ZWEI
Von oben stürzte ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln herab, der orange Schnabel weit aufgesperrt. Unten wartete breit grinsend eine Katze mit langen Schnurrhaaren.
Ann beugte sich vor, um das Bild zu betrachten. «Wow, Hannah. Das ist ja eine tolle Geschichte.»
«Ihre kleine Katze hat gestern einen Vogel gefangen», erklärte Maddie. Maddie und Hannah saßen so dicht zusammen, dass ihre Stühle sich fast berührten. «Und ihn totgemacht.» Sie schüttelte sich.
Hannah nickte, als täte ihr das sehr leid. «Meine Mutter sagt, Tiger ist ein Jäger.»
Jodi, die ihnen gegenübersaß, kicherte. Ihr Blatt war noch vollkommen weiß. «Kein Wunder bei dem Namen.»
«Du bist bloß neidisch», sagte Maddie. «Weil du dir selbst eine Katze wünschst.»
Genau wie Maddie. Bloß würde sie keine bekommen.
«Du scheinst keinen Anfang zu finden, Jodi», sagte Ann. «Vielleicht willst du in dem Buch auf meinem Schreibtisch blättern, ob du eine Idee für dein Bild findest?»
«Ich weiß schon, was ich malen will.» Jodi kniff die Augen zusammen und schob die Unterlippe vor. «Ich will eine Geschichte über ein Flugzeug malen, aber Sie haben gesagt, bei den Ureinwohnern in Australien gibt es keine Flugzeuge.»
Jodi hatte also aufgepasst. Prima. Ann fragte sich manchmal, ob Jodi irgendein Aufmerksamkeitsdefizit hatte. Sie wollte Jodis Mutter unauffällig danach fragen, wenn sie sie das nächste Mal am Briefkasten traf. Ann kannte Susan Guarnieri kaum und hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde, aber als Jodis Lehrerin war sie nun mal verpflichtet, sie darauf anzusprechen. «Es ist deine Geschichte, Jodi. Und du bist kein australischer Ureinwohner. Du kannst ein Flugzeug malen, wenn du willst. Vielleicht könntest du malen, wie du mit deinen Eltern verreist.»
Jodi machte ein langes Gesicht. «Meine Mutter und mein Vater nehmen mich nicht mit, wenn sie verreisen. Sie sagen, ich bin noch zu klein. Ich muss zu Hause bleiben, bei Nana und Poppa. Bei Nana muss ich doofe Kleider anziehen, und bei Poppa darf ich zum Essen keine Limo trinken.»
Bevor Ann wieder in der Schule angefangen hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, wie viel die Kinder über ihr Zuhause ausplauderten. Ihr graute bei der Vorstellung, was Kate und Maddie im Laufe des letzten Jahres erzählt haben mussten. «Dann mal doch ein Bild über eine Reise, die du gern machen würdest, wenn du groß genug bist.»
Ein tiefer Seufzer. Dann zog Jodi das Blatt zu sich heran. «Na gut.»
Neben Jodi arbeitete Heyjin konzentriert vor sich hin, scheinbar unberührt von dem Geplapper um sie herum. Vielleicht konnte sie den anderen nicht folgen. Der Rektor hatte ihr versichert, dass Heyjin Englisch spreche, aber das Mädchen hatte in den zwei Wochen, seit sie in Anns Klasse war, kaum ein Wort gesagt. Meistens saß sie einfach nur da, kaute an ihren Fingernägeln und schielte schüchtern nach den anderen Kindern.
Heute jedoch war sie mit Feuereifer bei der Sache. Vielleicht kam Heyjin jetzt endlich mit. Oder ihr gefiel diese Art zu malen besonders gut.
«Heyjin?», sagte Ann. «Was malst du da?»
Als das kleine Mädchen seinen Namen hörte, blickte es ernst auf, aus dunklen Augen hinter runden Brillengläsern, darüber das strenggescheitelte und ordentlich zu Zöpfen geflochtene schwarze Haar. Stumm senkte sie erneut den Kopf und machte sich wieder an die Arbeit.
Vielleicht verstand Heyjin wirklich kein Englisch.
Ann beobachtete sie einen Augenblick. Sie schien die Aufgabe verstanden zu haben. Sie tauchte ihr Wattestäbchen in die Farbe und nahm gerade so viel auf die Spitze, wie Ann gezeigt hatte. Dann balancierte sie das Stäbchen vorsichtig zu ihrem Blatt und malte mit festem Druck einen sauberen Punkt. Doch ein Blick auf Heyjins Bild ließ vermuten, dass sie den Sinn der Sache vielleicht doch nicht begriffen hatte. Das ganze Blatt war mit gleichförmigen braunen Punkten bedeckt, die auf dem schwarzen Hintergrund kaum zu sehen waren. Eine Geschichte konnte Ann darin nicht erkennen.
Vielleicht sollte sie ihr vorschlagen, es mit einer anderen Farbe zu versuchen. Aber das Mädchen wirkte so zufrieden. Ann beschloss, sie in Ruhe zu lassen. Kunst hatte mit Selbstausdruck zu tun, und Heyjin schien auf jeden Fall etwas auszudrücken. Ann hatte bloß keine Ahnung, was.
Als sie aufblickte, sah sie, dass Maddie sie anschaute. «Was für eine Geschichte malst du, mein Schatz?»
Maddie legte schützend den Arm über das Bild. «Du darfst erst gucken, wenn ich fertig bin.»
Doch Ann hatte genug gesehen, um es zu erraten: eine glückliche Familie. In der Mitte des Blatts prangten die Symbole für Vater, Mutter und zwei Kinder. Über ihnen wölbte sich ein großer Bogen. War das Maddies Vorstellung von der Zukunft? Dass nach den Stürmen des letzten Jahres ein Regenbogen am Himmel erschien? Doch leider nahm nicht jede Geschichte ein gutes Ende.
«Mrs. Brooks?», meldete sich Jimmy. «Ich habe das Symbol für Lagerfeuer vergessen.»
Ann schluckte ihren Kummer herunter und fragte die Klasse: «Wer hat das behalten?»
Hannah wedelte mit dem Arm. «Ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte.»
«Sehr gut, Hannah.» Anne ging an die Tafel und malte mit Kreide die Striche für Regen, die Wellenlinien für Flüsse, das Rechteck für Mann und den Halbkreis für Frau. «Vergesst nicht, wie wichtig Farbe ist. Die australischen Ureinwohner haben mit Farben verschiedene Stimmungen ausgedrückt.» Sie malte die Zeichen für die Honigtopfameise und das Känguru. «Rot steht für Glück –»
Eine Sirene heulte auf und zerriss die Ruhe. Überrascht wandte Ann sich von der Tafel ab. Soweit sie wusste, war kein Probealarm angemeldet.
Ein paar Kinder standen auf und schoben ihre Stühle nach hinten. Andere stöhnten, ohne sich beim Malen stören zu lassen.
«Kommt, Kinder.» Ann klatschte in die Hände. «Wer führt unsere Reihe an?»
Steven winkte. «Ich!»
«Du kommst hierher an die Tür. Alle anderen stellen sich hinter Steve auf.»
«Aber ich bin noch nicht fertig», sagte Jodi.
«Lass es einfach so liegen, Jodi. Komm jetzt.»
«Ich muss bloß noch diese eine Ecke fertig machen.»
«Macht nichts. Komm jetzt. Auf geht’s.»
Jodi schob ihren Stuhl zurück und gesellte sich missmutig zu den anderen Kindern, die schon aufgereiht an der Tür standen. Nur Heyjin saß noch auf ihrem Stuhl und sah sich mit großen Augen um. Ob sie überhaupt verstand, was los war?
«Keine Angst, Heyjin. Das ist ein Feueralarm.» Ann streckte ihr die Hand entgegen. Selbst wenn sie die Sprache nicht verstand, konnte sie der Geste folgen. «Wir müssen gehen.»
Heyjin ließ sich zum Aufstehen bewegen.
«Du gehst mit Maddie, okay?» Ann schob sie in die Reihe und ging nach vorne. «Gut, Steve. Es kann losgehen.»
Sie marschierten nach draußen auf den Spielplatz. Überall standen Grüppchen aufgeregt plappernder Kinder, und aus dem Gebäude strömten immer mehr herbei. Ein kleines Mädchen stolperte. Anne half ihr auf und führte ihre Klasse zu den Schaukeln.
«Mir ist kalt», jammerte Jodi. «Ich brauche meinen Mantel.»
Der hing im Klassenzimmer am Haken. «Stampf mit den Beinen», sagte Ann. «Denk an was Warmes.» Sie schritt die Reihe frierender Kinder ab und zählte.
Ein paar Meter weiter zählte eine andere Lehrerin ihre Schar. «Diesmal ist es ernst», sagte sie leise.
Ann warf ihr einen Blick zu. «Was ist passiert?»
Ihre Kollegin verdrehte die Augen. «Irgendjemand wollte den Viertklässlern zeigen, wie ein Vulkan funktioniert, und hat dabei das Physiklabor in die Luft gejagt.»
«O mein Gott», jammerte Jodi. «Wir werden ewig hier draußen rumstehen.»
«Nein, so lange bestimmt nicht.» Abwesend tätschelte Ann Jodis Schulter. Sie hatte neunzehn Kinder gezählt. Das kam nicht hin. In Maddies Klasse waren zwanzig Schüler. Sie zählte noch einmal.
«Ich will rein.»
«Kann ich spielen, solange wir warten?»
Maddie, Hannah, Jodi …
«Ist das Rauch?»
«Quatsch.»
«Doch, da. Siehst du? Aus dem Fenster dahinten.»
Kristen, Michael, Foster, Stephanie … Moment mal. Wo war Heyjin? Ann ließ den Blick über den Spielplatz schweifen und hielt nach dem zierlichen kleinen Mädchen mit dem knallroten Sweatshirt Ausschau. «Hat einer von euch Heyjin gesehen?»
Maddie schüttelte den Kopf, und Jodi sagte: «Die ist dringeblieben.»
Das konnte nicht sein. Ann hatte sie selbst in die Reihe gestellt.
Jodi zuckte die Achseln. «Sie kommt nie mit raus.»
«Das stimmt, Mom», sagte Maddie. «Heyjin mag nicht auf den Spielplatz.»
Einen Augenblick starrte Ann Maddie an. Dann wandte sie sich an ihre Kollegin: «Würden Sie einen Moment auf meine Klasse aufpassen?»
Der einzige Weg zurück ins Gebäude führte durch den Haupteingang. Die rote Flügeltür stand weit offen. Die Sirene heulte unaufhörlich, und an den Decken blinkten rote Alarmlichter. Auf dem Gang war niemand. Die Verwaltungsbüros waren geräumt, alle Klassenzimmer verlassen.
Aus dem hinteren Korridor quoll grauer Qualm. Mit schnellen Schritten eilte Ann in die entgegengesetzte Richtung zum Kunstraum. Alles war, wie sie es verlassen hatten. Die Blätter lagen auf den Tischen verstreut, die Stühle standen kreuz und quer im Raum verteilt. Heyjin war nirgends zu sehen. Hatte Jodi sich getäuscht? Nein. Maddie hatte es ja bestätigt.
Die Materialkammer. Sie riss die Tür auf, und dort saß das kleine Mädchen zusammengekrümmt auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen. Erleichtert atmete sie auf. «Heyjin!»
Das Kind sah sie an. Seine Wangen waren tränenverschmiert. Einer seiner Zöpfe hatte sich gelöst, und die Haare fielen ihm lang und glänzend über die Schultern.
Ann trat in die Kammer und nahm das zitternde Kind in die Arme. «Gott sei Dank, Heyjin. Komm mit. Wir müssen hier raus.»
Heyjin schüttelte so vehement den Kopf, dass sich auch der zweite Zopf löste.
In der Ferne hörte Ann eine Feuerwehrsirene. «Ich trage dich.»
Das Mädchen drückte sich tiefer in die Ecke. «Ich nicht gehen.»
Sie sprach also doch Englisch. Die Sirene wurde lauter. Bunte Lichtstreifen fuhren über die Decke des Klassenraums. «Heyjin, wir gehen jetzt, und zwar sofort.» Entschlossen nahm sie das Kind auf den Arm.
Heyjin versuchte sich ihr zu entwinden. «Nein, nein.»
«Es muss sein, Kleines. Keine Angst.» Sie rannte so schnell durch den Flur, dass Heyjin in ihren Armen auf und ab wippte.
Maddie war bestimmt außer sich vor Sorge, weil die Feuerwehr schon da war und ihre Mutter sich noch im Gebäude befand.
Sie hatten es fast geschafft. Es roch nach Rauch. Heyjin schluchzte und wand sich in ihren Armen. Vermummte Feuerwehrleute erschienen im Eingang. Sie schleppten einen langen Schlauch hinter sich her. Ihre maskierten Gesichter wandten sich ihr zu, als sie mit der schreienden Heyjin an ihnen vorbei aus der Tür eilte.
Draußen ließ sie sich auf eine Bank fallen. Am liebsten hätte sie das Kind geschüttelt. Was in aller Welt trieb sie dazu, sich so zu verhalten? Sie setzte das Mädchen neben sich und nahm sie bei den Schultern. «Heyjin, was ist denn bloß mit dir los?»
«Mein Papa tot.» Sie sagte es mit leiser Stimme.
Ann stockte der Atem. Das hatte sie nicht gewusst. Warum stand es nicht in ihrer Akte? Warum hatte ihr keiner etwas von Heyjins Problemen gesagt? «Kleines, das tut mir so leid.»
Heyjin hob das Kinn und sah Ann an. Eine ganze Weile, als suchte sie irgendetwas. Dann sagte sie: «Erst wurden Hühner krank. Dann mein Papa.»
Seltsam, in diesem Schulbezirk gab es keine Hausgeflügelzucht. Doch dann verstand Ann. «In Korea?»
Heyjin nickte.
Korea. Mehrfach war dort Vogelgrippe ausgebrochen und kaum wieder einzudämmen gewesen. Millionen Hühner waren geschlachtet worden. An die hundert Menschen waren gestorben. Einer von ihnen musste der Vater dieses kleinen Mädchens gewesen sein. Ann umschlang sie fest. «Hier bist du sicher. Das verspreche ich dir. Dir kann nichts passieren.»
Kurz darauf spürte sie, wie sich die Arme des Mädchens um ihren Hals legten. Ann hielt sie fest, spürte ihr weiches Haar im Gesicht und schaukelte sie sanft hin und her. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Heyjin in Korea durchgemacht haben mochte. Es war ein Wunder, dass sie der Gefahr entkommen war.
Es war ein Wunder, dass man sie ins Land gelassen hatte.
Heyjin flüsterte ihr ins Ohr: «Bald kommt hier auch.»