NEUNUNDZWANZIG

Peter schraubte ein Gläschen Babynahrung auf. Jacob saß auf Shazias Schoß und beobachtete jede seiner Bewegungen. Vor dem Kamin kniete Ann und hielt einen Topf über die Flammen. Sie hockte so weit von ihm und Shazia entfernt wie irgend möglich.

Peter tauchte den Löffel ein und angelte nach den pürierten Möhren.

Shazia schaukelte den Kleinen auf dem Schoß. «Aufmachen», befahl sie. «Ham, ham.»

Gehorsam nahm Jacob den Löffel in den Mund und schluckte. Brei lief ihm übers Kinn.

«Hast du draußen jemanden gesehen, Peter?», fragte Shazia, während sie Jacob das Gesicht abwischte.

«Ein kleines Mädchen.»

«Und?» Ann richtete sich ein wenig auf. Ihre Wangen waren vom Feuer gerötet.

«Ihre Mutter ist gekommen und hat sie geholt. Ich war noch fast fünf Meter von ihr entfernt.» Anns ständige Wachsamkeit machte ihm zu schaffen.

Jacob griff mit seinen dicken Händchen nach dem vollen Löffel.

Shazia fing seinen Arm ab. «Nein, nein, Kleiner.»

Von oben rief Maddie: «Kann ich bitte runterkommen?»

«Ich habe es dir gesagt, Maddie. Nicht vor morgen.» Ann trug den Topf in die Küche. Sie verteilte das Hühnerfleisch auf die Schüsseln der beiden Mädchen und gab Flüssigkeit dazu. Sie hatte eine Dose Wasser mehr genommen. Es würde eine ziemlich dünne Suppe sein.

«Aber Kate schläft. Und ich hab solche Langeweile.»

«Es gibt gleich was zu essen. Und danach können wir Karten spielen.»

«Warum kann Dad mit Jacob zusammen sein, aber wir nicht?»

Ann stellte den Topf ab. «Darum.»

Jacob schlug gegen den Löffel, der ihm vor den Mund gehalten wurde, und gluckste vor Freude, als der Brei zu allen Seiten spritzte. Shazia hielt seine Hand fest. «Nein, nein.»

Ann schlüpfte in ihren Mantel und zog sich die Mütze über die Ohren. Sie nahm den Müllbeutel, der am Schrank lehnte, schloss die Schiebetür auf und trat nach draußen. Winterluft fegte ins Haus, bis sie die Tür wieder hinter sich zugezogen hatte.

«Jacob wirkt vollkommen gesund», sagte Shazia zu Peter. «Vielleicht hat seine Mutter die Wahrheit gesagt.»

«Kann sein.» Diese Möglichkeit hatte Ann von vornherein verworfen. Dabei wusste sie, wie es war, ein Kind zu verlieren. Wie konnte sie so einfach dazu bereit sein, eine andere Mutter das Gleiche durchmachen zu lassen?

«Ist sie gut mit Ann befreundet?», fragte Shazia.

Sie waren Freundinnen, seit sie in das Haus gezogen waren. Libby war noch am gleichen Tag zu ihnen herübergekommen und hatte ihnen zur Begrüßung einen Teller angebrannte Brownies gebracht. «Ann ist Jacobs Patentante.»

Er hatte hinten in der Kirche gestanden, auf Einladung von Smith, und zugesehen, wie Ann am Altar Libby das Baby abnahm. Er hatte es nicht ausgehalten, wie traurig sie dabei aussah. Er war still und leise gegangen.

«Ach, deswegen guckt sie ihn so an.»

Das Mitgefühl in Shazias Stimme war unverkennbar. Peter sah sie an. «Du willst doch nicht sagen, dass du es richtig findest, wie sie gehandelt hat?»

Shazia zuckte die Achseln und wischte Jacob noch einmal das Kinn ab. «Ann ist eine Mutter. Ich weiß nicht, wie das ist.»

War das ein Zeichen von Frauensolidarität? Das hätte er nicht erwartet. Shazia schien immer so logisch zu denken, so rational. Sie ließ sich immer eher vom Objektiven als vom Subjektiven leiten. Von Fakten, nicht von Gefühlen. Nie hätte er geglaubt, dass sie und Ann in ihrer Einstellung etwas gemeinsam hätten.

Die Schiebetür ging wieder auf. «Peter, kannst du mal kommen?»

Ann stand in der Tür. Sie klang aufgeregt. Müde stand er auf und reichte Shazia den Löffel. Er nahm seine Jacke vom Haken, zog sie über und holte die Handschuhe aus der Tasche. «Was ist?»

Sie zeigte auf den Boden.

Er folgte der Linie ihres Fingers zu den beiden Schüsseln, die unmittelbar neben der Schutzhülle für den Grill auf den Fliesen standen.

«Das ist nicht dein Ernst, oder?», sagte sie.

«Ich habe ihm nur Dinge gegeben, die wir nicht gegessen haben.» Sie erinnerte ihn so an seinen Vater. Sie sah genauso enttäuscht aus wie er, als er Peter dabei erwischt hatte, wie er die Fallen unschädlich machte, die sein Vater aufgestellt hatte.

«Was haben wir nicht gegessen, Peter? Nenn mir eine Sache. Heute haben die Mädchen Kräcker mit Senf zum Mittagessen bekommen.» Sie schluckte. «Und sie haben sie gegessen.»

Er sah sie an, ihre rissigen Lippen, die unordentlich zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare. Er dachte daran, wie sie das Hühnerfleisch aus der Suppe herausgepickt und auf die Schüsseln der Mädchen verteilt hatte. Beim Essen spielte sie mit den Mädchen, bis sie jeden letzten Bissen verzehrt hatten. Sie versuchte um jeden Preis zu verbergen, dass ihre eigene Schüssel bloß halbgefüllt war.

Er streckte die Hand aus. «Ann, du bist eine gute Mutter. Ich hab das vorhin nicht so gemeint.»

Sie zuckte zurück. «So war es zwischen uns immer.»

«Nein, das war es nicht. Weißt du das nicht mehr?»

«Ich war dir nicht gut genug. Unsere Kinder waren dir nicht gut genug. Unser gemeinsames Leben war dir nicht gut genug.»

«Das stimmt nicht. Aber ich hatte es satt, immer bloß unglücklich zu sein. Auch du hast es verdient, glücklich zu sein.»

Sie stopfte die Hände in die Taschen. «Hör auf damit.»

Er wusste, woran sie dachte, woran sie ohne Unterlass dachte. «Du weißt, dass ich dir keine Schuld gebe.»

Das hatte er ihr schon Millionen Mal gesagt. Aber es zählte nicht. Sie selbst gab sich die Schuld. Nichts, was er sagte, konnte daran etwas ändern. Ihre Schuldgefühle standen unüberwindbar zwischen ihnen. Sie hatten sie einander vollkommen entfremdet.

Mit fest aufeinandergepressten Lippen schüttelte sie den Kopf. «Du kannst nicht hierbleiben. Du bist weggegangen, und du hättest wegbleiben sollen. Zusammen kriegen wir es einfach nicht hin. Wir machen alles bloß schlimmer.»

«Ann», versuchte er, aber sie hörte nicht zu.

«Wir wissen nicht, wie lange diese Quarantäne andauern wird.» Ihr Gesicht war bleich. «Aber du kannst nicht hierbleiben.»

Nach Williams Tod hatte sie es nicht ertragen, auch nur in die Nähe des Babyzimmers zu gehen. Monatelang blieb die Tür verschlossen. Eines Tages war er früher von der Arbeit gekommen und hatte Kate beim Mittagsschlaf in ihrem Zimmer vorgefunden. Er war dem leisen Rascheln nachgegangen, das aus dem Babyzimmer kam, wo die Tür weit offen stand. Dort kniete Ann vor der Kommode und packte gefaltete weiße Unterhemdchen und kleine blaue Schlafsäcke in Kartons. Er hatte in der Tür gestanden und voller Sorge dabei zugesehen, mit welchem Zorn sie die Schubladen leerte. Sie hatte ihn bemerkt und sich halb aufgerichtet, um ihn anzuschauen. «Ich kann hier nicht mehr wohnen, Peter. Wir müssen umziehen.»

Am nächsten Morgen hatte er Liederman angerufen, und einen Monat darauf war das Angebot aus Columbus gekommen. Damals hatte er geglaubt, sie fliehe vor der Erinnerung. Jetzt wurde ihm klar, dass sie vor ihm geflohen war.

Nachdenklich sah er sie an. Er würde sich also überlegen müssen, wo er hinkonnte. «Soll ich es den Mädchen erklären?», fragte er.

«Ja.»

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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