ZWEIUNDVIERZIG
Zitternd stand Ann an der Spüle, ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und spritzte es sich ins Gesicht, als könnte sie es auf diese Weise wegwaschen. Peters Anblick an der Küchentür hatte sie gleich beunruhigt. Seine Wangen waren besorgniserregend verfärbt. Und als er sich dann an den Türrahmen lehnte und verwirrt von Kate zu Maddie blickte, war die schreckliche Gewissheit eingekehrt. Mein Gott. Das Monster. Es steckte in Peter.
Es hatte eine Weile unsichtbar in ihm gelauert, wie ein Alien, der sich eine ganze Zeit lang verborgen hielt und erst aus dem Bauch platzte, wenn schon keiner mehr damit rechnete.
Unbemerkt hatte es sich eingeschlichen und war stundenlang im Haus herumgekrochen. Die Kinder hatten es eingeatmet, hatten die ganze Nacht in seiner Nähe verbracht. Sie und Peter hatten sich geliebt. Bis zum Morgengrauen hatte er sie gestern in den Armen gehalten. Konnte das Monster auch schon in sie eingedrungen sein? Der Gedanke nagte an ihr und drohte sie zu verschlingen.
Sie musste einen klaren Kopf behalten. Sie schaufelte sich noch eine Ladung Wasser ins Gesicht, das Wasser rann über ihr Gesicht und auf das Hemd. Wenn sie nicht in Bewegung blieb, konnte sie gar nichts ausrichten, für niemanden. Sie griff nach einem Küchenhandtuch und ließ es gleich wieder los. Nichts war sicher. Sämtliche Flächen, das Geschirr, die Kissen, die Türknöpfe, die Sachen, die sie ins Auto gepackt hatten. Wie sollte sie das bloß alles säubern?
Moment. Eins nach dem anderen. Sie musste die Ruhe bewahren. Peter brauchte sie. Er war kaum noch die Treppe hochgekommen. Sie hatte die Mädchen rausgeschickt, damit er ihnen auf dem Weg ins Gästezimmer nicht zu nahe kam. Es hatte ihn unendliche Mühe gekostet, sich nicht am Geländer oder den Wänden abzustützen. Ihr waren bei dem Anblick die Tränen gekommen. Jetzt wurden ihre Augen schon wieder feucht, und sie presste die Fingerspitzen an die Schläfen.
Er war schon früher gelegentlich ziemlich krank gewesen. Einmal war er beim Arzt ohnmächtig geworden. Da hatte er Keuchhusten gehabt. Bei Erkältungen hatte er manchmal unter heftigem Schüttelfrost gelitten. Aber er war jedes Mal wieder gesund geworden. Er hatte gute Widerstandskräfte. Er gehörte nicht zu einer der primären Risikogruppen.
Aber die Mädchen gehörten dazu, und Peter hatte die Nacht draußen vorm Haus verbracht. Irgendwie musste er es im Gefühl gehabt haben. Er musste es gespürt und sich deswegen von ihnen entfernt haben.
Zwei winzige Hoffnungsschimmer.
Sie zog ein Paar Latexhandschuhe aus dem Karton und streifte sie über. In dem alten Werkzeugkasten, den Peter immer mitnahm, wenn er zu Forschungszwecken unterwegs war, hatte er Masken gehabt, aber die waren natürlich mit dem Pickup verschwunden. Vielleicht hatte er noch welche in Reserve, auf seiner Werkbank in der Garage. Seine Sachen hatte das ganze letzte Jahr über keiner angerührt.
Sie lief in die Garage und schloss die Tür hinter sich. Wie viele Viren mochten hier auf sie lauern? Sicher waren sie bei der Kälte alle abgestorben. Sie begab sich zum Garagentor, zog es so weit hoch, dass sie es mit der Schulter aufstemmen konnte, und schob weiter, bis das Tor hinten anknallte. Sie wartete, um zu sehen, ob es zurückprallen würde. Es schaukelte ein wenig, blieb aber oben. Sie wollte es offen lassen und eine Weile lüften.
Jetzt fiel genug Licht herein, dass sie alles erkennen konnte. Auf dem Regal über der Werkbank stand ein grauer Pappkarton. Als sie ihn herausnahm, spürte sie sein Gewicht. Glück gehabt. Jede Menge weißer Masken, ordentlich ineinandergestapelt. An der Stecktafel hing eine Schutzbrille. Die würde sie auch brauchen. Als sie danach griff, stieß sie an eine Zange, und sie fiel polternd zu Boden.
Hinter sich hörte sie ein verstohlenes Geräusch. Es war noch jemand hier. Rasch drehte sie sich um. Da stand Barney auf seiner Decke in der Ecke. Er bleckte die Zähne. Sein Nackenfell war gesträubt. Er knurrte, und in der kleinen Garage tönte es hohl und bedrohlich.
‹Was macht Barney draußen vor dem Haus?›, hatte Peter gefragt, als er in die Küche kam. Er hatte phantasiert. Der Hund war nicht draußen gewesen, sondern in der Garage, wie schon die ganze Nacht.
Sie schaute ihn an. Er sah gar nicht mehr aus wie der freundliche, hechelnde Hund an Finns Leine. Er hatte etwas Wolfshaftes bekommen. Ann senkte den Blick, eilte zur Tür, riss sie auf und knallte sie schnell hinter sich zu. Sie rechnete halb damit, dass er sich dagegenwerfen würde, doch alles blieb still.
Vielleicht war Barney auch krank. Er hatte zwei Nächte bei Peter im Auto geschlafen. Konnten Hunde die Vogelgrippe bekommen? Warum hatte sie Peter nicht danach gefragt? Sie betete, dass er durch das offene Garagentor weglaufen würde. Wenn nicht, gewährte er ihnen wenigstens Schutz vor Ratten.
In der Küche stellte sie den Karton auf die Theke und entnahm eine Maske. Sie streifte sie über und drückte sich den schmalen Metallrand an die Nase. Sie schien gut zu passen, aber das musste sie genau wissen. Deshalb holte sie eine blassgelbe Schachtel aus dem Gewürzschrank, in dem nur noch die Sachen standen, die sie nicht mitnehmen wollten. Sie riss ein Tütchen Süßstoff auf und entleerte es in ein Glas Wasser. Im Hauswirtschaftsraum hatte sie eine Sprühflasche. Sie goss die süße Lösung hinein, schraubte den Deckel zu und entließ einen Spritzer in die Luft. Sie atmete tief ein.
In ihrem Mund kam nicht der geringste Geschmack von Süße an. Die Maske saß richtig. Es war unmöglich festzustellen, wann eine Maske nichts mehr aufnehmen konnte. Sie würde daran denken müssen, sie regelmäßig zu wechseln. Mit etwas Vorsicht konnte sie vermutlich mit einer pro Tag auskommen.
Sie brauchte genug für acht Tage.
Auf ein Tablett packte sie Ibuprofentabletten, Nasenspray und ein Fläschchen mit Kochsalzlösung. Zitternd füllte sie ein Glas mit Apfelsaft und legte eine Handvoll Kräcker auf einen Teller. Peter hatte seine Portion gestern Abend nicht aufgegessen. Sie hatte geglaubt, die Soße sei ihm zu salzig gewesen. Jetzt kannte sie den Grund. Appetitlosigkeit war das erste Symptom.
Sie schaute aus dem Fenster. Die Mädchen waren immer noch draußen im Garten zugange. Sie spielten mit Jacob, und er krabbelte fröhlich sabbernd umher.
Unter dem Waschbecken oben im Bad fand sie eine alte Duschhaube. Eine Wegwerfhaube von irgendeinem Hotelaufenthalt. Sie zog ein Hemd von Peter über und knöpfte es hinten zu wie einen Kittel, nahm den Eimer mit dem Putzmittel in eine Hand, klemmte sich eine Schachtel Papiertücher unter den Arm und ging mit dem Tablett nach oben.
Aus dem Gästezimmer drang ihr ein eiskalter Luftschwall entgegen. Sie fand die Fenster weit geöffnet. Die Vorhänge bauschten sich im kalten Wind.
Peter lag im Bett, unter einem Berg von Federdecken. Er wandte ihr das Gesicht zu. «Nicht reinkommen.»
Er brachte nur noch ein Krächzen hervor. Seine Augen waren vom Fieber glasig und die Wangen hochrot. Sie ging ans Fenster und stieß mit dem Fuß gegen ein Kissen, das auf dem Boden lag. Sie bückte sich, um es aufzuheben.
«Lass es liegen. Ich habe es über die Lüftung gelegt. Lass die Fenster so.»
Die Heizung, natürlich. Er versuchte zu verhindern, dass das Virus durch das Haus zirkulierte. Im Augenblick lief die Heizung nicht, deshalb würden sich die Viren nicht rasch durch die Lüftungsrohre verbreiten, aber trotzdem. Jede Luftbewegung fuhr auch durch die Rohre und schickte die Viren mit. Sie trat an sein Bett. «Ich hole dir noch ein paar Decken.» In ihrem Zimmer lagen noch welche im Schrank. Sie würde ihm die leichtesten, wärmsten bringen, keine, die nach Kaminrauch rochen.
Er wandte sich ab und hustete, wartete, bis er wieder ruhig atmete. «Ich war gestern schon ansteckend.»
«Ich weiß.» Sie versuchte, tröstend zu klingen und sich den Schrecken nicht anmerken zu lassen, der sie überfiel, obwohl sie es ja eigentlich schon wusste. Sie sah ihn an. «Wie, Peter, wie konnte das passieren?»
«Es muss mutiert sein.» Unter Mühen versuchte er, ihrem Blick zu begegnen. «Pass gut auf die Mädchen auf.»
«Ja, klar.» Du musst kämpfen, Peter. Zeig diesen Viren, wie stur du sein kannst. Das habe ich immer an dir geliebt, selbst dann, wenn es mich zur Weißglut trieb. «Was machen deine Kopfschmerzen?»
«Sie sind ziemlich stark.» Wieder musste er husten.
«Ich hab dir Ibuprofen gebracht. Kannst du was essen oder trinken?»
«Trinken.»
«Gut.» Sie schüttelte zwei Tabletten aus dem Röhrchen, legte sie ihm in die Hand und gab ihm den Saft. Er hob den Kopf vom Kissen und schluckte, nahm sogar den Kräcker, den sie ihm hinhielt. Er gab ihr das Glas zurück, und sie stellte es auf den Nachtschrank.
«Brauchst du Hilfe, um auf die Toilette zu gehen?»
Seine Augen waren geschlossen, und sein Atem hatte zu pfeifen begonnen. «Danke, das schaffe ich noch alleine.»
Er schien einzuschlafen. Das war gut. Je mehr Ruhe er bekam, desto schneller würde er gesund werden. Schlaf war bei ihm immer das Zaubermittel gewesen. Sie blieb noch eine Weile stehen und betrachtete ihn, hörte die Kinder unten lachen und rufen. Vermutlich waren sie ein wenig überdreht, weil sie glaubten, dass sie gleich losfahren würden. Wie gerne hätte sie ihn auf die Stirn geküsst, ihm die Hand auf die Brust gelegt, gespürt, wie sie sich hob und senkte. Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, ließ sie aber kopfschüttelnd wieder sinken. Sie durfte es nicht tun. Sie durfte nichts riskieren.
«Schau nach Barney, ja?»
«Mach dir keine Gedanken um den Hund.»
«Ann, bitte, du musst.»
«Ach, Peter, das schaff ich nicht.» Sie brauchte ihre ganze Kraft für ihn und für die Kinder. Der Hund musste sehen, wo er blieb.
Aber Peter hörte sie nicht mehr. Sie blieb noch einen Moment bei ihm stehen. Sein Atem ging regelmäßiger. Er schlief.
Draußen auf dem Flur nahm sie die Maske und die Duschkappe ab, zog die Handschuhe und das übergroße Hemd aus und ließ die Sachen auf dem Eimer liegen. Vielleicht würde sie doch die Kraft finden, sich um den blöden Hund zu kümmern. Wie schwer konnte es sein, ihm eine Schüssel mit Wasser und eine zweite mit ein paar Essensresten hinzustellen? Und das Auto würde sie vollgepackt lassen. In dem Augenblick, wo es Peter wieder besserging – vorausgesetzt, dass sonst keiner von ihnen krank wurde –, würden sie fahren. Peter hatte recht. Sie mussten sich alleine durchschlagen.