ZWEIUNDZWANZIG
Wo waren sie?
Ann stand auf der Terrasse und sah zu Libbys Haus hinüber. Von den schwelenden Resten des Hauses auf der anderen Straßenseite wehte noch immer Rauchgeruch herbei. Der Schnee um sie herum war mit Ruß gesprenkelt.
Vielleicht war Libby auf dem Weg zu ihren Eltern, die ein Lehmhaus in den Bergen von New Mexico hatten. Sie würde Jacob aus dem Kindersitz nehmen und ihn ihrer Mutter überreichen, glücklich, bei ihnen zu sein. «Frohe Weihnachten», würde Libby sagen, und Smith würde den Arm um ihre Schultern legen, bevor alle zusammen ins Haus gingen.
Ann stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie selbst bei ihren Eltern ankäme. Ihre Eltern würden fröhlich lachend in der Haustür stehen, und hinter ihnen würden die bunten Lichter im Tannenbaum glitzern. Maddie würde vor Freude auf und ab hüpfen, und Kate würde sich von ihnen umarmen lassen. Ihr Vater würde darauf bestehen, ihnen die Koffer zu tragen. Ann würde ihn schimpfend davon abhalten.
Hör auf damit, mahnte sie sich.
Ihre Eltern waren nicht zu Hause. Sie waren in Charlottesville. Vorausgesetzt, sie hatten die Reise erfolgreich hinter sich gebracht. Natürlich hatten sie das. Beth war klug. Sie war durchsetzungsfähig und wusste, was sie wollte. Sie ließ sich durch nichts und niemanden von ihrem Weg abbringen.
Die Ungewissheit war grausam. Es gab so vieles, das sie nicht wusste. Die Stille, das Schweigen, erdrückte sie. Es hallte in ihren Ohren. Es höhnte laut, während sie da draußen nach Anzeichen von Leben spähte. Wer wusste, was in den Krankenhäusern los war, den Laboren, in anderen Orten und Städten? Sie wusste ja nicht einmal, was nebenan los war.
Ihre Mutter, ihre Schwester, ihre beste Freundin, alle waren sie weg. Sie hatte niemanden mehr.
Sie trat in die Küche zurück und verschloss die Tür.
«Wo ist es?», brüllte Kate von oben.
«Erst wenn du ‹bitte› sagst!», schrie Maddie aus dem Wohnzimmer.
Die Mädchen zankten sich schon wieder. Ann spürte, wie es hinter ihren Augen zu pochen begann. Kopfschmerzen. Peter kam mit der Hausapotheke von oben. Die Angst schlug zu. «Wer ist krank?»
«Ich will nur mal sehen, was wir haben.» Er breitete die Sachen auf der Küchentheke aus. «Haben wir noch irgendwo Hustensaft?»
Machte er Inventur? Um so etwas hatte er sich doch sonst nie gekümmert. Das war immer ihre Sache gewesen. Aber wahrscheinlich hatte es jetzt, wo es keine Läden und keine Tankstellen mehr gab, auch für ihn an Bedeutung gewonnen. Sie wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. «Die Mädchen haben noch welchen in ihren Medizinschränken. Warum?»
Oben trampelte Kate durch die Zimmer.
Maddie rief: «Hast du in der Toilette geguckt?»
«Mom! Maddie hat Eule ins Klo geschmissen und abgezogen!»
Entsetzt marschierte Ann ins Wohnzimmer, wo Maddie mit einem Buch quer in einem Sessel lag.
«Stimmt das?», fragte sie erbost.
«Sie hat all meine Wachsstifte geklaut, Mom. Und sie alle durchgebrochen.»
Ann wandte die Augen zur Decke. «Das tut mir leid, Schatz.» Sie sah Maddie an. «Aber hast du Eule ins Klo geworfen?»
Maddie leckte sich die Lippen. Dann beugte sie sich vor und flüsterte: «Nein. Aber nicht Kate sagen, Mom.»
«Ann?», rief Peter aus der Küche. «Ich kann kein Fieberthermometer finden.»
«Schatz», sagte sie zu Maddie. «Es ist schlimm, dass sie deine Stifte zerbrochen hat, aber trotzdem kannst du ihr Eule nicht einfach wegnehmen.»
Maddie schob die Unterlippe vor und dachte nach, dann hob sie eine Schulter und ließ sie wieder sinken. «Egal.» Sie richtete sich auf.
Ann kehrte in die Küche zurück und sagte zu Peter: «Die Thermometer müssten da in dem Döschen sein.»
Er holte den Behälter heraus und machte den Deckel auf. «Hier ist es.»
«Das sollten zwei sein.»
Er schüttelte den Kopf. «Nee. Hier ist nur eins.»
Ann zog die Kiste zu sich heran und wühlte darin herum. Ein Thermometer war so klein, dass es wahrscheinlich irgendwo unbemerkt auf dem Boden lag. «Was hast du vor, Peter?»
«Wir müssen überlegen, ob wir uns zusammentun.»
Ann starrte ihn an.
«Mit wem?»
«Nach der Geschichte mit den Guarnieris –»
«Doch nicht etwa mit den Nachbarn!»
«Wir werden nur durchkommen, wenn wir gemeinsame Sache machen.» Er nahm eine Flasche Ibuprofen und schüttelte sie.
Sie dachte an die Kinder, die draußen herumgerannt waren und die Bazillen ihrer Familien nach draußen getragen hatten. Es brauchte nur einen einzigen Kranken, ein einziges Niesen oder Husten. Panik schnürte ihr die Luft ab. Das konnte Peter unmöglich ernst meinen. Ihr lagen tausend Einwände auf der Zunge, aber heraus brachte sie nur ein erschrockenes: «Nein.»
Er stellte die Flasche hin. «Was ist, wenn sich einer von uns verletzt? Du hast nur eine Mullbinde. Singh dürfte einen ganzen Schrank voll haben.»
«Er ist den ganzen Tag von Kranken umgeben. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass meine Mädchen auch nur in seine Nähe kommen.»
«Mit einem Feuer für drei Familien würden unsere Holzvorräte dreimal so lange halten. Haben wir noch antibakterielle Salbe?»
Peter war von Sues und Als Tod offenbar noch vollkommen durch den Wind. «Das hätten wir vielleicht früher in Betracht ziehen können. Aber doch nicht jetzt, wo die Grippe überall ist.»
«Drei Flaschen Franzbranntwein. Gut.» Er begann die ersten Sachen wieder einzupacken. «Wenn wir mit einem Auto zum Einkaufen fahren, können wir eine Menge Benzin sparen.»
Er hörte ihr gar nicht zu. Energisch klopfte sie auf die Arbeitsplatte. Überrascht blickte er auf.
«Peter», sagte sie. «Ich habe nein gesagt.»
«Du musst das Ganze in den Blick nehmen. Die Grippe ist nicht das Einzige, um das wir uns sorgen müssen.»
Mein Gott, er konnte so lehrerhaft sein. «Wir reden nicht über ein Experiment im Labor, Peter. Sondern über unser Leben. Es sind meine Töchter, und ich sage, sie werden nicht mit unseren Nachbarn in Berührung kommen. Es war gestern schlimm genug, wie wir alle einfach rausgelaufen sind. Ich habe vor Sorge, dass sich einer von uns angesteckt haben könnte, die halbe Nacht wachgelegen.»
Er sah sie mit einem langen Blick an. Dann nahm seine Miene den sturen Ausdruck an, den sie so gut kannte. Sie war zu direkt gewesen. Also noch einmal tief durchatmen. «Hör zu. Du hast es selbst gesagt, Peter, weißt du noch? Du hast den Mädchen verboten, mit ihren Freundinnen zu spielen. Das hier ist genau dasselbe.»
«Ann.» Seine Stimme war kalt. «Wir reden nicht über Freunde und spielen. Wir reden vom Überleben. Das ist etwas vollkommen anderes.»
«Meinst du, das weiß ich nicht?», schoss sie zurück.
Shazia kam die Treppe herunter. «Ist mit Kate alles in Ordnung?», fragte sie. «Ich habe aus ihrem Zimmer …» Shazia stockte, die Hand noch auf dem Geländer, blickte sie zwischen Ann und Peter hin und her.
«Kate soll mal runterkommen.» Peter stellte die Kiste auf ein Bord in der Speisekammer. «Brauchst du die Mädchen im Augenblick, Ann? Ich könnte mal einen Moment ihre Hilfe gebrauchen.»
«Gut. Nimm du sie.» Sie griff nach dem Besen. Die Böden waren schon wieder schmutzig. Der Dreck knirschte unter ihren Schuhsohlen. Und auf dem Boden neben dem Waschbecken war irgendetwas ausgelaufen.
Shazia füllte einen Eimer mit Bleichlösung und schleppte ihn ins Bad. Wie jeden Tag, zweimal täglich, morgens und abends. Zuerst kamen die Bäder dran, dann die Türgriffe und zum Schluss die Küche. Ein Löffel Bleiche ins Spülwasser, darin wurde das Geschirr bis mittags eingeweicht. Jeder bekam einen Satz Geschirr pro Tag. Sollte das Wasser abgestellt werden, würden sie zu Papier und Plastik übergehen.
Ann ging in die Garage und schüttelte die Schaufel über dem nächststehenden Abfalleimer aus. Vom Gestank tränten ihr die Augen. Sie hätte nicht geglaubt, dass der Müll bei solcher Kälte so stinken könnte. Als sie sich zum Gehen wenden wollte, stockte sie.
Oben auf ihren Lebensmitteln lag eine kleine weiße Tüte, die sie eigentlich an der Seite verstaut hatte. Die Tüte war aufgerissen, und der Inhalt war weg. Blaubeermuffins. Sie hatte sie für die Mädchen aufbewahrt. Weder Spielsachen noch Weihnachtskarten in ihren Strümpfen am Kamin. Keine neuen Schlafanzüge – bloß eine kleine Tüte Blaubeermuffins, und jetzt nicht einmal das.
Konnte Kate oder Maddie sie stibitzt haben? Nein, niemals hätten sie das Beweisstück so herumliegen lassen, dass sie es entdecken konnte.
«Was ist los?» Shazia stand auf der Schwelle.
«Ich glaube, wir haben einen Dieb.»
Shazia trat zu Ann. Sie hockte sich ans Regal und hob eine Tüte mit Krapfenkrümeln hoch, die an einer Ecke zerfetzt war. «Sieht aus, als wäre ein Tier drangegangen.»
«Ein Waschbär?»
«Vielleicht Ratten.»
Ratten? O Gott … in ihrem Haus? Diese ekelhaften dreckigen Viecher mit den zuckenden Nasen und langen nackten Schwänzen. Sie wühlten in allem herum, egal, was es war. Sie verbreiteten Zecken und Läuse und wer weiß was noch. Dann kam ihr ein Gedanke, der sie noch mehr erschreckte. «Fressen sie nicht auch Menschenfleisch?»
Shazia suchte noch immer die Garage ab. «Wenn man sie lässt.»
Ann fasste sich an den Hals. Womöglich würden sie ins Haus eindringen und sie im Schlaf anknabbern. «Wir werden aufpassen müssen, dass die Garagentüren immer zu sind.»
«Das dürfte kaum etwas nützen. Sie können sich durchnagen oder drunter hindurchkriechen.»
Ann starrte die Tür an. Sie war mindestens fünf Zentimeter dick. Wie war das möglich? «Sie können sich durch diese Tür nagen?»
Shazia untersuchte die Kiste, und als sie fertig war, den Fußboden. «Sogar durch Beton.»
«Machst du Witze?»
«Wir müssen ihr Nest finden.»
Ann sah sich um. Wie sah ein Rattennest aus?
Shazia hob einen Karton hoch. «Idealerweise würden sie sich draußen irgendwo in der Erde einen Bau graben. Aber es kann sein, dass die Kälte sie in die Häuser treibt.»
Augenblick mal, dann waren sie also vielleicht noch da? Vor Unbehagen krümmte sie unwillkürlich die Zehen. So, wie Shazia herumkramte, konnte jederzeit irgendwo eine herausspringen. Sie nahm eine Schaufel in die Hand. «Wonach suchen wir?»
«Wenn es nur eine ist, wird sie sich irgendwo ein kleines Lager gemacht haben, auf irgendeiner Fläche ein Stück über dem Fußboden. Wenn es mehrere sind, haben sie Sachen zerfetzt und sich eine Mulde gebaut.»
Allein bei dem Gedanken, dass Ratten sich auf diese Weise heimlich einrichteten, wurde ihr schlecht. Sie stieß mit der Schaufelspitze in die leeren Blumenkübel. Shazia hob einzeln die leeren Papiertüten an, die sie zum Feueranmachen gesammelt hatten.
«Was gefunden?» Ann sah vorsichtig unter den Gartenhandschuhen, der Pflanzkelle und der großen Tüte mit Pflanzerde nach.
«Bis jetzt nicht.»
Die Tür ging auf. Kate steckte den Kopf herein, Eule unter dem Arm. «Mom? Dad will wissen, ob er ein paar Umschläge haben kann.»
«Mach die Tür zu.» Ann stieß mit der Schaufel in eine dunkle Ecke. «Geh raus.»
«Ich sag ihm, du hast ja gesagt.» Die Tür ging zu.
Es gab so viele Verstecke. Die Regale an der Wand. Peters Tischlerbank und der Werkzeugschrank. Die Kiste mit den Sportsachen. «Ich finde nichts.»
«Ich auch nicht. Vielleicht haben sie ihr Nest woanders. Die Gefriertruhe dürfte sicher sein.»
«Was heißt das?»
«Durch Metall kommen sie nicht durch. Aber wenn wir ihnen die Lebensmittel wegnehmen, dann suchen sie einfach anderswo weiter.» Shazia fuhr mit dem Zeigefinger an der Lücke zwischen Tür und Stufe entlang. «Sie brauchen nicht viel Platz. Vielleicht bloß knapp zwei Zentimeter.»
Also waren nicht einmal die Sachen in der Küche sicher. Diese dreckigen kleinen Biester. Krankheitsträger. Sie würden irgendwie die Tür versperren müssen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie auch wirklich draußen blieben. Sie kniff die Augen zusammen. «Wie können wir sie töten?»
«Unter Umständen mit Gift.»
«Zum Beispiel?»
«Keine Ahnung. Vielleicht Arsen.»
«Aber wir haben keins.»
«Ich weiß auch nicht, ob das Aussicht auf Erfolg hätte. Ratten sind vorsichtig. Von allem, was neu ist, probieren sie nur eine winzige Menge, um zu sehen, ob es ihnen bekommt.» Shazia richtete sich auf. «Eine Katze wäre gut.»
«Maddie hat eine Katzenallergie.»
«Ach so.»
Shazia drehte sich um und ging. Wollte sie tatsächlich nach Gift suchen? Ann lief rasch hinterher. Die Mädchen saßen am Küchentisch, schoben gefaltete Zettel in Umschläge und leckten sie an, um sie zuzukleben.
«Von jetzt an geht ihr nicht mehr in die Garage», sagte Ann zu ihnen. Sie hörte die Schärfe in ihrer Stimme.
Kate hörte es auch. Sie hob den Kopf und sah Ann mit gekrauster Stirn an.
«Willst du sehen, was wir gemacht haben?», fragte Maddie.
«Gleich.»
Shazia ging nicht nach oben, sondern ins Esszimmer. «Peter?»
Natürlich, dachte Ann.
Er blickte von dem Heft auf, das vor ihm lag. «Was ist?»
«Wir haben Ratten», sagte Shazia.
Ann fügte hinzu: «Sie waren an unseren Lebensmitteln.»
Er legte den Stift hin und schob seinen Stuhl zurück. «Das war zu befürchten.»
Die beiden Frauen folgten ihm in die Garage.
«Habt ihr Kot gefunden?», fragte er.
«Nein», antwortete Shazia.
An der Kiste mit den Lebensmitteln blieben sie stehen. Peter fuhr mit den Fingerspitzen über den Beton und rieb sie aneinander. «Ist irgendwo ein Nest?»
«Nein», sagte Shazia. «Wir könnten Babypuder um die Kiste streuen und nach Spuren Ausschau halten.»
Ann schüttelte den Kopf. «Wir können die Sachen nicht hier draußen lassen, damit sie wieder rangehen.»
«Die können wir jetzt sowieso wegwerfen», sagte Shazia.
Die Gurken und Oliven, die Salatsauce, die letzten Scheiben Brot … «Alles?»
«Nirgendwo Fuß- oder Schwanzspuren, keine Fettspuren.» Peter runzelte die Stirn. «Ich glaube nicht, dass Ratten dran waren.»
Gott sei Dank.
«Ein anderes Tier, meinst du?»
Er nickte. «Trotzdem. Es ist bloß eine Frage der Zeit, bis die Ratten kommen.»
«Bis jetzt hat man noch nicht festgestellt, dass H5 von Ratten auf Menschen übertragen wird», sagte Shazia.
«Aber es ist bekannt, dass Ratten sich damit infizieren können», sagte Peter.
Ann starrte ihn an. «Willst du damit sagen, dass diese Ratten die Grippe haben könnten?»
«Ich glaube nicht, dass wir Ratten haben.»
«Aber wenn?», fragte sie ungeduldig. «Könnten wir uns bei ihnen anstecken?»
Peter hielt ihrem Blick stand. «Ja.»