EINS
Fünfzig. Fünfzig von hundert Menschen, die erkrankten, kamen um. Eine solche Sterblichkeitsrate war Peter noch nie untergekommen. Was machte diesen Subtypus des Virus nur so lebensbedrohlich?
Er griff nach seinem Kaffee. Draußen in der nebligen Kälte war das leise Tuckern eines Motorboots zu hören. Er ließ die Scheibe seines Pickups herunter und lauschte. Das Geräusch wurde lauter, offenbar hielt jemand auf das Ufer zu. So früh? Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen. Er stellte den Becher in den Getränkehalter und stieg aus.
Der Motor verschluckte sich, dann Stille. Wasser schwappte an die hölzernen Pfähle und strich über die Kiesel am Ufer. Seile rieben quietschend über einen Bootsrumpf. Der Nebel verzog sich über den See. Er betrachtete das mit Raureif bedeckte Gras zu seinen Füßen und ließ den Blick über den Steg, das dunkle Wasser, den trübgrauen Himmel schweifen. Jetzt konnte er auch das Motorboot erkennen und die zwei Gestalten, die darin arbeiteten.
Einer der Männer blickte auf, als Peter näher kam. Breites Gesicht, kleiner Mund, weiße Locken unter einer dunklen Mütze. Als der andere sich umdrehte, entpuppte er sich als jüngere Ausgabe des ersten, der gleiche Mund, der gleiche Silberblick, nur das Haar war nicht weiß, sondern braun. Vater und Sohn. Sie trugen warme braune Tarnjacken, Gummistiefel, dicke fingerlose Handschuhe. Peter war in den vergangenen Wochen so vielen argwöhnischen Männern begegnet, dass sie alle mehr oder weniger zu einer Masse verschmolzen waren, aber an diese beiden konnte er sich erinnern. Er hatte ihren Labrador untersucht, ein großes, schwerfälliges Tier mit braunem Fell und weißen Flecken an Schnauze und Schwanz und blühendem Ausschlag an der Bauchseite.
«Ach, Sie sind’s», sagte der Sohn. Er warf ein Seil über einen Pfahl und verknotete es. «Der Tierarzt.»
Eigentlich eher Wissenschaftler als Tierarzt, aber Peter korrigierte ihn nicht. «Wie war die Ausbeute?»
«Schlecht», erwiderte der Vater. «Ließ sich nichts aufscheuchen.»
Der Sohn zog kräftig am Seil. «Die paar, die wir erwischt haben, taugen nichts.»
Der Vater legte die Hand auf den Bootsrand und sah Peter an. «Ich nehme an, Sie wollen sie sich ansehen.»
Peter zögerte. Er war nicht von der Aufsichtsbehörde. Sein Forschungsstipendium deckte gerade so die Kosten für die Laborarbeiten und seine Doktoranden. Die Jäger gehörten nicht in seine Zuständigkeit.
Der Mann zuckte die Achseln. Er langte ins Boot und packte ein Federbüschel auf den Steg. Peter ging in die Hocke.
Vier kleine braunweiße Enten mit dem unverkennbaren blauen Fleck am Flügel. Der weiße Halbmond am Kopf wies drei von ihnen als Männchen aus. Normalerweise gab es Mitte November in Ohio keine Blauflügelenten mehr. Eigentlich waren sie um diese Zeit längst den Mississippi hinunter nach Südamerika oder über die Großen Seen zur Chesapeake Bay gezogen. Aber seltsam war nicht nur, dass sie hier waren, sondern auch ihr Aussehen. Wie stolz diese Vögel sonst die Brust vorwölbten! Diese wirkten, als hätte man ihnen die Luft abgelassen, die Flügel waren übergroß im Vergleich zu den eingesunkenen Rümpfen. Peter klappte seinen Werkzeugkoffer auf. «Wie sind sie geflogen?»
«Tief und langsam.» Der Vater warf ein zweites Seil über einen Pfahl und zog das Boot an den Steg. «Als wären sie betrunken. Leichte Beute.»
Normalerweise flogen sie in schnellem Zickzack. Peter streifte Handschuhe über, griff nach einem der Männchen und wog es in der Hand.
«Muss am Klimawandel liegen.» Der Sohn trat auf den Steg und hockte sich neben Peter.
«Oder an irgendeinem Gift.» Der Vater beobachtete Peter. «Was meinen Sie?»
«Schon möglich», sagte Peter.
Eine Futtervergiftung würde erklären, warum ihnen das Fliegen schwerfiel. Peter hob die Schwanzfedern an, um nach Anzeichen von Diarrhöe zu schauen, aber es gab keine. Als Nächstes tastete er vorsichtig den kleinen eingezogenen Kopf ab. Hier fand er Symptome. Ödeme am Kopf und, tatsächlich, kleine Blutungen am Augenlid. Er griff nach dem nächsten Vogel. Bei diesem waren die Schwellungen noch stärker. Mit wachsendem Unbehagen griff er nach der Stablampe in seinem Laborkoffer, sperrte der Ente den Schnabel auf, bog den Kopf nach hinten und leuchtete ihr in den Hals. Frische rote Flecken in blasser Umgebung. Beim dritten Männchen waren die Augen fast gänzlich zugeschwollen. Peter konnte sich nicht vorstellen, wie das Tier überhaupt noch hatte fliegen können. Das Weibchen hatte zwar weniger Schwellungen, doch ihre Augenlider waren stark gerötet. Diese Vögel waren sehr krank gewesen. Er fuhr mit dem behandschuhten Finger über den Flügel des Weibchens. Die braunweißen Federn waren hoffnungslos stumpf.
«Und?», fragte der Vater.
«Ein Virusinfekt oder ein Umweltgift», sagte Peter. «Ich werde ein paar Tests machen müssen.»
«Deswegen sind Sie doch hier, oder?», fragte der Sohn.
Sicher, aber er hatte natürlich gehofft, dass es nicht notwendig sein würde. Peter schraubte ein Proberöhrchen auf. Er befreite das sterile Wattestäbchen vom Papier.
«Und wenn sie vergiftet sind, können wir sie nicht essen», sagte der Vater. «Stimmt’s?»
«Dad, ich hab dir doch gesagt –»
«Ja, ich weiß schon, der Klimawandel.» Der Vater legte den Arm auf die Bordwand und wandte sich wieder an Peter. «Haben Sie hier draußen sonst noch was gefunden?»
«Nein.» Peter steckte das Wattestäbchen wieder ins Röhrchen und schraubte den Deckel zu. Soweit er wusste, hatte es keine anderen Funde gegeben. Aber es war noch früh, die Saison fing gerade erst an.
«Gift.» Der Vater drehte sich um und spuckte ins Wasser. «Wir hätten sie lassen sollen, wo wir sie gefunden haben.»
«Hätten Sie was dagegen, mir zu zeigen, wo das war?»
Vater und Sohn wechselten einen Blick.
Entenjäger waren eine Spezies für sich. Sie setzten sich bereitwillig eiskalten Temperaturen, Graupel, Schnee und scharfem Wind aus und machten ein großes Geheimnis um ihre besten Jagdgründe. Die beiden Männer fürchteten, er könnte ihnen das Revier streitig machen. Dazu bestand nicht der leiseste Anlass. Er war kein Jäger. Nicht mehr.
«Ich brauche ein paar Wasserproben.» Peter versuchte möglichst so zu klingen wie ein Professor, nicht wie ein Jäger.
Der Sohn blickte stirnrunzelnd zum Horizont. Die aufgehende Sonne vertrieb den Nebel und tauchte das Moor in gelbes Licht. Der Vater im Boot gab sich geschäftig.
«Wenn wir die Ursache nicht finden, könnte es die ganze Saison so weitergehen.» Peter deutete auf die Kadaver auf dem Steg.
Ein rascher Blick vom Vater.
«Haben Sie die Salbe ausprobiert, die ich Ihnen empfohlen hatte?», fragte Peter. «Für Gus?» Er hoffte, dass er den Namen des Labradors richtig behalten hatte.
Der Sohn sagte: «Ja, sein Ausschlag klingt ab.»
Peter nickte. «In einer Woche sollte er wieder ins Wasser können.»
Vater und Sohn sahen sich an. Der Vater rieb sich das Kinn und zuckte die Achseln. «Kommen Sie. Taugt sowieso nicht viel, der Fleck.»
Sie tuckerten durch das Schilf am Ufer. Peter saß in der Mitte, der Vater im Heck am Steuer. Der Sohn kniete am Bug. Sobald sie draußen auf dem offenen Wasser waren, beschleunigte der Alte, und das Boot sprang über die glatte silberne Fläche.
Kalter Wind fuhr Peter durch die Haare. Gischt peitschte ihm ins Gesicht. Zu beiden Seiten säumten Platanen und Ahorn das Ufer, die sich in einem doppelten goldroten Rand im Wasser spiegelten. Unten glitzerte die Sonne, oben heller Himmel und Wolkenschleier. Mit traurigem Geschrei flatterten Gänse aus ihrem Versteck auf. Schön war es hier draußen. Unkompliziert.
Der Sohn rief dem Vater etwas zu und zeigte mit ausgestrecktem Arm in die Ferne. Peter verstand die Antwort des Vaters nicht.
Er sah sich um und entdeckte einen dunklen Schatten. Ein zweites Boot in diesen Jagdgründen. Der Vater fuhr einen weiten Bogen, ohne das vorbeifahrende Boot aus den Augen zu lassen, dann lenkte er geradewegs nach Norden.
Nach einer Weile schaltete er herunter, das Boot drehte und schnitt durch die Wellen, die es selbst verursacht hatte. Ein weiterer Bogen, dann erreichten sie einen Unterstand. Aus Holzpfählen mit einem Dach aus Zweigen und Ästen war mitten im See mit großer Sorgfalt ein seltsames Baumhaus errichtet worden. Die Männer hatten die Zweige dicht verwoben und über dem Wasserspiegel gerade so viel Platz gelassen, dass ihr Boot hineingleiten konnte.
Langsam umkreisten sie den Unterstand.
«Sehen Sie?», sagte der Sohn. «Nichts.»
Peter entstöpselte ein Proberöhrchen und beugte sich seitwärts über den Bootsrand, um es ins eisige Wasser zu tauchen.
«Wie sieht’s aus?», fragte der Vater.
«Das werde ich erst im Labor wissen.» Doch das teebraune Wasser wirkte ziemlich sauber. Weder Schlacke noch Algen deuteten auf Bakterienbefall, weder Schaum noch ölige Blasen auf chemische Verunreinigung. Peter verstöpselte das Röhrchen wieder fest und sah sich um. Es war ein friedlicher, wunderschöner Morgen. Trotzdem wuchs seine Beklommenheit. «Wo haben sie die Enten gefunden?»
Der Sohn drehte sich um. «Da drüben.» Er zeigte auf eine Landspitze.
«Wir haben zwei Stunden gewartet», sagte der Vater. «Dann sind die vier aufgeflogen.»
«Sehen wir uns das mal an», sagte Peter.
«Ist doch alles derselbe See», sagte der Vater.
«Trotzdem könnten wir dort noch etwas finden.»
«Einen Kadaver zum Beispiel?»
Peter schüttelte den Kopf. «Blauflügelenten sind keine Aasfresser. Aber es könnte sich um eine lokale Verunreinigung handeln. Vielleicht wurde unerlaubt Abfall entsorgt.» Das wäre ein willkommener Anblick – eine großes verrostetes Fass im Wasser, welches das prekäre Gleichgewicht zwischen Vögeln und Umwelt zerstörte. Manchmal reichte schon eine alte Farbdose.
Der Vater drehte das Boot und schnitt durch das schlammige Wasser.
«Mit den Fischen scheint alles in Ordnung», sagte der Sohn. «Sonst würden sie oben treiben, oder?»
«Was der einen Tierart schadet, geht an der anderen unbemerkt vorbei», antwortete Peter. «Es gibt eine ganze Reihe von Krankheiten, an denen Vögel sterben, die aber Fischen überhaupt nichts anhaben können. Und umgekehrt genauso.»
«Wo war das noch?», fragte der Vater.
«Hier ungefähr», sagte der Sohn. «Vorsicht. Es wird flach.»
Der Motor tuckerte nur noch leise. Wieder eine enge Kurve. Der Motor verschluckte sich und ging aus. Die drei Männer starrten auf den Anblick, der sich ihnen bot.
Auf dem klaren Wasser, gesäumt von goldenem Schilf, schaukelte ein großer Blauflügelentenschwarm. Hunderte von braunweiß gefiederten Vögeln trieben dort reglos mit dem Bauch nach oben.