtbar leid, Kate. Ich wünschte –»
Doch Kate hob den Kopf. «Ich höre ein Auto.»
Dass ein Auto vorbeifuhr, war in letzter Zeit eine Seltenheit. Jetzt hörte Ann es auch. Unter den Kindern bei der Schneeballschlacht waren auch ein paar Teenager gewesen. Vielleicht hatten sie beschlossen, ein Auto zu knacken. Ein beängstigender Gedanke. Würden sie als Nächstes in ihre Garage einbrechen? «Bleib hier», befahl sie Kate. Wie sollte sie sich wehren? Ausgerechnet jetzt musste Peter unterwegs sein. «Ich geh mal eben nachsehen.»
Sie trat hinaus. Hier war das Motorengeräusch deutlich zu vernehmen. Vor ihr lag rechts und links verlassen die Straße, weiß und grau und schwarz. Die Häuser starrten sie mit leeren Fenstern an. Irgendwo war jemand, ganz in der Nähe, nur war er nicht zu sehen. Sie drehte sich um und spähte zu Libbys Haus hinüber. Die Kälte kroch durch ihre Sachen, legte eisige Finger auf ihre Haut. Zitternd zog sie die Ärmel über ihre Hände und verschränkte die Arme. Sie ging bis an den Rand des Vordachs. Da sah sie den schwarzen Geländewagen rückwärts die Auffahrt hinunterfahren.
«Das ist Libby.» Kate war auch herausgekommen und lehnte sich an Ann, um warm zu bleiben. «Wo will sie hin?»
«Ich weiß nicht.» Ann legte den Arm um ihre Tochter. «Ich habe gestern Abend mit ihr geredet. Da hat sie nichts gesagt.» Wenn sie los wollte, um zu schauen, ob die Läden auf waren, hätte sie Ann angerufen, um zu fragen, ob sie etwas brauchte. Und sie hätte Smith losgeschickt.
Sie sahen zu, wie der Wagen zur Straße rollte. Dann kam jemand um die Hausecke, kämpfte sich mühsam durch den Schnee. Smith.
«Libby!», schrie er.
«Was ist los?», rief Ann.
Smith ignorierte sie.
Ann schaute nach Libby, um zu sehen, wie sie reagierte. Libby starrte ihren Mann durch die Windschutzscheibe an, einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht.
«Er hat keine Schuhe an», sagte Kate.
Sie hatte recht. Bei Smiths nächsten Schritten sah Ann seine nackten Füße. Sein Mantel war offen, und er hatte nichts auf dem Kopf. War das, was er daruntertrug, ein Schlafanzug?
Libby trat aufs Gas. Am Ende der Auffahrt schlingerte der große Wagen, landete in einem Schneehaufen und hing fest.
Smith erreichte das Auto. Er stand knietief im Schnee und schlug mit den Fäusten ans Fenster auf der Fahrerseite. «Libby! Mach keinen Quatsch. Komm wieder rein!»
Kate schob ihre kalte Hand in die Hand ihrer Mutter.
Libby schmiss mit solcher Wucht die Tür auf, dass ihr Mann das Gleichgewicht verlor und seitlich wegsackte. Er rutschte mit den Beinen voran unter das Auto. Ann hielt die Luft an. Jetzt lag er vollständig drunter. Der Motor lief noch.
Kate drückte ihre Hand. «Mom. Tu was.»
Sie sollte die Polizei rufen. Aber das Telefon stand im Wohnzimmer. Sie traute sich nicht, ihnen den Rücken zu kehren. «Libby!»
Libby gab nicht zu erkennen, dass sie Ann gehört hatte. Sie trat nach Smith.
Ann schnappte nach Luft. «Libby! Was ist los? Libby, hör auf!»
Auf der anderen Straßenseite ging eine Tür auf. Mrs. Nguyen streckte einen Augenblick den Kopf heraus und warf einen Blick auf die Szene. Sie warf Ann einen Blick zu, schüttelte den Kopf und schloss die Tür wieder.
Smith rappelte sich auf, schlug sich mit der Hand an die Stirn und wich vor seiner Frau zurück. «Herrgott nochmal, Libby.»
«Bleib mir vom Leib.» Libby kletterte wieder auf den Fahrersitz.
Smith hielt die Tür fest. «Beruhige dich, ja? Du übertreibst.»
Reifen drehten durch. Schwarze Abgaswolken verdunkelten die Luft.
«Mom, ruf die Polizei», flehte Kate.
«Ich weiß nicht, ob sie kommen würden.»
Smith zwängte sich hinter die Tür und versuchte, an die Verriegelung zu kommen.
Libby schlug nach seinem Gesicht, seinen Schultern, seinem Arm. «Hau ab, hab ich gesagt!»
Smith hielt sich an der Vordertür fest und hangelte nach dem hinteren Türgriff. Er bekam die Tür auf. Nun kletterte er auf den Sitz.
Libby fiel förmlich aus dem Auto. Sie nahm die offene Tür und knallte sie ihrem Mann gegen die Beine.
«Libby!» Unwillkürlich machte Ann einen Schritt auf die beiden zu. «Smith!»
Smith stieg rückwärts wieder aus, einen Kindersitz in den Armen. Das Baby schrie jämmerlich. Die Decke verrutschte, und sie konnten Jacob sehen, der mit geschlossenen Augen und weitgeöffnetem Mund brüllte.
«Er tut ihm weh, Mom.»
«Nein, Kate. Er tut Jacob nicht weh. Der hat bloß Angst.»
Libby umklammerte den Griff des Kindersitzes. «Untersteh dich!»
«Du bist völlig durchgedreht.» Smith machte sich von ihr frei und riss das Kind mit dem Sitz an sich.
Libby drosch mit den Fäusten auf ihn ein. Sie traf seine Schultern. Er stieß sie mit dem Ellbogen von sich und trampelte mit dem Kind zurück ins Haus. Schwer atmend starrte Libby ihm nach. Sie sah sich mit wilden Blicken um. Ihre Augen blieben an Kate und Ann hängen.
Wie gern wäre Ann zu ihrer Freundin gelaufen und hätte sie in die Arme genommen. «Libby, kann ich irgendwas tun?»
«Hau ab.» Libby setzte sich auf den Fahrersitz. Es dauerte einen Moment, dann ging der Motor aus. Sie legte die Arme aufs Lenkrad und ließ den Kopf auf die Arme sinken.
«Mom?» Kates Stimme zitterte.
Ann zog ihre Tochter an sich. «Mach dir keine Sorgen, Schatz.» Vielleicht gab es dauernd solche Szenen zwischen den beiden. Was wusste man schon über andere Ehen? Sie hätte nicht gedacht, dass Libby und Smith sich auf diese Weise streiten könnten, aber sie hätte ja auch nicht gedacht, dass Peter sie verlassen könnte.
Libby war aus dem Auto ausgestiegen. Sie stapfte die Auffahrt hinauf zum Haus. Bald war sie ihren Blicken entschwunden. Ann hörte das Garagentor rasseln, dann war alles still.
«Ich dachte, Libby und Smith lieben sich.» Kate klang kreuzunglücklich.
«Ja, natürlich. Das tun sie auch.» Ann drückte ihre Tochter an sich. «Aber, weißt du, Kleines, Ehen sind nun mal kompliziert.»
Eine schwache Antwort, Ann schämte sich fast dafür.
Kate schob ihren Arm weg. «Warum heiraten Leute dann überhaupt erst?»
Sie wandte sich ab und riss die Haustür auf. Das leise Geräusch, mit dem die Tür ins Schloss fiel, klang in Anns Ohren so laut, als hätte ihre Tochter die Tür mit aller Kraft zugeknallt.
Erst als man kaum noch die Hand vor Augen sah, zündete Ann die Kerzen an. Shazia legte Holz nach, und sie aßen alle zusammen am Küchentisch im Licht der gelblichen Kerzenflammen. Von nebenan hatten sie keinen Ton mehr gehört. Libby war nicht ans Telefon gegangen.
«Wieso ist Daddy so lange weg?» Maddie schlug mit der Gabel gegen ihren Teller.
Ann hielt ihre Hand fest. «Er kommt bestimmt bald wieder.» Es klang selbst in ihren Ohren wenig überzeugt. Peter war schon den ganzen Nachmittag fort. Was nur Minuten hätte dauern dürfen, dauerte schon viele Stunden. Vielleicht hatte er irgendwo jemandem helfen müssen. Vielleicht hatte er eine Panne. Oder war irgendwo in einer Schneewehe steckengeblieben. Es gab so viele Erklärungen. Es hatte keinen Sinn, sie alle durchzugehen. Aber trotzdem merkte sie, wie sie ständig nach dem Geräusch von Peters Pick-up lauschte. «Was hat Hannah denn erzählt, Maddie?»
«Sie hat sich beim Fußball den Fuß verknackst.»
«Aua. Wieso hat sie Fußball gespielt?»
«Es war nicht wirklich beim Fußball. Sondern beim Schneeball. Verstehst du? Schneeball.»
Ann lächelte. Sie freute sich, dass die vorwurfsvolle Miene vom Nachmittag verflogen war.
«Sehr witzig», sagte Kate tonlos. «Falls wir irgendwann wieder Strom haben, Mom, kann ich mir dann die Haare färben?»
Sie hat falls gesagt, dachte Ann traurig, nicht wenn.
«In welcher Farbe?» Maddie war begeistert.
«Wir kriegen auf jeden Fall wieder Strom», sagte Ann. «Und warum willst du deine Haare färben?»
«Hilary und Claire sind heute Abend bei Michele, zu einem Schminkabend. Mich hat sie auch eingeladen, aber ich wusste ja, dass du das nicht erlaubst.» Kate spießte mit der Gabel ein Stück Fleisch auf.
Das konnte doch nicht wahr sein. Kate musste es missverstanden haben. «Bist du dir sicher?»
«Mmhm.» Kate schob ihr Essen auf dem Teller herum. «Alle andern Eltern haben es erlaubt.»
Sodass Ann die einzige Spielverderberin war. «Tut mir leid, Kate, aber das ist zu gefährlich. Wir müssen das noch ein Weilchen aussitzen und abwarten.»
«Das sagst du immer. Ich will nichts aussitzen. Aussitzen ist langweilig.»
«Ach Kate. Ein bisschen Langeweile hat noch niemandem geschadet.» Ann fand auch vieles öde. Sie hatte es satt, die Wäsche mit der Hand zu machen und in einem Kamin zu kochen, der nie zu etwas anderem gedacht gewesen war, als die Wohnung zu schmücken. Sie hatte es satt, sich um das Essen und um ihre Eltern zu sorgen.
«Dann darf ich also nicht?» Kate ließ die Gabel fallen und verschränkte die Arme.
«Natürlich nicht.»
«Ach Mom, bitte! Michele sagt, keiner von uns ist krank, und deswegen geht es.»
«Genau das meine ich, Kate.» Wie oft würde sie es noch erklären müssen? Vielleicht war es zu viel erwartet, dass Kate verstand, worum es ging, aber sie musste es trotzdem akzeptieren. Wenigstens das würde sie lernen müssen. Sie konnte niemanden besuchen, Punkt. «Michele kann gar nicht wissen, ob eine von euch schon krank ist. Man kann sich angesteckt haben, ohne es zu wissen.»
«Ja, ja.» Kate verdrehte die Augen.
Ann verkniff sich eine scharfe Antwort. Shazia und sie wechselten einen Blick, und Shazia beugte sich vor. «Was deine Mutter sagt, stimmt, weißt du. Man ist am ansteckendsten, unmittelbar bevor die ersten Symptome auftreten.»
Kate wich ihrem Blick aus. «Du bist auch erwachsen», murmelte sie. «Du verstehst das nicht.»
«Daddy ist da!», rief Maddie.
Ann neigte den Kopf und lauschte. Jetzt hörte sie es auch. Rumpelnd ging das Garagentor zu. «Du hast recht», sagte sie und schob erleichtert ihren Stuhl zurück.
Maddie flog Peter entgegen, als er durch die Hintertür trat.
«Hey», sagte er und strauchelte leicht, als er sie auffing. «War ich so lange weg?»
«Eine Ewigkeit!»
«So kommt es mir auch vor.» Peter setzte Maddie mit einem Schwung wieder auf den Boden und gab ihr einen Kuss auf die Nase. «Hallo, Katytan.» Er fuhr Kate durch die Haare, sie schlug seine Hand weg und glättete gleich wieder ihre Frisur.
Katytan? So hatte er sie seit Jahren nicht mehr genannt. Ann sah ihn an. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war passiert, von dem er freiwillig nichts erzählen würde. «Und, ist alles gutgegangen?»
«Ich hab unten an der Umspannstation in Hilliard einen Arbeiter getroffen.» Peter bückte sich, um sich die Stiefel aufzubinden. Er zog sie aus und stellte sie zum Trocknen auf die Fliesen.
«Das ist ja toll.» Hilliard war nur ein paar Meilen entfernt. «Wird der Strom wieder angestellt?»
«Es könnte noch eine Weile dauern. Sie kriegen nicht genug Arbeiter zusammen. Aber immerhin haben sie es geschafft, die Innenstadt ein paar Stunden lang mit Strom zu versorgen.»
Lächelnd sagte Ann zu Kate: «Hast du gehört? Sie arbeiten an der Reparatur. Wir können jeden Moment wieder Strom haben.»
Kate stemmte die Hände in die Hüften. «In der Stadt vielleicht. Aber was ist mit uns?»
«Um uns werden sie sich auch kümmern», sagte Peter. «Aber sie müssen sich an eine bestimmte Reihenfolge halten. Die Netze hängen ja alle irgendwie zusammen. Zuerst müssen sie die Umspannstationen instandsetzen, dann die einzelnen Leitungen.» Er hängte seine Jacke an den Haken und ließ seine Schlüssel auf die Küchentheke fallen. «Ich habe einen Mordshunger.»
Ann setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, um seine Miene besser beobachten zu können. Maddie kletterte auf ihren Schoß, und Ann schlang die Arme um den kleinen warmen Körper ihrer Tochter, legte die Wange auf ihr Haar, das von Shampooresten ein wenig steif war. Maddie hatte sich keinen einzigen Becher kaltes Wasser mehr über den Kopf gießen lassen wollen.
«Bei Finn brannte Licht», sagte Peter. «Da habe ich ihn noch kurz besucht.»
«Das kann doch nicht sein. Er hat dich einfach reingelassen?» Walter Finn war der Letzte, von dem Ann erwartet hätte, dass er Lust hatte, mit jemandem zu plaudern. Erst neulich hatte er doch schleunigst die Straßenseite gewechselt, um ihnen nicht zu begegnen. Moment. Wie nahe war Peter dem Mann gekommen? «Du hast doch hoffentlich eine Maske getragen, oder?»
«Ja, und Handschuhe auch», murmelte Peter mit vollem Mund.
Shazia sah sie fragend an. «Wer ist Finn?»
«Unser Nachbar ein paar Häuser weiter», sagte Kate.
«Er ist böse», sagte Maddie. «Er schenkt uns an Halloween nie Süßigkeiten. Und er brüllt immer gleich los, wenn man mal aus Versehen auf seinen Rasen tritt.»
Peter wischte sich den Mund mit der Serviette ab. «Wie sich rausstellt, ist der Mann eine Art Überlebenskünstler. Ihr hättet sein Haus mal sehen müssen. Er hat Wasser, Batterien, sämtliche Lebensmittel, die man sich überhaupt vorstellen kann.»
«Auch süße Sachen?» Maddie machte große Augen. «Und Traubengelee?»
Ann lächelte in Maddies Haar hinein.
«Wahrscheinlich», meinte Peter.
«Der hat’s gut», seufzte Maddie.
«Peter.» Shazia hielt den Kopf schräg. «Was hast du damit gemeint, als du gesagt hast, dass bei dem Mann Licht brannte?»
Richtig, das hatte Peter gesagt. Ann sah ihn an.
Peter hielt beim Essen inne, eine volle Gabel auf halbem Weg zum Mund. «Finn hat einen Generator.»
Ann sog die Luft ein.
Kate sah erst Peter, dann ihre Mutter an. «Na und?»
«Das heißt, er hat Strom», sagte Shazia.
«Moment», meinte Kate. «Dann hat er Fernsehen?»
«Fernsehen?», kreischte Maddie. «Das ist ungerecht.»
«Und wieso haben wir so was nicht?»
«Zum einen, weil Generatoren teuer sind, Kate. Und zum andern sind sie ausverkauft.»
Shazia fragte: «Hat er dich ins Internet gelassen?»
Internet. Natürlich.
«Nur deswegen durfte ich überhaupt reinkommen. Er wollte sich von mir zeigen lassen, dass wirklich an einem Impfstoff gearbeitet wird.» Er kaute und schluckte. «Es schmeckt wunderbar, Ann, ich könnte einen ganzen Bären fressen. Der Präsident hat den Kongress gebeten, weitere Mittel zur raschen Erforschung von Impfstoffen zu genehmigen. Und er hat eine nationale Datenbank anlegen lassen, in der alle Ausbrüche der Grippe registriert werden, damit Maßnahmen und Gelder entsprechend gelenkt werden können.»
«Um zum Beispiel Lebensmittel abzuwerfen?», fragte Ann.
Er hielt einen Augenblick lang ihren Blick. «Kann sein.»
Also machte er sich auch Gedanken über ihre Vorräte.
«Wie weit ist man mit dem Impfstoff?», fragte Shazia. «Und wie wollen sie die Benzinverteilung regeln?»
«Auf beiden Gebieten wird international verhandelt. Irgendwo hieß es, der Präsident will die nationalen Reserven anbrechen, aber das wurde sonst nirgends bestätigt.» Peter hob die Gabel an den Mund und hielt inne. «Er holt die Soldaten nach Hause. Er sagt, sie werden hier dringender gebraucht.»
«Dann ist der Krieg vorbei?», fragte Ann. «Und Mike kommt nach Hause?»
«Onkel Mike?» Maddie klatschte in die Hände.
Peter lächelte ihr zu, und zu Ann sagte er: «Vom Krieg ist nirgends mehr die Rede. Alles dreht sich nur noch um die Pandemie.»
Da war es. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Er hatte es tatsächlich gesagt. Pandemie. Es war also wirklich so weit.
«Hört mal zu», sagte Peter zu seinen beiden Töchtern. «Wisst ihr, was über den Schneesturm der letzten Tage gesagt wird? Sie nennen ihn einen Jahrhundertsturm. Er hat die gesamte Ostküste lahmgelegt. In Buffalo liegt der Schnee über eins achtzig hoch.»
«Das ist viel, oder?», fragte Maddie.
«Das ist unheimlich viel.» Ann schlang die Arme fester um ihre Tochter. Maddie schmiegte sich enger an sie und kuschelte ihren Kopf in Anns Schulterbeuge. Sie roch nach Holzrauch und Wachsstiften. «Das ist beinahe so hoch, wie Daddy groß ist.»
Peter wandte sich Shazia zu. «Du wirst nicht glauben, was ich bei der WHO gelesen habe. In Australien gibt es einen Stamm der Aborigines, der gegen das Virus immun zu sein scheint.»
Shazia blinzelte. «Das ist ja toll! Meinst du, das hat was mit den Zugvögeln dort zu tun?»
In Australien gab es Unmengen von Zugvögeln, das wusste Ann. Peter hatte immer davon geredet, dort mal ein Freisemester oder zwei verbringen zu wollen und sie und die beiden Mädchen mitzunehmen. Wenn das Schicksal anders gespielt hätte, wären sie vielleicht gerade jetzt dort, in einer kleinen sicheren Enklave, wo keiner krank wurde.
«Australische Aborigines?» Maddie drehte den Kopf und blickte zu Ann empor. «Etwa dieselben, die aus Punkten Bilder machen?»
Ann lächelte. «Kann schon sein.»
«Moment.» Kates Blick wanderte zwischen Ann und Peter hin und her. «Ihr meint, es gibt Menschen, die nicht krank werden?»
«Scheint so», sagte Peter.
«Aber … wie kann das sein?»
«Das weiß keiner. Die WHO hat ein Team von Biologen hingeschickt, um zu erforschen, warum das so ist.»
«Dr. Antony ist in Stockholm.» Shazia schob ihren Stuhl vom Tisch. «Vielleicht ist er in dem Team. Es wäre gut, wenn wir mit ihm reden könnten. Würde Mr. Finn uns nochmal ins Netz lassen?»
Peter schüttelte den Kopf. «Wir sollten es lieber telefonisch versuchen.»
Shazia sah auf die Uhr und stand auf. «Die Auslandsgebühren –»
Ann winkte die Frage fort. «Darüber mach dir mal keine Gedanken.»
Maddie rutschte sich von ihrem Schoß. «Bist du fertig, Dad? Kannst du mir jetzt vorlesen?»
«Klar», sagte Peter.
«Du bist acht», motzte Kate. «Alt genug, um selbst zu lesen.»
«Und du bist dreizehn», entgegnete Maddie. «Alt genug, um dich da rauszuhalten.»
Dann war es jetzt also offiziell. Die Vogelgrippe war zu einer Pandemie geworden. Ann dachte an die schrecklichen Fotos von der Spanischen Grippe 1918, mit den endlosen Reihen anonymer weißer Betten mit Kranken und Sterbenden, so weit das Kameraauge reichte. Irgendwo, vielleicht sogar in ihrer eigenen Stadt, gab es mit Kranken gefüllte Räume. Aber sie würden nicht reichen. Um all die Kranken dieser Pandemie aufzunehmen, würde man riesige Lager brauchen. Flugzeughallen. Die Fläche sämtlicher Maisfelder von Ohio wäre noch zu klein.
Sie sah zu, wie ihre Kinder aus dem Zimmer gingen, wie der Mann, mit dem sie verheiratet war, seinen Teller vom Tisch nahm und sich der jungen Frau zuwandte, die durch die Umstände zur Waise geworden war. Solange sie in diesen Wänden blieben und solange sie andere von sich fernhielten, konnten sie sicher sein, dass sie nicht als Namenlose auf einem Foto enden würden, auf das spätere Generationen staunend einen flüchtigen Blick warfen, bevor sie weiterblätterten.
Ann war dabei, die Bettdecken über die Schlafsäcke zu breiten, als Peter wieder ins Zimmer kam. Die Mädchen saßen mit Shazia am Küchentisch und spielten irgendein Kartenspiel, bei dem sie ständig kichernd auf den Tisch hauten. «Peter», sagte sie leise. «Wir müssen auf Kate aufpassen. Ich hab das Gefühl, sie will versuchen, sich nachts heimlich aus dem Haus zu schleichen.»
«Wir liegen hier doch wie die Sardinen beieinander.» Er befestigte ein Stück Klebeband, das sich von der Plastikverkleidung vor den Fenstern gelöst hatte. «Es kann uns gar nicht entgehen, wenn sie aus dem Bett klettert. Und außerdem würde Maddie sie sofort verpetzen.»
«Vermutlich hast du recht. Aber trotzdem. Hilf mir, auf sie aufzupassen.»
«Klar.» Er stocherte im Feuer, dass die Funken stoben. «Hör zu, wir müssen die Garage unbedingt immer abschließen, auch tagsüber. Sonst kommen Leute und klauen unser Benzin.»
Sie starrte zu ihm auf. «Hier in unserer Gegend?»
«Überall. Keiner hat mehr Arbeit. Die Leute sind verzweifelt.»
Ihre Schwester war heute Morgen entlassen worden. Als Beth zur Arbeit kam, waren die Türen verschlossen gewesen. Am Eingang hatte ein Zettel gehangen. «Hat Shazia schon etwas aus Schweden gehört?»
«Sie hat eine Nachricht hinterlassen. Antony ruft bestimmt zurück, sobald er kann.»
«Wäre es nicht leichter, ihm eine Mail schicken?»
«Natürlich.» Er hängte den Schürhaken wieder an den Ständer und zog das Feuergitter zu. «Aber Finn sitzt in seinem Palast und will um keinen Preis, dass jemand weiß, dass er Strom hat. Er hat Schiss, dass ihm sonst sämtliche Nachbarn auf der Matte stehen.»
Ann dachte daran, wie Libby darum kämpfte, das Haus warm zu halten, und an die alte, schon ziemlich schwache Mrs. Mitchell von gegenüber. Wütend sagte sie: «Er kann nicht damit rechnen, dass so was allzu lange geheim bleibt.»
«Ich weiß.» Peter klopfte die Asche von der Hand. «Ehrlich gesagt, tut er mir leid, wie er sich da in seinem Loch verschanzt. Er hat niemanden außer seinem Hund.»
Alle hatten zu kämpfen. «Libby und Smith haben sich heute Nachmittag furchtbar gezankt.»
«Steht ihr Auto deswegen so schief an der Straße?»
«Es war schrecklich, Peter. Ich dachte wirklich, Libby wollte ihn überfahren.» So waren sie und Peter nie miteinander umgegangen. Sie hatten sich stattdessen in kaltes Schweigen zurückgezogen, was im Grunde kaum weniger hässlich war. «Kate hat alles mit angesehen.»
«Es wird für alle einfacher sein, wenn wir wieder Strom haben.»
Und damit Licht, Heizung, Fernsehen, das Internet, Handys – all ihre zuverlässigen Helfer. «Ich hab nebenan angerufen, aber da ist keiner rangegangen.»
«Vielleicht haben sie sich gerade versöhnt.»
«Haha.» Noch etwas, was ihr fremd war. Sie und Peter hatten nie miteinander geschlafen, um sich zu versöhnen. Es stand viel zu viel zwischen ihnen, als dass es den Versuch gelohnt hätte.
Peter schaute zu den drei am Küchentisch hinüber. «Ich werde nochmal losfahren, um zu sehen, ob irgendwo ein Laden offen ist. Auch wenn sie keinen Strom haben. Vielleicht laufen ja doch welche über Generatoren.»
«Wir brauchen Milch und Brot. Gemüse wäre ein Segen.» An frisches Obst mochte sie gar nicht denken. Beim Gedanken an eine Apfelsine oder eine Banane lief ihr sofort das Wasser im Mund zusammen. «Vielleicht gibt es Bekanntmachungen darüber, wer aufhat. Wir sollten Finn bitten, das für uns rauszufinden.»
«Das geht nicht. Das hab ich dir doch schon gesagt.»
«Wir könnten ihn wenigstens darum bitten.»
Er sah sie an und sagte leise: «Finn hat mich mit seinem Gewehr bedroht.»
«Was?»
«Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als ich in seine Küche geguckt hab. Er wollte wohl nicht, dass ich seine Vorräte sehe.»
Nie hätte sie geglaubt, dass der Mann zu Gewalt fähig war. Aber war sie nicht gerade heute Nachmittag von Libby und Smith eines anderen belehrt worden? «Das ist doch kein Grund, eine Waffe auf jemanden zu richten.»
«Ich hatte keine Lust, ihm das zu erklären.»
«Das war vermutlich auch besser so.» Das war es also, womit er hinter dem Berg gehalten hatte. «Was für ein schrecklicher, selbstsüchtiger Mensch. Was schadet es ihm denn schon, wenn er dich ab und zu ins Netz lässt? Wenn er sich so verhält, wird ihm auch niemand helfen.»
Peter zuckte die Achseln und starrte in die Flammen. «Tja, wie man sich bettet, so liegt man.»
«Das hat dein Vater auch immer gesagt.» Sein Vater hatte für jede Lebenslage solche Sprüche parat gehabt. Sich mit ihm zu unterhalten war, als ob man in einem Buch mit alten Volksweisheiten blätterte.
Peter hielt den Blick abgewandt. «Ich werde mal noch Feuerholz reinholen.»
Anscheinend mochte er noch immer nicht über seinen Vater sprechen.
Er ging an die Hintertür und griff nach seiner Jacke. Ann wandte sich der schwarzen Nacht vor dem Fenster zu. Sie konnte nicht hinaussehen, aber irgendwo da draußen war Walter Finn. Er war vermutlich nicht der Einzige, der eine Schusswaffe hatte, vermutlich auch nicht der Einzige, der ein bisschen durchdrehte. Auch diese Lektion hatten sie nun zu lernen. Sie mussten sich um sehr viel mehr sorgen als nur um das Virus.