EINUNDDREISSIG
Maddie lehnte an der Tür zum Hauswirtschaftsraum und bummerte mit dem Absatz ans Holz. «Aber ich will nicht, dass du gehst.»
Peter rollte eine Jeans zusammen und stopfte sie in seine Reisetasche. «Ich werde ja nicht weit sein, Schatz. Bloß ein paar Minuten.»
Zwanzig Minuten oder zehn Meilen. Irgendwo auf dem Weg würde er anhalten und ein paar Lebensmittel kaufen. Vielleicht würde er an einem Supermarkt vorbeikommen, der geöffnet hatte, oder an irgendeinem Kiosk. Eine Tankstelle würde schon reichen. Auf dem Weg zu seiner Wohnung würde er an mehreren vorbeikommen. Er brauchte nicht viel. Er konnte eine ganze Weile von Erdnussbutter und Schokoriegeln leben. Und wenn er keine bekam, würde er einfach was anderes nehmen. Er zog den Reißverschluss zu und sah Maddie an. Ihr Mund war nach unten verzogen, und sie blinzelte in einem fort, um die Tränen zurückzuhalten. Er ging zu ihr, kniete sich vor sie und umfasste ihre kleinen Hände. «Sobald ich mich eingerichtet habe, kannst du zu Besuch kommen.»
«Warum kann ich nicht gleich mit?»
Die Antwort kam von Kate an der Tür. «Weil er das nicht will.»
Peter blickte auf. Kates Gesicht war wutverzerrt. «Kate», setzte er an, aber sie drehte sich abrupt um und stürmte davon. Er hörte, wie sie etwas sagte, und Anns gedämpfte Antwort.
«Stimmt das, Dad?»
Er drückte sanft Maddies Hände. Es war ihm schon beim ersten Mal schwer genug gefallen, sie zu verlassen. «Natürlich will ich dich und Kate bei mir haben, aber du kennst doch meine Wohnung.»
Sie schob die Unterlippe vor. «Du hast nur ein Bett.»
«Richtig. Ich muss erst noch ein paar Sachen organisieren. He, ich hab eine Idee. Wie wär’s, wenn du mir noch ein Bild malst, das ich an die Wand hängen kann? Wie wär’s mit einem Sonnenuntergang?»
Sie trat noch ein paarmal gegen die Tür, dann entzog sie ihm ihre Hände und ging.
Peter stopfte noch ein Hemd in die Tasche, zog den Reißverschluss zu und stellte sie in den Flur.
Ann blickte vom Sofa auf, wo sie mit Jacob auf dem Schoß saß. Kate saß krumm und mit böser Miene neben ihr, und auf der anderen Seite saß Maddie, ihren Kasten mit den Buntstiften geöffnet vor sich.
«So, das ist, glaube ich, alles.» Peter hob Jacobs Decke auf, den Zahnring und das Bilderbuch mit den angeknabberten Ecken.
«Du willst doch nicht das Kind mitnehmen?», sagte Ann.
Er sah sie an. Es war seltsam, sie mit Jacob zu sehen. Alle Säuglinge waren sich ähnlich, weich und süß und meistens kahl, doch etwas an der Art, wie sie ihn hielt, ließ Peter an William denken. Vielleicht die blaue Mütze auf dem kleinen runden Kopf. «Doch, sicher.»
Maddie hob den Kopf. «Das ist nicht fair, Dad.»
Kate sagte: «Und was ist, wenn Libby ihn wieder holen will?»
Ann warf ihr einen Blick zu. «Genau. Jacob muss hierbleiben.»
Überrascht sah Peter sie an. All diese Erinnerungen, die Jacob auch in ihr wecken musste – war sie wirklich bereit, sich ihnen auszusetzen und den Kleinen wer weiß wie lange zu versorgen?
Maddie machte ein böses Gesicht. «Wenn du Jacob mitnehmen kannst, musst du mich auch mitnehmen.»
«Endlich mal eine gute Idee», sagte Kate.
«Halt den Mund», sagte Maddie. «Bitte, Dad.»
Er legte Maddie eine Hand auf den Kopf, ohne den Blick von Ann zu wenden. «Meinst du das ernst?»
Jacob wippte auf Anns Schoß, und sie hob ihn so hoch, dass er auf ihren Knien stehen konnte. Er gluckste vor Vergnügen und klatschte in die Hände. Sie drückte ihre Wange auf seinen Kopf und sah Peter an. «Ja, vollkommen ernst.»
In ihr hatte sich etwas gewandelt. Er fragte sich, wann.
Maddie sah ihn fragend an. «Heißt das, du gehst trotzdem?»
«Ja, Schätzchen.» Er legte die Sachen aus der Hand und warf einen Blick zum Kamin. «Aber ich glaube, vorher besorge ich noch ein bisschen Feuerholz. Ist nicht mehr viel da.»
Ann schüttelte den Kopf. «Du solltest im Dunkeln nicht mehr unterwegs sein.»
«Das ist noch Stunden hin. Ich habe Zeit.»
«Kate, bitte, nimm Jacob einen Augenblick.» Ann gab dem Baby einen Kuss und setzte es Kate auf den Schoß. «Können wir kurz reden, Peter?» Sie ging in den Hobbyraum voraus und schloss die Tür. «Shazia will mit dir mit.»
Er war überrascht. «Wirklich?» Sie hatte ihm nichts davon gesagt. Er wusste nicht einmal, wo sie jetzt war. Eigentlich hätte er sie noch sprechen wollen, bevor er ging, aber sie war den ganzen Morgen nicht aufgetaucht. Zuletzt war sie oben im Bad gewesen und hatte sich dort eingeschlossen.
«Ich halte das nicht für eine gute Idee.»
«Ich auch nicht.» Ihm war gar nicht wohl dabei, Ann mit den Kindern und der ganzen Hausarbeit allein zu lassen. Es war sicherer für alle, wenn Shazia blieb. «Ich werde mit ihr reden.»
«Sie ist fest entschlossen.»
Er fragte sich, warum. Hatte sie Angst, dass sie ihnen zur Last ging? «Sie ist ein kluges Kind. Sie wird auf Vernunft hören.»
Ann hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte zu Boden. «Peter.» Sie holte tief Luft und atmete wieder aus, dann hob sie den Blick und sah ihn an. «Ich weiß Bescheid über das Baby.»
«Okay», sagte er langsam. «Das Baby ist gesund, genau, wie Libby es versprochen hat.»
Sie schüttelte den Kopf. «Nicht Jacob. Ich meine Shazias Baby.»
«Shazia hat ein Kind?» Er starrte sie an. Shazia war direkt nach dem Examen zur Promotion in die USA gekommen. Wann hatte sie Zeit gefunden, eine Familie zu gründen? Und warum hatte sie nie etwas davon gesagt? Und wo war das Kind? Ann musste sich irren.
«Sie bekommt ein Baby», sagte Ann mit strenger Miene.
«Sie ist schwanger?» Er war vom Donner gerührt. «Hat sie dir das gesagt?»
«Das musste sie nicht.»
Er rieb sich den Nacken. Großer Gott. Was jetzt? «Und wie weit ist sie?»
«Noch nicht sehr weit, zehn, zwölf Wochen, denke ich. Es ist noch kaum was zu sehen.»
Die ganzen Risiken, denen sie sich ausgesetzt hatte. Wenn er es gewusst hätte, hätte er ihr nie erlaubt, mit den Proben vom Vogelsterben zu hantieren. «Warum hat sie mir nichts gesagt?»
«Darauf weiß ich keine Antwort, Peter.» Sie verschränkte die Arme. «Aber ich bin sicher, das ist der Grund, warum sie mit dir gehen möchte.»
Er nickte. «Ich werde mit ihr reden», sagte er wieder. Shazia war schwanger. Das änderte alles.
Es regnete weiter, leicht, aber unablässig, mit Graupelschauern zwischendurch. Peter war vollkommen durchnässt, als er wieder zu Hause ankam. Er breitete die nassen Äste in der Garage aus und hängte Hut und Mantel über die Schubkarrengriffe.
Ann stand in der Küche und spülte. Sie war dick angezogen, in düsteren Farben, nur ihr Kopf und die Hände guckten raus. Trotzdem sah man ihr an, dass sie fror. Sie sah ihn über die Schulter an. «Na, was gefunden?»
«Es ist alles zu nass, um es zu verbrennen. Ich hab das Holz zum Trocknen in die Garage gelegt. Ich hab nebenan geklingelt. Da ist keiner an die Tür gekommen.»
Sie drehte den Wasserhahn zu und nahm ein Geschirrtuch. «Hast du in die Fenster geguckt?»
«Ich bin ums ganze Haus gegangen. Das Feuer im Wohnzimmer ist aus, aber oben scheint Kerzenlicht.»
«Oh.» Sie atmete aus. «Das ist gut.»
«Es wird dunkel. Ich sollte bald fahren.»
Sie nickte.
Maddie und Kate saßen mit Jacob am Feuer, Shazia im Schneidersitz neben ihnen. Sie spielten mit einem kleinen Laster, den sie durch die Deckenfalten schoben. Jacob gluckste und klatschte so eifrig mit den Händen auf die Decke, dass er beinahe umfiel.
«Vorsicht», sagte Kate und hielt ihn am Pullover fest. «Guck mal, Jacob. Wo ist der Laster?»
Vor Peters Augen blitzte ein Bild auf, wie Kate sich über Williams Wiege beugte und das Mobile tanzen ließ. «Guck mal, Baby», hatte sie gesagt. «Wo sind die hübschen Flatterlinge?»
Maddie sah Peter an. Ihre Augen waren vom Weinen geschwollen. «Warum musst du gehen, Dad?»
«So ist Dad nun mal», sagte Kate hässlich. «Er geht einfach immer weg.»
Das traf ihn bis ins Mark. Dachte sie das wirklich? Und hatte sie nicht recht? «Kate», sagte er, aber sie wich seinem Blick aus.
«Jakey», sagte sie stattdessen. «Willst du deinen Laster nicht?»
«Lass das, Kate», sagte Maddie. «Ich hatte ihn zuerst.»
«Stell dich nicht so an.»
Ann war hinter ihm ins Zimmer gekommen. Dieser langwierige Abschied war für alle grässlich. Das Beste war, er ging einfach. Er warf einen Blick zum Kamin. Der dicke Holzklotz, den er am Morgen auf den Rost gewuchtet hatte, war nur noch schwelende Glut, über die ein paar Flammen huschten. Er konnte schon spüren, wie das Zimmer auskühlte. «Das Feuer wird bald ausgehen.» Viel länger als eine Stunde würde es nicht halten.
«Es wird spät, Peter», sagte Ann mit Sorge in der Stimme.
Shazia machte Anstalten, sich zu erheben. «Peter?»
«Ich weiß, wir müssen reden», sagte er zu ihr. «Ich kümmere mich nur erst ums Feuer, okay?»
Shazia ließ sich wieder fallen. «Gut.» Sie klang verwirrt. Sie wusste, dass etwas im Busch war.
Er hatte sich immer noch nicht entschieden, wie er das Thema ansprechen sollte. Wie redete man über so was? Also, ich hab gehört, du bekommst ein Baby.
Die Taschenlampe war in der Schublade mit den Kerzen. Er schaltete sie ein. Sie ging noch.
Im Keller war es dunkel, durch die kleinen Oberlichter drang kaum noch Licht. Er ließ den Strahl der Taschenlampe durch den Abstellraum wandern. Er wollte nichts von Wert nehmen, weder die auseinandergebaute Wiege an der Wand noch die ramponierte alte Militärtruhe von seinem Vater. Nichts, was lackiert war, das würde giftige Gase abgeben. Also kam auch Maddies alte Kommode nicht in Frage, es sei denn, er schmirgelte vorher die weiße Farbe ab. Aber das würde eine Weile dauern, und bald war es dunkel. Er richtete die Taschenlampe auf die alten Esszimmermöbel seiner Eltern. Die waren aus Eiche, das würde wohl gehen, aber er würde sie erst noch kleinsägen müssen. Der Lichtstrahl wanderte über eine Reihe eckiger Schatten. Anns Bilderrahmen. Viele davon waren unbenutzt. Einige waren vergoldet. Die konnte er auch nicht nehmen. Er trat näher. Unter seinen Schuhen quietschte es. Er trat ein paar Schritte zurück und leuchtete auf den Boden. Was war das jetzt schon wieder?
Er stand in einer Pfütze. Er richtete den Strahl an die Decke. Dort war keine Nässe zu sehen. Das Wasser kam nicht von oben. Auf dem Fußboden zeigte eine dünne Linie den Umriss einer großen feuchten Stelle, wo Wasser gestanden hatte, aber bereits wieder abgezogen war. Die Pfütze schimmerte glasig.
Er ging nach oben. «Ann?»
Sie drehte sich an der Spüle zu ihm um.
«Wir haben ein Problem.»
Stirnrunzelnd betrachtete sie die Taschenlampe in seiner Hand und griff nach dem Wasserhahn.
«Wann warst du zuletzt im Keller?»
Sie zog die Gummihandschuhe aus. «Vor zwei Tagen, glaube ich. Als ich Spiele für die Mädchen gesucht hab.»
Er leuchtete auf die Treppe, damit sie nicht stolperte. Sie folgte ihm in den Abstellraum.
Sie blieb stehen und starrte auf die Pfütze, dann lachte sie auf. «Was kommt als Nächstes, eine Heuschreckenplage?»
Ein Lächeln schlich sich in seine Miene. «Das hab ich auch gedacht.»
Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht. «Wo kommt das Wasser her?»
«Vom Regen. Weil die Pumpe nicht läuft, kann das Wasser nicht richtig abfließen. Wir müssen alles ausräumen und den Boden trockenwischen.»
Gemeinsam schleppten sie die Kommode in den Hauptraum. Die Taschenlampe lag obendrauf und warf verrückte Schatten an die Wände. Die alte Truhe stank verschimmelt. Sie trugen den hohen Spiegel, die aufgerollten Teppiche und schließlich die Kartons hinaus, die schon ganz aufgeweicht waren.
«Unsere ganzen Bücher», sagte sie traurig.
Nicht alle. Aber ihre Bücher von früher, die sie für die Mädchen aufgehoben hatte, und die alten Kinderbücher, die sie für künftige Enkelkinder aufbewahren wollte.
«Wenigstens ist dem Weihnachtsschmuck nichts passiert.» Er zog den Plastikcontainer von der Wand.
«Was ist das?»
Er hatte gerade eine Ladung Vorhänge auf dem Arm. «Was denn?»
«Dieses Brummen.» Ann richtete sich auf. «Was ist das?»
«Mom?»
«Augenblick», rief Ann.
Jetzt hörte er es auch. Er sah sich suchend nach der Geräuschquelle um.
Ann sagte: «Ich glaube, es kommt von da.»
Sie ging in die Ecke mit der Pumpe. Peter trat hinzu.
«Sie läuft», sagte Ann. «Vielleicht läuft sie auf Batterie.»
Es stimmte. Er konnte sehen, wie sich das Wasser im Schlauch bewegte. «Kann sein. Vielleicht hatte sich irgendwas gelockert, und wir haben es aus Versehen wieder gerichtet.»
«Aber wir waren noch gar nicht in dieser Ecke.»
Plötzlich war alles in grelles Licht getaucht. Blinzelnd erkannte er Kate an der Tür, und sie hatte die Hand am Schalter.
«Guckt mal.» Es wurde dunkel und dann wieder hell. In Kates Gesicht leuchtete Hoffnung. «Heißt das, es ist jetzt vorbei?»