DREIZEHN
Es war also so weit.
Wer hätte gedacht, dass es Minnesota treffen würde? Peter hätte eher auf Los Angeles, New York oder Texas getippt, auf irgendeine der exponierteren Küstenregionen der USA. Doch anstatt an den Ufern einzufallen, hatte das Virus alle Grenzen ignoriert und Amerika mitten ins Herz getroffen.
Seit dem Sonderbericht am vergangenen Abend hatte Peter in einem fort die Internetseiten der Gesundheitsbehörde in Washington, der Weltgesundheitsorganisation WHO, der staatlichen Aufklärungskampagne PandemicFlu und das Datenbankverzeichnis PubMed studiert und alle paar Minuten neu geladen, um immer auf dem letzten Stand zu sein. Er hatte seit der Ausstrahlung der Nachricht nicht geschlafen, sondern war aufgeblieben, um seine Mails zu lesen, zu telefonieren und die Fernsehnachrichten zu verfolgen. Es war ein endloser Austausch von Informationen gewesen, aber etwas Neues war nicht dabei gewesen.
Die beiden Fälle waren vor über 24 Stunden bestätigt worden, und beide Patienten kämpften noch mit der Krankheit. Weitere Fälle waren nicht bekannt geworden. Das war überraschend und sagte möglicherweise etwas über die Natur dieses Virussubtypus aus. Vielleicht wurde er schwächer.
«Peter?»
Wenn er doch nur die Proben untersuchen könnte, die er beim zweiten Vogelsterben genommen hatte. Wer weiß? Vielleicht enthielten sie den entscheidenden Hinweis. Möglicherweise war das Virus mutiert und weniger gefährlich geworden. Sicher, das war nur eine vage Hoffnung, aber immerhin. Alles, was er brauchte, um sie auszuschließen oder zu bestätigen, war ein bisschen Zeit in seinem Labor, ein paar Tage lang täglich ein paar Stunden. Was daran gefährlich sein sollte, leuchtete ihm nicht ein.
«Peter?»
Wenn er es sich recht überlegte, standen die Chancen, dass er es schaffte, ins Gebäude zu kommen, fifty-fifty. Wenn Hank Dienst hatte, konnte er es vergessen. Aber der Mann musste doch auch mal schlafen. Und wenn Arnold Dienst hatte, war alles klar. Arnold guckte nicht einmal auf die Namensschilder. Er interessierte sich mehr für seine Sportillustrierte und versuchte Passanten in Gespräche über die nächsten Football-Meisterschaften zu verstricken.
Er spürte Shazias Blick, sie hatte sich zu ihm umgedreht. «’tschuldigung. Was hast du gesagt?»
Sie drehte ihren Laptop so, dass er den Bildschirm sehen konnte.
Schon im Flur roch er, dass in der Küche gekocht wurde.
Die Mädchen waren im Wohnzimmer. Maddie mit einem Malblock auf den Knien, Kate über ihren Laptop gebeugt und mit ihrem iPod verstöpselt.
Maddie sah ihn sofort. Sie kniete sich auf die Couch und blickte ihn über die Rückenlehne an. «Dad, kann Hannah zum Spielen kommen?»
«Geh du doch zu ihr», sagte Kate. «Am besten bleibst du gleich ganz da.»
Maddie antwortete ihr mit einer Grimasse und wandte sich wieder an ihren Vater. «Ach, Dad, bitte. Ich wette, Cindy und Sarah spielen auch zusammen.»
«Nein, Maddie», sagte er. «Es tut mir leid. Wir haben das besprochen.»
Sie ließ sich beleidigt in die Polster fallen.
Er legte ihr eine Hand auf den Kopf. «Wo ist Mom?»
«In der Garage.»
Dort stand Ann vor dem hohen Werkzeugschrank. Der Gefrierschrank, der danebenstand, musste bis oben hin mit den Einkäufen gefüllt sein, auch im Regal stapelten sich Konserven und andere Vorräte.
Er sah zu, wie sie verschiedene Werkzeuge in die Hand nahm und wieder weglegte. «Suchst du was?»
«Einen Schraubenzieher.»
Er lange zum Steckbrett an der Wand und reichte ihr einen herunter. «Was hast du vor?»
«Ich will das Trampolin abbauen.»
Er verspürte einen Stich. Das Trampolin hatte er den Mädchen geschenkt. «Das könnte ich doch machen.»
Sie nickte und legte den Schraubenzieher hin. «Gibt’s irgendwas Neues?» Seit den Nachrichten gestern Abend war sie still gewesen, hatte ihre Gedanken für sich behalten. Das war typisch Ann. Über die Dinge, die sie am meisten bewegten, sprach sie am allerwenigsten.
«Gerade kam ein Bericht über ein Spießentensterben in Tennessee.»
«Was ist mit Minnesota? Gibt es noch mehr Kranke?»
«Nicht, dass ich wüsste.»
«Das wäre ja gut.» Ann begann, die Fußbälle und Tennisschläger der Mädchen zusammenzusuchen und sie in der großen Kiste unter seiner alten Werkbank zu verstauen.
Sie schien auf ein Wunder zu hoffen. Aber das taten sie wohl alle. «In Tennessee hält man das Virus für hochpathogen.» Er fischte einen Tennisball hinter den Gartengeräten heraus und warf ihn in die Kiste.
«Dann könnte es sein, dass weniger Menschen betroffen werden, aber umso mehr Vögel?»
Ann dachte schnell. Das hatte er schon immer an ihr gemocht. Der Rasenmäher war eingerostet. Vermutlich musste er geschärft werden. «Sie werden von verschiedenen Subtypen befallen. Es wäre aufschlussreich zu erforschen, was bei den Vögeln los ist. Das könnte uns vielleicht helfen, dahinterzukommen, wie sich die menschliche Variante verhält. Ohio und Tennessee liegen beide auf der Mississippi-Flugroute. Möglicherweise hat das Vogelsterben dort die gleiche Ursache wie hier.»
«Welches Vogelsterben?»
Richtig. Sie wusste ja gar nichts davon. «Es hat zwei gegeben, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, ein Stück nördlich von hier.»
Gut eine Woche war das schon her. Kaum zu glauben. Er klappte die Trittleiter auf und hängte erst Kates, dann Maddies Fahrrad an die Haken an den Dachbalken.
«So wie damals bei der Futtervergiftung?» Das war vor ein paar Jahren das erste Vogelsterben in der Gegend gewesen.
«Schlimmer, wenn das überhaupt vorstellbar ist.» Er stieg von der Leiter und klopfte sich den Staub von den Händen. «Die ersten Proben habe ich analysiert, aber dann haben sie uns aus dem Labor rausgeschmissen, bevor ich mir die zweiten ansehen konnte. Die Proben könnten uns wirklich weiterhelfen. Das Beste wäre, wenn wir sie mit den Ergebnissen aus Tennessee vergleichen könnten.»
Sie stemmte die Hände in die Hüften und seufzte. «Du überlegst, ob du ins Labor fahren sollst, stimmt’s?»
Er hörte die Sehnsucht in ihrer Stimme. Die Garage aufzuräumen war für sie eine willkommene Unterbrechung gewesen, viel besser, als sich immer nur im Haus zu beschäftigen. Die Mädchen waren nicht die Einzigen, die rastlos wurden. «Sollen wir einen Spaziergang machen?»
Es war schön, in der Kälte auszuschreiten. Peter betrachtete den hellen, wolkenlosen Himmel. Nirgends eine Ente oder Gans zu sehen. Aber das Wetter würde nicht so bleiben. Er spürte eine Veränderung in der Luft. «Haben sie Schnee angesagt?»
«Für morgen.»
«Die Mädchen werden sich freuen.»
Ann schwieg. Er warf ihr im Gehen einen Blick zu. Sie war offensichtlich ganz woanders mit ihren Gedanken. «Das Essen riecht gut.»
«Ohne Truthahn wird es nicht so sein wie sonst.»
«Hähnchen wird fast genauso schmecken.»
«Wahrscheinlich. Aber wir werden keine Reste haben.»
Das war ein echter Verlust. Er liebte Anns Sandwiches mit Putenfleisch am Tag nach Thanksgiving beinahe genauso sehr wie das Festessen selbst. «Ich werde nochmal die Läden abfahren. Vielleicht macht ja doch noch einer auf.» Viel Hoffnung hatte er nicht. Nun, wo H5N1 da war, war mit nichts mehr zu rechnen.
«Ich verstehe das nicht. Beth sagt, bei ihnen hat Safeway auf.»
«Wie das Glück so spielt.»
«Schönes Glück.»
Sie waren vor dem Haus von Stan Fox angekommen, der mit Hummer-Geländewagen handelte. Peter musste sich eingestehen, dass es ihm nicht gefehlt hatte, samstags früh von seinem Rasenmäher geweckt zu werden. Gerade behängte der Mann die Sträucher in seinem Garten mit Lichterketten. Von irgendwoher wehte der Geruch von gegrilltem Fleisch heran.
«Shazia hat gestern eine Mail von ihrer Cousine bekommen», sagte er.
«Hat sie gesagt, warum ihre Eltern nicht zurückrufen?»
«Klingt, als wären sie unterwegs.»
Sie hörte zu und sagte nach einer Weile: «Ich mache mir Sorgen um Shazia. Sie isst nichts.»
«Natürlich isst sie was.»
«Aber nicht genug. Sie lässt das Frühstück ausfallen, und beim Mittagessen isst sie nur ein paar Happen. Vielleicht ist sie Vegetarierin oder so und ist zu höflich, um es zu sagen.»
Er wusste, dass Shazia keine Vegetarierin war. Sie hatten sich ungefähr eine Million Thunfisch-Sandwiches geteilt. «Ich werde mal mit ihr reden.»
Sie blieben stehen, um ein Auto vorbeizulassen, das in die Einfahrt vor ihnen bog. Sie hatten es noch nie gesehen. «Haben die Guarnieris ein neues Auto?»
«Nicht dass ich wüsste.»
Die Bremslichter leuchteten auf, und die Kofferraumklappe entriegelte. Der Motor verstummte, Türen wurden geöffnet. Al und Sue stiegen aus. Sie wirkten müde und zerknittert. Al hat zugenommen, dachte Peter, und Sue hat was mit ihrem Haar gemacht. Es stand ihr in Büscheln um den Kopf.
«Hallo, Al.» Es kam ihm komisch vor, nicht hinzugehen und seinem Nachbarn die Hand zu schütteln. «Hallo, Sue.»
«Peter», sagte Al. «Schön, dich zu sehen.»
Unbeholfen standen die vier sich gegenüber und sahen einander an, den breiten Rasen als unüberbrückbare Fläche zwischen sich.
«Wie war Las Vegas?», fragte Ann.
Al langte in den Kofferraum und hievte mehrere Koffer heraus. «Sue hat ein paar hundert Dollar gewonnen. Wir haben uns eine Show angesehen. Dann hat die WHO die Warnung ausgegeben, und auf einmal war alles aus. Der Flughafen war die Hölle. Überall Menschen und nirgends auch nur eine einzige Parklücke.»
«Dann seid ihr die ganze Strecke gefahren?», fragte Peter.
«In einem durch.» Sue versuchte, ihre Haare glattzustreichen. «Wir hatten Angst, irgendwo haltzumachen.»
«In Oklahoma sind wir liegengeblieben. Wir hatten kein Benzin mehr und konnten keine Tankstelle finden, die geöffnet hatte. Die Polizei musste uns retten.» Al knallte die Kofferraumklappe zu.
Sue sagte kopfschüttelnd: «Und wir sind gespannt, was die Mietwagenleute sagen, wenn sie merken, dass wir immer noch ihr Auto haben. Wir haben keine Ahnung, wie wir es ihnen wiederbringen sollen.»
Al legte den Arm um seine viel kleinere Frau und zog sie an sich. Er küsste sie auf den Kopf. «Keine Sorge, Susie Q, die kommen schon an ihr Geld.»
«Ist anzunehmen.»
Die Haustür flog auf, und Jodi kam herausgerannt. «Mom! Dad! Mom!»
Sie warf sich Sue in die Arme, die sie lachend umschlang. «Meine Güte. Wieso bist du im Pyjama? Und warum hast du keine Schuhe an?»
Al drohte seiner Tochter zum Spaß mit dem Finger. «Nun, junge Dame, jetzt, wo wir wieder da sind, werden andere Sitten aufgezogen. Bei uns wird nicht bis Mittag geschlafen. Und mit Eis zum Frühstück ist es auch vorbei.»
Jodi kicherte und zog den Arm ihres Vaters lang. «Was habt ihr mir mitgebracht?»
«Immer langsam», sagte Al. «Komm erst mal mit rein. Wir haben auch Geschenke für Grandma und Granddad.»
Peter sah den dreien besorgt nach. Er konnte nicht umhin. Al und Sue waren einmal quer durch das ganze Land gefahren, sie konnten sich das Virus auf so viele Weisen eingefangen haben.
«Jodi ist jetzt eine meiner Schülerinnen», erzählte Ann, während die Eltern mit ihrer Tochter im Haus verschwanden, wo die Großeltern warteten.
«Sie ist nicht gerade sehr beliebt. Ich habe Maddie gebeten, nett zu ihr zu sein, aber Jodi ist nicht einfach. Ich kann es Maddie nicht verdenken, dass sie lieber Abstand hält.»
«Was macht denn das Unterrichten? Ist es so schwer, wie du geglaubt hast?»
Überrascht sah sie ihn an. Er erwiderte ihren Blick. Natürlich wusste er noch, was für Bedenken sie gehabt hatte. Er hatte sich Sorgen gemacht, ihretwegen.
«Das läuft ganz gut», antwortete sie. «Es ist leichter, als selbst zu malen.»
Sie kamen an dem großen weißen Haus mit den vielen Säulen vorbei. «Wohnt hier noch der kleine Junge, der früher immer draußen auf dem Gehweg stand und nach Maddie rief?»
«Jetzt steckt er ihr Gedichte in den Briefkasten.»
«Klingt, als sollte ich mal ein Wörtchen mit ihm reden.»
«Bitte, da kommt er schon.»
Die Garagentür glitt auf. Ein Auto fuhr rückwärts heraus, der Vater am Steuer, seine Frau auf dem Beifahrersitz. Peter und Ann blieben vor der Einfahrt stehen. Der kleine Marlon Brando saß hinten. Er drückte das Gesicht an die Scheibe und sah sie an.
«Wo die wohl hinwollen», sagte Ann.
«Nach Disneyland.»
«Echt?» Ann sah ihn skeptisch an. «Woher weißt du das?»
Er zuckte die Achseln. «Warum nicht? Die Schlangen dürften im Augenblick so kurz sein wie nie.»
Ann zog eine Grimasse. «Ha-ha.»
Er freute sich, dass er ihr ein Lächeln abgerungen hatte. Sie gingen am Haus der Singhs vorbei. Doktor Singh sammelte auf der Veranda seine Zeitung ein und schüttelte die Tropfen vom Plastikumschlag ab.
«Hi, wie geht’s?», fragte Peter.
«Oh, hallo, Mr. Brooks. Schön, Sie zu sehen.» Singh nickte Ann zu. «Bin ziemlich beschäftigt, wie Sie sich denken können. Ich muss in die Notaufnahme zur Schicht.» Er befreite die Zeitung von der Plastikhülle. «Entschuldigen Sie mich also bitte.» Er ging ins Haus.
«Er ist doch gar nicht in der Notaufnahme, oder?», fragte Ann.
«Das stimmt. Aber vermutlich werden die Krankenhäuser von Leuten überrannt, die jeden Schnupfen gleich für die Grippe halten.»
Walter Finn marschierte ihnen entgegen, Barney an der Leine. Der Mann sah aus, als zöge er in eine Schlacht, mit einem schweren schwarzen Ding vor der unteren Gesichtshälfte und einer dicken gummiumrandeten Schutzbrille auf der Nase. Als er sie sah, zog er an der Leine und schwenkte mit abgewandtem Gesicht zur anderen Straßenseite, als könnte allein der Blickkontakt ihm gefährlich werden. Nur Barney grinste ihnen zu, während er über das Pflaster auf den gegenüberliegenden Gehweg gezerrt wurde.
Peter sah ihm nach. «Er sieht aus wie Dr. Demento.»
Wieder ein flüchtiges Lächeln von ihr. «Es heißt, dass Atemschutzmasken nichts nützen.»
«Da sind sich die Fachleute noch nicht einig. Die Standardfilter N95 filtern alles heraus, was größer ist als null Komma drei Mikrometer, und manche Influenzaviren sind bloß null Komma null acht groß. Das jetzige allerdings scheint null Komma fünf Mikrometer groß zu sein.»
Sie sah ihn an, dann zuckte sie die Achseln.
«Hast du heute schon mit deiner Familie gesprochen?», fragte Peter.
«Beth sagt, das Hotel ist vollkommen leer. Sie macht sich Sorgen, dass es bald Entlassungen gibt.»
«Sie wird schon durchkommen. Deine Schwester hat jeden Cent gespart, den sie verdient hat.»
«Aber sie hat so hart gearbeitet, um das zu erreichen, was sie jetzt hat.»
«Wie geht’s deinem Vater mit der Chemo?» Es war schrecklich für ihn gewesen, erst nach Monaten von der Krebserkrankung zu erfahren. Er hatte immer ein gutes Verhältnis zu Anns Vater gehabt.
«Die Behandlung dauert noch fünf Wochen. Erst dann werden wir wissen, ob sie was gebracht hat.»
«Er ist ein Kämpfer. Der lässt sich nicht unterkriegen.»
Ann schlurfte durch das raschelnde Laub. Ihre Hände waren tief in den Manteltaschen vergraben. Sie hatte rote Wangen, und ihr Haar leuchtete hell in der Sonne. Wie gern waren sie früher zusammen spazieren gegangen. Als sie sich kennenlernten, waren sie stundenlang über die schiefen Bürgersteige Georgetowns und die Sandwege am Potomac River gelaufen.
Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Fenstern und im Chrom eines parkenden Autos. In einer Auffahrt warfen zwei Teenager Bälle auf einen Basketballkorb. Der eine zielte und verfehlte den Korb. «Loser», höhnte der andere.
«Peter?»
«Mh-hm?»
«Hat Maddie mit dir je über William gesprochen?»
Wie kam das denn so plötzlich? Er suchte ihren Blick, aber sie sah zu den Basketballspielern. «Nein.»
«Du hast ihr nie erzählt, was passiert ist?»
«Nicht ausdrücklich, nein.» Es gab keinen ersichtlichen Grund, das Thema anzuschneiden. Was führte Ann im Schilde? «Wieso?»
Ann blieb stehen. Er auch.
«Sie hat Hannah von William erzählt. Ich hatte keine Ahnung, dass es sie beschäftigt, und ich weiß nicht, ob ich sie darauf ansprechen soll oder nicht.»
«Das würde ich nicht tun. Warte, bis sie es tut. Sonst glaubt sie noch, es sei eine große Sache.»
Sie sah ihn schräg von der Seite an. «Ist es doch auch.»
Aber nicht so, wie er es gemeint hatte. «Das wollte ich damit nicht sagen, Ann. Ich bin sicher, dass sie nicht darunter leidet. Es ist normal, wenn Kinder in ihrem Alter Fragen stellen.»
«Immer tust du meine Sorgen einfach ab.»
Stimmte das? «Ich will das gar nicht abtun, aber du machst dir so viele Sorgen, wenn es um deine Töchter geht. Es fällt mir schwer, jede deiner Sorgen genauso wichtig zu nehmen wie du. Und dich zieht es runter, Ann. Das weißt du. Ich will mich nicht auch davon runterziehen lassen.»
«Es zieht mich runter», wiederholte sie. Ihr Blick wanderte wieder zu den beiden Jungen. «Dieses Jahr fällt er mit Thanksgiving zusammen.»
Wovon redete sie? Er sah sie an.
Sie erwiderte seinen Blick. «Du hast es vergessen, stimmt’s?»
Ihr Gesicht war traurig.
Rasch überlegte er, aber ihm fiel nichts ein.
«Williams Geburtstag», sagte sie. «Er wäre heute zehn geworden.»
Das traf ihn wie ein Schlag. Zehn? Wie konnte das sein?
Sie wandte den Kopf wieder den Jungs zu. «Meinst du, er hätte Basketball gespielt?»
Nein. So durfte es nicht weitergehen, das ertrug er nicht. «Ann», sagte er, aber sie fuhr fort, als hörte sie ihn gar nicht.
«Vielleicht wäre er gar nicht der sportliche Typ. Vielleicht würde er lieber Toaster auseinanderbauen oder Raketen basteln. Deine Mutter hat erzählt, du hättest sie früher verrückt gemacht mit solchen Sachen. Ich frage mich oft, ob er nach dir gekommen wäre. Ich stelle mir vor, wie er aussieht, und sehe dich in ihm, euch beide in einem kleinen Menschen. Der Anblick würde mir das Herz zerreißen.» Sie schüttelte den Kopf. «Vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen.»
Er wollte nicht stehenbleiben, sich nicht in den Sog ihrer Gefühle hineinziehen lassen. Er wollte weitergehen, die kalte Herbstluft im Gesicht spüren, den Himmel nach einem weitentfernten Falken absuchen. Sein Atem ging schwer.
Sie nickte. «Es bleibt also mir überlassen.»
«Was heißt das?»
«Ich werde diejenige sein, die sich erinnert. Ich werde diejenige sein, die sein Gedächtnis bewahrt.»
«Ann, das geht so nicht. Das darfst du mir nicht antun. Du trauerst auf deine Weise. Lass mich auf meine Weise trauern.»
«Hast du je richtig getrauert, Peter? Oder hast du bloß alles von dir weggeschoben?»
Er ballte die Fäuste. «Hör zu. Ich habe meine Wohnung. Ich kann –»
Ann sah ihn an. Sie lachte, ein bitteres kurzes Lachen. «Genau.»
Damit ließ sie ihn auf dem Gehweg stehen.