ZWEIUNDFÜNFZIG

Ann richtete sich auf. Sie war sofort hellwach. Ihr Herz klopfte laut in der Brust. Es war wieder dieser Traum gewesen. Sie erinnerte sich an einzelne Szenen. Peter, der ihr zulächelte und winkte. Komm, mein Schatz, das Wasser ist wundervoll. Sie wollte durch die Wellen auf ihn zulaufen, aber jedes Mal, wenn er wieder auftauchte, war er weiter von ihr entfernt. Dann wurde sie von der Strömung erfasst und unter Wasser gerissen, und plötzlich war er da und umklammerte ihren Arm, zog sie zurück ins Sonnenlicht.

Aber das war nur ein Traum, der sie traurig machte, kein Grund für Herzklopfen.

Die Mädchen schliefen neben ihr, die Haare auf ihren Kissen ausgebreitet. Wovon war sie aufgewacht? Jacob. Rasch stieg sie aus dem Bett und kniete sich an sein Lager. Er lag auf dem Rücken, den kleinen Daumen im Mund. Sie legte ihm sanft eine Hand auf die Brust. Es dauerte einen quälend langen Moment, bis sie das sachte Auf und Ab seiner Atemzüge spürte. Erleichtert richtete sie sich auf.

‹Warum darf Jakey nicht bei uns im Bett schlafen?›, hatte Maddie gefragt.

‹Darum›, hatte Ann geantwortet, und Maddie hatte über ihre ungewohnt schroffe Reaktion erstaunt zu ihr aufgeblickt.

Ann zog sich ein Sweatshirt über und trat ans Fenster. Die Straße lag blau im Mondschein. Alles war ruhig, nichts, was sie geweckt haben konnte. Ihr innerer Alarm musste ohne besonderen Grund geschrillt haben, wie neuerdings jede Nacht, als ob sie damit das eine Mal, als ihre Aufmerksamkeit versagt hatte, wieder wettmachen könnte.

Sie legte die Stirn an das kühle Glas. Hinten in der Gartenecke stand Peters Baum, und darunter wachte sein treuer Gefährte. Wie konnte sie Barney morgen früh überreden, mit ihnen ins Auto zu steigen? Vielleicht sollte sie ein altes Hemd von Peter mitnehmen und ihm als Schlafdecke anbieten.

Da hörte sie es. Leise knirschende Schritte im Erdgeschoss. Sie straffte die Schultern und lauschte. Hier oben war alles still.

Wenig später hockte sie im Flur und spähte durch das Treppengeländer nach unten. Ein Lichtstrahl wanderte über den Fußboden, und es glitzerte wie von tausend Diamanten. Glasscherben. So waren sie also hereingekommen.

Die Taschenlampe leuchtete in ihre Richtung, der Schatten dahinter groß und breit. Sie drückte sich an die Wand.

Die Polizei konnte sie nicht rufen. Und selbst, wenn es ihr irgendwie gelang, aus dem Haus zu kommen, gab es keine Nachbarn, die zu Hilfe kommen konnten. Außerdem konnte sie unmöglich die Kinder mit diesen Fremden allein lassen, nicht einen einzigen Augenblick. Sie war vollkommen ungeschützt. Nein, nicht ganz. Aber das brachte sie nicht fertig. Allein der Gedanke war beängstigend.

Vielleicht würden sie unten bleiben. Vielleicht würden sie sich damit zufriedengeben, die Lebensmittel und das Wasser zu klauen, und damit gut. Ihre gesamten Vorräte standen bereit, einladend in Beutel und Taschen verpackt. Sie konnten sie einfach nehmen und wieder in die Nacht verschwinden. Doch was sollte sie tun, wenn sie die Treppe heraufkamen, um sich umzusehen?

Das Schloss in der Schlafzimmertür war nutzlos, es würde nicht den geringsten Widerstand bieten.

Unten knarrten die Dielen. Möbel wurden bewegt. Was machten sie da? Warum beeilten sie sich nicht einfach und hauten wieder ab? Unentschlossen richtete sie sich auf. Eine Küchenschranktür knallte. Sie kam nicht mehr an ihnen vorbei. Wie viele waren es? Es klang nach mehr als einem. Und sie war allein. Aber nicht hilflos.

Leise schlich sie ins dunkle Schlafzimmer zurück.

Sie zog die Tür hinter sich zu. In der Stille klang das Klicken des Schlosses so laut wie Donner, aber von unten kam keine Reaktion. Es gefiel ihr gar nicht, hier im Zimmer zu sein, wo sie nicht mitbekam, was sie machten. Sie musste sich beeilen.

Ohne die Augen von der Tür zu wenden, schlich sie zum Schrank. Dort riss sie den Blick los und drehte sich um, kletterte auf einen Hocker und langte nach dem langen schlanken Gegenstand, der hinten im obersten Bord lag. Lebensmittel und Wasser waren nicht das Einzige, was sie bei Finn gefunden hatte. Sie zog den Reißverschluss auf und holte das Gewehr aus der Tasche.

Peter hatte ihr einmal gezeigt, wie es ging.

Das hier ist eine klassische Remington 870, eine Schrotflinte, Kaliber zwölf. Das Kaliber bezeichnet den Durchmesser des Laufs und die Größe der Patronen. Dies ist eine sogenannte Pumpgun.

Sie hatte keine Ahnung, was für ein Kaliber sie jetzt in der Hand hielt, aber eine Schrotflinte musste es wohl sein, sie würde also nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Sie riss den Klettverschluss an der Seitentasche auf und erschrak bei dem Geräusch. Unten drin lag eine kleine schwere Schachtel.

Du schiebst die Patronen ins Magazin. Ein kleiner Widerstand verhindert, dass sie wieder rausrutschen. Versuch’s mal, Ann.

Sie sah sich das Gewehr näher an. Da war die Öffnung für die Patronen. Und dort musste sie ziehen, um sie hineinschieben zu können. Es machte hörbar katschuk. Ihr Herz machte einen Sprung. Sie sah sich um. Nichts war zu hören.

Ihre Hände waren schweißnass. Sie wischte sie an ihrem Sweatshirt ab. Was jetzt? Sie hatte nicht vor, nach unten zu gehen und die Männer zu stellen. Sie hatte nicht vor, ihre Kinder hier oben allein zu lassen. Sie wollte warten, bis sie gingen. Vielleicht waren sie schon weg.

Ein Geräusch drang durch die Heizungsschlitze. Lachen. Sie waren noch da, im Zimmer unter ihr. In ihrer Küche. In aller Ruhe trieben sie sich im Haus herum und stahlen ihren Kindern das Essen und das Wasser. Wieder gedämpftes Lachen. Sie wurden übermütig.

Das war genau die gleiche Sorte Menschen, die Peter auf dem Gewissen hatten.

Die Tür sprang auf, und sie stand im Flur, auf dem Weg zur Treppe. Es gab nur diese eine Treppe. Sie konnten nicht an ihr vorbei zu den Kindern.

Schubladengeräusche. Schritte. Leises Lachen.

Ein Mann kam aus dem Esszimmer, eine Plastikflasche am Mund.

Er sah sie im gleichen Moment wie sie ihn und erstarrte. Dann senkte er die Flasche, Wasser tropfte ihm über das bärtige Kinn. Er war dick gekleidet und hatte sich eine Wollmütze tief in die Stirn gezogen.

«Raus aus meinem Haus.» Ihre Stimme klang fremd, leise und unsicher. Ihr Herz pochte so laut, dass sie sich kaum hören konnte.

Er wischte sich mit dem Unterarm übers Gesicht. «’tschuldigung. Wir wussten nicht, dass jemand da ist.»

«Raus, hab ich gesagt.»

Ihre Arme zitterten. Sie hatte Angst, dass ihr das Gewehr aus der Hand fallen würde. Ihre Hände schwitzten. Sie hörte es hinter ihm klappern. Geschirr klirrte, Schranktüren knallten auf und zu.

«Ja, ja, schon gut. Immer mit der Ruhe.» Er stellte die Flasche auf den Esszimmertisch. Sie kippte um, ein Becher voll lief aus. So viel, wie sie jedem Kind bei den Mahlzeiten zugestand.

Wut stieg in ihr auf. Sie hob das Gewehr und legte an. «Ihr meint wohl, ihr könnt machen, was ihr wollt», knurrte sie. «Arschlöcher.»

«Hören Sie.» Beschwichtigend hob und senkte er die Hände. «Beruhigen Sie sich. Wir wollen doch nicht, dass es Verletzte gibt.»

Guck, da ist das Korn. Damit zielst du. Komm schon, Ann, versuch’s mal. Sie ist nicht sehr genau. Du musst sie auf eine Stelle eben unter deinem Ziel richten.

Sie ging die Treppe hinunter. Er wich rückwärts in die Küche zurück.

Hinter ihm drehte sich ein zweiter Mann um. Er wirkte groß und dünn. Offenbar waren sie bloß zu zweit. An der Tür blieb sie stehen. Wenn sie weiterging, konnte sie nicht beide Männer im Blick behalten. «Haut ab. Beide.»

Auf einmal schaute der erste Mann an Ann vorbei. «Hallo, Süße. Wie heißt du denn?»

«Mom?»

O Gott.

«Kate, geh wieder ins Bett», sagte Ann. «Sofort.»

Wo war der zweite Mann hin? Er stand nicht mehr an den Schränken. Sie schwenkte die Waffe, und der Bärtige riss die Hände hoch.

«Sie werden mich doch nicht vor den Augen der kleinen Kate erschießen. Sie wollen doch nicht, dass Ihre kleine Tochter das sieht.»

«Wo ist dein Freund?», fauchte sie.

«Mom.» Kates Stimme bebte.

«Ab ins Bett, hab ich gesagt.» Wo zum Teufel war der zweite Mann?

«Mom, da ist noch einer.» Kates Stimme war schrill vor Angst.

Im Flur schlurften Schritte. Sie bedrohten sie aus zwei Richtungen.

«Kate, stell dich hinter mich.»

Sie drehte sich so, dass sie mit dem Rücken vor Kate und der Wand stand. Eine dunkle Gestalt glitt durch das Esszimmer auf sie zu. Einer in der Küche, einer im Esszimmer. Der in der Küche war näher. Zwischen ihm und ihr stand nichts. Nichts, was das Zielen erschwerte.

Schrotflinten gibt es in drei Größen. Der Lauf kann 30, 28 oder 26 Inches lang sein. Die kürzeren streuen weiter. Dies ist eine Achtundzwanziger. Ziemlich gut für die Jagd, aber für Nahschüsse ist das egal. Aus der Nähe wirst du dein Ziel auf jeden Fall erwischen.

«Sie zittern ja», sagte er. «Ich wette, Sie haben noch nie auf jemand geschossen.»

Sie umfasste den Lauf mit der Linken und spähte auf das kleine Rechteck an der Spitze. Sie senkte die Flinte so, dass sie auf den Schritt des Mannes zeigte.

Er trat näher. «Kriegen Sie das fertig?», fragte er leise, herausfordernd. «Einen Menschen aus nächster Nähe zu töten?»

Sie hörte Kates panisches Atmen hinter sich.

Sie würde ihn erschießen. Sie würde es tun.

«Ich hab nicht mal ein Messer dabei.» Er hielt seine Jacke auf und zeigte ihr die leeren Taschen. «Sehen Sie?»

Er war unbewaffnet. Konnte sie auf einen unbewaffneten Mann schießen?

Dann stürzte er auf sie zu. Kate kreischte.

Ann drückte ab und hörte ein leeres Klicken. Was? Sie drückte ein zweites Mal ab. Das Herz sackte ihr in die Hose. Nichts.

Lachend langte er nach dem Lauf. «Es geht besser, wenn man entsichert.»

Ann starrte ihn an. Jetzt hatte er beide Hände am Lauf und stand direkt vor ihr. Er roch nach Schweiß und ungewaschenen Sachen. Er grinste.

Sie lehnte sich zurück. Das Metall grub sich in ihre Hand. Sie musste an die Sicherung kommen.

«Bill», sagte der zweite Mann.

Hundemarken klapperten.

Der Bärtige sah sich um. Eine braune Bestie schoss auf ihn zu, schützend hob er einen Arm vor das Gesicht.

Ein ohrenbetäubender Knall.

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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