DREIUNDZWANZIG
Peter nahm die Schlüssel vom Haken und rief in die Küche: «Seid ihr fertig, ihr beiden?»
«Sofort.»
«Dann bringt sie mir raus, ja?» Der Essensdieb musste Finns Hund sein, Barney. Er hatte gestern Abend offenbar mehr gesucht als nur einen Unterschlupf. Wahrscheinlich war er kurz vor dem Verhungern. In gewisser Weise hatte er ihnen einen Gefallen getan, indem er sie daran erinnert hatte, wie gefährlich es war, ihre Lebensmittel so ungeschützt in der Garage zu lagern. Heute ein Hund, morgen die Ratten.
Ann und Shazia machten ihm Platz, damit er zu seinem Pick-up gelangen konnte. Peter griff nach der Werkzeugkiste hinten auf der Ladefläche und holte ein Paar Latexhandschuhe heraus.
«Wir werden uns in der ganzen Nachbarschaft umsehen müssen, oder?» Ann machte ein finsteres Gesicht. «Wenn bei einem Ratten sind, dann werden sie auch zu uns kommen.»
«Ja, das stimmt», sagte Shazia.
Er nahm die Plane aus dem Regal und zog sie über die Ladefläche. Ann und Shazia halfen ihm, die Ecken festzustecken.
Maddie kam herausgelaufen. «Hier, Dad.»
«Gut gemacht, Kleines.» Er nahm die Umschläge.
«Was ist das?», fragte Ann.
«Ich habe mit den Mädchen einen Brief an die Nachbarn geschrieben.» Er stopfte die Umschläge in die Manteltasche.
Ann, die auf dem Weg zur Beifahrerseite war, blieb stehen und sah ihn an.
«Hör zu», sagte er rasch, um ihren Einwänden zuvorzukommen, «wir können das machen, ohne den geringsten Kontakt zu riskieren. Wir werden uns ein System ausdenken, wo wir jeweils die Sachen vor die Tür stellen.»
Ann blieb skeptisch. «Du hast mehr Vertrauen in unsere Nachbarn als ich.»
In gewisser Hinsicht war das immer das Problem gewesen. Es war einer der Gründe, weswegen sie aus North Carolina weggegangen waren. «Ich muss los», sagte er. «Du brauchst nicht mit. Ich schaffe das alleine.» Er stieg ein und knallte die Tür zu.
Unsicher trat Ann zurück. Shazia stand neben ihr. Der Motor sprang an. Er fuhr rückwärts aus der Garage.
Er begann am Eckhaus gegenüber, wobei er so gut es ging vermied, die geschwärzten Reste vom Haus der Guarnieris anzusehen. Kleine Einkaufsbeutel müllten den Vordergarten zu wie große, unförmige Schneebälle. Er fasste einen Griff an und zog. Der Beutel war festgefroren. Er zog fester, und der Beutel riss. Schmutzige Papiertaschentücher und Kaminasche rieselten heraus. Er würde sie mit der Hand auflesen müssen. Bevor er weiterfuhr, machte er den Briefkasten auf, legte einen von den Umschlägen hinein und stellte die rote Blechfahne auf. Früher oder später würde Sam Fox rauskommen, um nachzusehen, was er gebracht hatte.
Vor dem Haus der Nguyens waren Metalleimer aufgereiht. Die Deckel saßen so fest, dass Peter sie nur mit äußerster Kraft losbekam. Weil die Eimer zu unhandlich waren, um sie über den Rand der Ladefläche zu hieven, warf Peter die Beutel einzeln auf die Plane. Mrs. Nguyen kam an die Tür, um zu sehen, was er machte. Peter zeigte auf den Briefkasten, und sie nickte.
An der nächsten Auffahrt lag ein Mülleimer halbvergraben im verschmutzten Schnee. Ein Haus weiter lehnten lauter Beutel am Mülleimer. Peter versuchte nicht hinzusehen. Er wollte nicht wissen, ob die Mitchells Tee tranken und Fertigpudding aßen oder eine bestimmte Spülmittelmarke kauften. Er würde die Kerngehäuse ihrer Äpfel nicht mit denen der Hutchinsons oder dem Kaffeesatz der Singhs vergleichen.
Die Straße machte einen Bogen, und Peter hielt vor dem gelben Haus im Ranchstil am Ende der Sackgasse. Hier war er geraume Zeit nicht mehr gewesen. Er erinnerte sich an zwei kleine Kinder, die in der Einfahrt Dreirad fuhren. Hatten die Leute nicht auch eine Katze gehabt? Ja, ein fettes, rotgetigertes Viech, das ihm eines Morgens vor den Pick-up gesprungen war, als er zur Arbeit fuhr. Die Frau war ihr gleich auf den Fersen gewesen. «Verzeihung», hatte sie gerufen, als Peter mit quietschenden Bremsen zum Stehen gekommen war. Sie hatte die Katze auf den Arm genommen und ihm nachgewinkt.
Jetzt war der Garten vor dem Haus mit Getränkedosen und zerdrückten Saftkartons übersät. Styroporbehälter, plattgetretene gewachste Pappen und leere Konservenbüchsen mit halbgeöffneten Deckeln und scharfen Kanten. Leere Weinflaschen und Babygläser. Alles war einfach in den Schnee hinausgeworfen und sich selbst überlassen worden. Er warf einen Blick auf das Haus. Die Vorhänge hingen reglos vor den Fenstern, aus dem Schornstein stieg kein Rauch. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Hier würde er eine Weile brauchen.
Schließlich war die Ladefläche so voll, dass kein einziger Beutel mehr drauf Platz hatte. Er klopfte die Ladung mit der Schaufel fest, damit der Müll nicht gleich wegflog, sobald er ein bisschen schneller fuhr. Dann zog er die Handschuhe aus und spritzte sich Desinfektionsmittel auf die Hände. Er rieb die Hände aneinander und wischte sich mit einem Unterarm über die Stirn.
Als er am Haus vorbeikam, stand Ann vor der Tür. Er bremste und ließ das Fenster herunter. «Ich bin nicht lange weg», rief er ihr über den Rasen zu. Er fragte sich, ob sie wohl antworten würde, und war froh, als sie rief:
«Pass gut auf dich auf.»
«Ja, das mache ich.» Er fuhr wieder an und beschleunigte. Ohne am Stoppschild zu halten, bog er in die nächste Straße ein. Es war Wochen her, dass er die unmittelbare Umgebung verlassen hatte. Ob sich seither viel verändert hatte?
Die Straßen waren überraschend schneefrei, nur auf den Gehwegen und in den Gärten standen noch dicke Bänke. Über einer Kreuzung hingen tote Ampellichter. Die Autos warteten diszipliniert, bis sie an der Reihe waren. Peter hielt neben einem Minivan in der gleichen Farbe wie der von Ann. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau, die eine Hand ans Gesicht hielt. Sie blickte stur geradeaus.
Im Radio kam auf allen Sendern nichts als Rauschen. Vor zwei Tagen waren sie alle ausgegangen wie alte Weihnachtslichter. Eine unschöne Überraschung. Auch die Mittelwellensender sagten nichts mehr, selbst die Frequenzen, auf denen die Regierung ihre Bekanntmachungen sendete, waren tot. Die hatte er eigentlich für absolut sicher gehalten. Es musste eine größere Panne gegeben haben oder vielleicht eine Serie von Pannen. Er stellte das Radio aus und lehnte sich zurück.
Da waren die Bücherei, die Tankstelle, das chinesische Restaurant. Überall war es dunkel und still. So wie sonst an Weihnachten auch, aber es wirkte irgendwie verlassener, ohne jeden Festschmuck in den leeren Fenstern. Schräg auf dem leeren Parkplatz stand ein Feuerwehrwagen. Herrenlos. Die Lichter waren aus. War ihm unterwegs einfach der Treibstoff ausgegangen?
Bis zur Müllkippe war es nicht weit, fünf Meilen vielleicht. Der Karte nach lag sie an einer langen gewundenen Landstraße. Peter war noch nie dort gewesen. Er kontrollierte seine Tankuhr. Der Zeiger zeigte auf halb, mehr als genug, um zur Kippe und wieder nach Hause zu gelangen. Er konnte sich noch einen Abstecher zur Uni erlauben. Je nachdem, wie lange er für den Müll brauchte, wollte er hinterher kurz dort vorbeischauen. In der Uni war der Strom bestimmt wieder da. Ob Lewis wohl seine Labortiere hatte versorgen können?
Peter fuhr unter der Autobahn durch und an einer riesigen Wohnsiedlung vorbei. Alles wirkte ruhig und verschlossen. Er nahm die Abbiegung nach links. Das Teerpflaster endete und ging in eine Schotterpiste über. Auf beiden Seiten standen Bäume, und in ihrem Schatten lag noch tiefer Schnee. Er holperte über hartgefrorene Eisrillen. Ein Schild zeigte nach rechts. Die Straße wurde ebener, und der Baumbestand dünnte sich aus. Zwischen zwei Pfosten hing eine schwere Kette quer über die Straße im Schnee. Das Wachhäuschen war unbesetzt. Aber vor kurzem war noch jemand hier gewesen. Im Schnee waren Reifenspuren. Sie hatten vorne vor der Böschung gedreht. Er fuhr schräg auf die Lichtung und hielt. Vor ihm erhob sich ein Berg aus Müll, ein riesengroßes buntes Durcheinander über dem flachen Gelände.
Weiße Styroporplatten. Schwarze Reifen, rote und blaue Lumpen, Stahlrohre, gelbe Plastikeimer. Tausende von knittrigen Tüten undefinierbaren Inhalts. Und über allem Schnee, der die Lücken füllte und die Kanten abrundete.
Irgendwas stimmte nicht, aber er hatte keine Ahnung, was es war.
Langsam fuhr er weiter bis an den Rand der Halde. Es war windstill, und die Luft war kalt. Der Gestank sickerte durch die geschlossenen Fenster zu ihm herein. Seine Augen tränten, und er versuchte, durch den Mund zu atmen. Er blieb sitzen und betrachtete den Berg vor seiner Windschutzscheibe.
Jetzt ging es ihm auf. Was ihn störte, war nicht etwas, das da war, sondern etwas, das fehlte. Wo waren die Möwen, die sonst immer über Müllhalden kreisten und schrien?
Peter stieg aus und knallte die Tür zu.
Er zog ein frisches Paar Handschuhe an, entriegelte die Hinterklappe und griff nach der ersten Tüte. Sie war während der Fahrt geplatzt. Er bemühte sich, möglichst viel vom Inhalt wieder hineinzuschieben, bevor er sie auf den Müllberg warf. Von oben lösten sich Abfälle aus der Masse und rollten ihm entgegen. Er trat ein Stück zurück, um ihnen auszuweichen, und schleuderte nun, eine Art Rhythmus findend, Tüte um Tüte auf den Berg. Zupacken, Schwung und Wurf.
Als er die Ladefläche beinahe leer hatte, holte er den Besen, den er für diesen Zweck mitgenommen hatte, und kletterte hinauf, um sie auszufegen. Die Plane warf Falten und war glitschig, aber er bekam sie halbwegs sauber. Er zog die Handschuhe aus und ließ sie mit dem Besen auf der Ladefläche liegen, dann schloss er die Ladeklappe.
Als er wieder am Steuer saß, ließ er sofort den Motor an. Er würde den Pick-up gründlich mit dem Schlauch abspritzen und desinfizieren müssen. Nassgeschwitzt war er. Um sich nicht zu erkälten, drehte er die Heizung voll auf. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigte kurz nach drei. Er legte den Gang ein und fuhr rückwärts aus dem Tor. Auf zum nächsten Ziel.
Für den Heimweg wählte er eine andere Strecke als vorhin. Am Supermarkt drosselte er sein Tempo. Da war jemand. Ein Mann war auf dem Weg zu dem einzigen Auto auf dem Parkplatz. Schnell lenkte Peter in die Einfahrt und fuhr in seine Richtung. Er ließ die Scheibe herunter. «Hallo.»
Der Mann wandte sich ihm zu. Er war Mitte oder Ende vierzig und trug eine dicke blaue Daunenjacke über einer roten Schürze. Ungeduldig, die Hand am Griff seiner Wagentür, sagte er: «Ja?»
«Haben Sie auf?»
«Wir hatten bis eben auf. Sie kommen gerade zu spät.» Der Mann setzte sich ans Steuer. «Wenn die nächste Lieferung eintrifft, machen wir wieder auf.»
«Wissen Sie, wann das sein wird?»
«Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sie müssen einfach immer wieder gucken.»
Peter sah sich den Laden an. Die Schaufenster waren mit Schalungsplatten verbrettert. Auf dem Pflaster glitzerten Scherben. Das Motorengeräusch verklang in der Ferne. Zögernd fuhr Peter an, er mochte eigentlich noch nicht weiter.
Am Ende der weiten Fläche war ein kleiner, von Fichten in Kübeln umrahmter Platz mit Betonbänken. An der Ecke standen ein Briefkasten und daneben ein niedriger Kasten aus Glas und Metall.
Peter bremste, stellte den Motor aus und klopfte auf seine Taschen. Natürlich leer. Musste er die Scheibe eindrücken? Nein, Moment mal. Der Aschenbecher. Da warf er immer sein Wechselgeld hinein. Er suchte ein paar Münzen zusammen und stieg aus.
Die Zeitung war dünn, nicht dicker als die Regionalanzeiger, die früher jede Woche auf ihre Einfahrt geworfen worden waren. Er stieg wieder ein und las das Datum. Sechs Tage alt. Ann würde sich trotzdem freuen. Sie war ausgehungert nach Nachrichten. Wie sie alle.
Die erste Seite war ausschließlich dem Virus gewidmet. H5N1. Der von Liederman entwickelte Impfstoff hatte keine Wirkung gezeigt, und der Versuch war abgebrochen worden. Die Patienten waren gestorben. Vermutlich hatte Liedermans Team zu schnell arbeiten müssen. Wie der Journalist offenbar auch. Andere Impfprogramme wurden mit keiner Zeile erwähnt.
Die Gesundheitsbehörden schätzten, dass dreißig Millionen Amerikaner umkommen würden. Zehn Prozent der Bevölkerung. Eine erschütternde Zahl, auch wenn sie weit niedriger war, als er gedacht hätte. H5N1 hatte eine Sterberate von fünfzig Prozent. Demnach müssten 150 Millionen Amerikaner umkommen. Entweder schönten die Behörden die Zahlen, oder das Virus war mutiert und hatte eine mildere Form entwickelt. Peter hoffte Letzteres, aber er befürchtete das Erstere.
Auf Seite zwei war ein Foto von einem Hochhaus, das an einer Seite offen klaffte. Stahlträger ragten wie abgeschnittene Adern aus dem Beton. Er las die Bildunterschrift. In Japan hatte es ein Erdbeben gegeben. Tausende von Menschen waren gestorben, weil internationale Hilfstrupps ausblieben. Verzweifeltes Warten auf Hilfe, die nie gekommen war. Er las den Artikel weiter unten. In Pakistan waren militante Islamisten in Islamabad einmarschiert und hatten die Regierung gestürzt. Das waren Themen, die normalerweise auf der ersten Seite gestanden hätten, jetzt waren sie auf die Seiten im Innern verbannt.
In einer schwarzgerahmten Liste wurden Dinge aufgezählt, die jeder im Haus haben sollte. Darunter fand sich ein Artikel über die richtige Pflege der Kranken. An der nächsten Überschrift blieb er hängen. Todesfälle nehmen überhand: System bricht zusammen. Im ganzen Land stellten Leichenhallen und Bestattungsunternehmer Aushilfskräfte ein, um die Toten einzusammeln. Die Gesundheitsämter kamen mit den Totenscheinen nicht nach. Tausende von Toten blieben möglicherweise unregistriert. Die nationale Datenbank war überfordert und wies für die ländlichen Gebiete immer mehr Lücken auf. Auf einer anderen Seite erkannte er unten das Foto eines vertrauten Bauwerks, des Eishockeystadions, in dem die Mädchen Schlittschuhlaufen gelernt hatten. Dort wurden die Toten von Columbus gelagert.
Sein Blick wanderte über den leeren Parkplatz. Sein Pick-up war das einzige Fahrzeug weit und breit.
Vielleicht lag es nicht daran, dass die Leute zu Hause blieben. Vielleicht waren sie alle tot.
Er stieg aus und stopfte die Zeitung in die nächste Mülltonne.