ELF
Peter quetschte seine Jacke in die Garderobe zwischen die bunten Mäntel seiner Töchter, die fröhlich wirkten gegen das Hellbraun seiner Jacke und das gedeckte Rostbraun von Anns Mantel, den sie schon viele Jahre trug. Unten standen die Stiefel. Maddies altrosa mit Leopardenmuster, Anns braun und derb und daneben ein schickes Paar aus schwarzem Glattleder mit aufgesticktem weißem Muster. Vermutlich von Kate. Sie hatte Cowboystiefel schon immer gemocht. Ihr erstes Paar, in knalligem Kirschrot, hatte sie so geliebt, dass sie darauf bestanden hatte, immer nur diese Schuhe zu tragen, zum Einkaufen, zum Spielen bei anderen Kindern, sogar im Bett. Wenn sie eingeschlafen war, waren Ann oder er auf Zehenspitzen in ihr Zimmer geschlichen, um sie ihr vorsichtig auszuziehen. Morgens hatte sie dann gähnend in der Küchentür gestanden, noch im Nachthemd, aber schon mit den Stiefeln an den Füßen. Wie alt mochte sie gewesen sein? Zwei? Vielleicht drei. Sie hatte sehr geweint, als sie ihr zu klein geworden waren und Ann nicht noch einmal die gleichen in größer finden konnte.
In der Küche riss Ann eine Packung Nudeln auf und gab den Inhalt in kochendes Wasser. Als er hereinkam, sah sie sich zu ihm um und strich sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Heute gibt’s nur Fertigsoße.»
Peter dachte an ihre selbstgemachte Spaghettisoße mit kleingehackten Zwiebeln, Knoblauch und viel frischem Paprika. Er fragte sich, ob ihr neben der Arbeit keine Zeit mehr zum Kochen blieb oder ob sie und die Mädchen inzwischen einfach andere Essgewohnheiten hatten. Irgendwie war er davon ausgegangen, hier im Haus wäre die Zeit stehengeblieben, und die drei würden genauso weiterleben wie früher – nur ohne ihn. «Riecht gut.»
«Maddie, hol den Parmesan aus dem Kühlschrank», sagte Ann, «Kate, deck bitte den Tisch.» Sie warf Peter einen Blick über die Schulter zu. «Ich glaube, im Keller ist noch eine Flasche Wein, wenn du danach suchen magst.»
«Klar.» Er musste nicht lange suchen, sie war an ihrem alten Platz im Weinregal über dem kleinen Kühlschrank. Den Staub von den glatten Rundungen wischend, kam er wieder in die Küche. Maddie füllte den Käse in eine kleine Schale, während Kate die Tischsets auslegte. Shazia stand an der Spüle, ein Glas Wasser in der Hand.
Er zwinkerte ihr zu, und sie lächelte.
Ann rührte die Nudeln um. «Haben Sie viele Verwandte in Kairo, Shazia?»
«Meine ganze Familie lebt dort», antwortete Shazia. «Mein Bruder, meine Schwester, meine Eltern. Mein Vater stammt aus einer großen Familie. Er ist einer von zehn Geschwistern.»
«Zehn!», staunte Maddie. «Das ist ja fast eine ganze Fußballmannschaft.»
Shazia lächelte. «Ich habe jede Menge Cousins und Cousinen.»
«Das kann ich mir denken», sagte Ann. «Was ist Ihr Vater von Beruf?»
«Er ist Arzt.»
«Und Sie machen Ihren Doktor. Da ist er bestimmt stolz auf Sie.»
«Shazia hat in Oxford studiert.» Peter zog eine Schublade auf und suchte in dem Durcheinander aus Löffeln und Pfannenwendern nach einem Korkenzieher. «Und ihren Abschluss in Veterinärmedizin hat sie in Kairo gemacht.»
«Toll.» Ann begann ein Baguette aufzuschneiden. «Und jetzt wollen Sie in die Forschung?»
Peter wusste, was Ann dachte. Auch er hatte diesen Sprung gewagt. Er erinnerte sich genau, wie er Ann eines Abends erzählt hatte, dass er in die Forschung gehen würde. Er hatte sich über den Tisch gebeugt und mit beiden Händen ihre Hände umschlossen. Später hatte sie ihm gestanden, dass sie geglaubt hatte, er würde ihr einen Heiratsantrag machen. Und tatsächlich hatten sie wieder an einem Tisch gesessen, bei Kerzenlicht und Wein, als er ihr irgendwann später einen Antrag gemacht hatte. Sein Blick fiel auf die Flasche in seiner Hand, und er beeilte sich, sie aufzumachen.
«Ich hatte einen Artikel von Peter im Netz gelesen», sagte Shazia. «Nur durch mehr Forschung sei wirklich etwas für die Gesundheit von Tieren zu erreichen, schrieb er. Das hat mich beeindruckt.»
«Dein Telefon ist schön», sagte Kate. «Das ist eine coole Farbe.»
«Guck mal, wie klein die Tastatur ist», sagte Shazia und klappte es auf.
«Wow.»
«Wie gefällt es Ihnen in Columbus?», fragte Ann. «Das muss eine ziemliche Umstellung sein, nach Oxford und Kairo.»
Shazia lachte. «In mancher Hinsicht schon. Aber ich habe mich eigentlich schneller eingewöhnt als erwartet. Die Leute sind sehr freundlich, und es gibt hier viele ausländische Studenten.»
Peter hielt ihr die Weinflasche hin, aber Shazia schüttelte den Kopf. Sie stellte ihr Wasserglas ab. «Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gerne hinlegen. Ich habe furchtbare Kopfschmerzen.»
«Aber natürlich.» Ann wischte die Hände an einem Geschirrtuch ab. «Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer und gebe Ihnen Handtücher. Peter, kannst du den Mädchen auftun?»
Sie sagte es so beiläufig. Den Mädchen auftun. Das war eine der Redewendungen, die sie früher ständig benutzt hatten. Er war überrascht, wie wehmütig es ihn machte, sie wieder zu hören. Hier zu wohnen würde schwieriger sein, als er gedacht hatte. Er sah Ann nach, wie sie die Treppe hinaufging, hörte, wie sie oben in unbekümmertem Ton mit Shazia redete und ihr alles zeigte, damit sie sich wohlfühlte, solange sie hier bei ihnen blieb.
Nach dem Essen stand Peter an der Tür zu Maddies Zimmer. Unten in der Küche, wo Ann aufräumte, klapperte Geschirr. Aus dem Gästezimmer am Ende des Flurs hörte er das leise Murmeln von Shazias Stimme, vermutlich telefonierte sie mit jemandem.
Maddie lag schon im Bett. Er stemmte die Hände in die Hüften. «Hast du auch wirklich die Zähne geputzt, Maddie?»
Sie kicherte. «Ja, Dad.»
«Weil ich sonst gar nicht erst zu dir reinkomme.»
«Aber ich habe sie geputzt. Ich schwöre es.»
«Mit Zahnpasta?»
«Mit Zahnpasta.»
«Also gut.» Er bückte sich, um das Nachtlicht anzuknipsen, und löschte das Deckenlicht. Das Zimmer wurde in weiches Rot getaucht. Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
Von ihrem Kissen blickte Maddie ernst zu ihm auf. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, sodass er sie in Ruhe betrachten konnte, die runden Wangen und die Schlafaugen, die ihn so an Ann erinnerten. Sie hatte schon wieder einen Zahn verloren, einen Backenzahn unten. Was die Zahnfee inzwischen wohl brachte? Früher bei Kate waren es fünf Dollar. Einmal, da war Kate sieben, konnten sie im Haus nicht genug Scheine finden, um sie ihr unters Kissen zu legen. Da hatte er triumphierend einen Geschenkgutschein aus dem Baumarkt gezückt. Sie hatten viel gelacht, damals. Später umso weniger, als wäre nichts mehr davon übrig geblieben.
Maddie sagte: «Meine Lehrerin hat gesagt, die Vögel machen Menschen krank.»
«Mm-hm.»
Sie runzelte die Stirn. «Du hast dauernd mit Vögeln zu tun.»
«Ja, das stimmt. Aber ich trage einen Schutzanzug. Wusstest du das?»
«Wie Supermann?»
«Nein. Ich trage eine Maske und eine Brille, damit ich mich nicht anstecke, und Handschuhe, damit meine Hände geschützt sind. Und über meine Kleidung ziehe ich einen weißen Anzug.»
«Und die Sachen hast du immer an?»
«Ja, klar. Immer wenn ich im Freien arbeite. Ich habe die Sachen immer im Pick-up.»
«Brauchen wir auch Schutzanzüge? Kate, Mom und ich?»
«Nein, ich denke nicht.» Er strich ihr die Haare aus der Stirn. «Müde bin ich, geh zur Ruh –»
«Schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.» Maddie gähnte und sah ihn lächelnd an.
Er küsste sie auf die Wange, sie war weich und warm. Das hatte ihm gefehlt. «Gute Nacht, meine kleine Maddie.»
Er war schon an der Tür, als sie noch einmal nach ihm rief.
«Dad?»
«Mm-hm.»
«Mom und du, wollt ihr euch immer noch scheiden lassen?»
Arme Maddie. Das alles musste schrecklich verwirrend für sie sein. «Ja, mein Schatz», sagte er sanft. «Das ist nun mal so.»
Kate saß in ihrem stockdunklen Zimmer in einem Berg aus Decken am Kopfende ihres Betts und wartete schon auf ihn. «Hey», sagte sie, als er sich auf die Kante sinken ließ.
Er beugte sich vor und küsste sie auf den Kopf. «Hey. Räumst du hier eigentlich jemals auf?»
«Nur wenn Mom droht, dass sie mir sonst mein Handy wegnimmt.»
Sie hatte sich wieder parfümiert, der süße Duft mischte sich mit dem Fruchtaroma ihres Haarwaschmittels und der Minze ihrer Zahnpasta. Er erinnerte sich noch gut an die Zeiten, als sich Kate sehr lange bitten ließ, bis sie endlich badete. Als sie sechs war, mussten sie danebenstehen, damit sie überhaupt die Zähne putzte.
«Wie lange bleibst du?», fragte sie.
«Ein paar Tage vielleicht. Mal sehen.»
Sie biss sich auf die Unterlippe. «Die Situation ist wirklich ernst, oder?»
«Ja.»
«Die Leute sterben daran, stimmt’s?»
«Ja.»
«Kennst du jemanden, der gestorben ist?»
Er dachte einen Augenblick nach und schüttelte dann den Kopf. «Nicht, dass ich wüsste, Schatz. Auf jeden Fall niemanden von hier.»
«Werden wir sterben?»
Er nahm ihre abgewetzte Stoffeule in die Hand, deren Schnabel nur noch an wenigen Fäden hing. Die hatte er seit Jahren nicht gesehen. Kate beugte sich vor, und er legte sie ihr hinter den Kopf. Wie seine Tochter ohne Kissen schlafen konnte, war ihm ein Rätsel, aber sie beschwerte sich nie über Nackenschmerzen. «Ich weiß, dass es so aussieht, als wäre das alles ganz plötzlich gekommen. Aber die Wissenschaftler und Behörden setzen sich schon lange mit dem Problem auseinander. Wir wussten, dass es so kommen würde. Wir wussten bloß nicht, wann. Wir haben jede Menge Pläne in der Tasche und können Vorkehrungen treffen, um uns zu schützen.»
«Zum Beispiel, indem die Schulen zugemacht werden?»
«Genau. Das ist eine sehr kluge Vorsichtsmaßnahme. Wenn wir es schaffen, dass die Leute sich nicht gegenseitig anstecken, haben die Wissenschaftler Zeit, einen Impfstoff zu entwickeln.»
«Dann kriegt man eine Spritze.» Sie zog eine Grimasse.
Wenn es doch bloß so einfach wäre.
«Freu dich», sagte er und erhob sich. «Du hast morgen frei, du kannst nach Herzenslust chatten.»
«Chatten ist out, Dad.»
«Ach so?»
«Wir simsen jetzt.»
«Aha.» Es fehlte ihm furchtbar, nicht mehr auf dem Laufenden zu sein. Dass Maddie einen Zahn verloren hatte, Kate nicht mehr ihren alten Rucksack, sondern eine neue Stofftasche trug, dass sie ihre Milch nicht mehr mit Schokoladensirup tranken. Von alledem bekam er nichts mit. Die nächsten Tage würden ein unerwartetes Geschenk für ihn sein, eine Gelegenheit, den Kontakt zu seinen Kindern aufzufrischen. «Na, dann kannst du eben nach Herzenslust simsen.»
«Na klar. Dann sag das mal Mom.» Sie gähnte und drehte sich auf die Seite. «Gute Nacht, Dad.»
Das war noch so etwas. Sie sagte nicht mehr Daddy, sondern Dad. Vielleicht fehlte ihm das am meisten.
Ann war schon auf, als Peter am nächsten Morgen früh in die Küche kam. Sie stand an der Kaffeemaschine, die Hand schon am Henkel der Kanne, und wartete, dass es zu tropfen aufhörte. Sie trug ihren alten blauen Bademantel mit den ausgebeulten Taschen, und ihre Haare waren zerzaust. Sie war frühmorgens eigentlich nicht ansprechbar, deshalb war er überrascht, als sie fragte: «Kaffee?»
«Ja, bitte.» Ihren Kaffee hatte er vermisst. Wenn er welchen kochte, war er entweder bitter oder viel zu dünn und wässrig.
«Gut geschlafen?»
«Prima.»
«Wirklich?» Sie gab ihm einen Becher, den Kate vor Jahren auf einer Geburtstagsfeier angemalt hatte. Das orange Gesicht war vom vielen Spülen schon ganz verblichen. «Beth behauptet, die Couch sei ein mittelalterliches Folterinstrument.»
Anns Schwester wusste, wovon sie redete. Jedes Mal, wenn er sich umgedreht hatte, hatte sich eine der Sprungfedern schmerzhaft in seine Rippen gebohrt. «Im Vergleich zu der Couch, die bei mir steht, ist sie himmlisch. Übrigens werde ich jetzt gleich mal rüberfahren und ein paar Sachen holen.»
Sie deutete mit einem Nicken zum Fernseher, der leise im Wohnzimmer lief. «Sie berichten gerade von ersten Fällen in Mexiko.»
Jetzt schon? Er hob den Becher, weil er nicht wollte, dass sie sein Gesicht sah. Mexiko war nicht weit weg. Es gab jede Menge Hin und Her zwischen Mexiko und den USA, von Menschen und von Tieren. Dann stimmten also die letzten Prognosen. Den Flugverkehr einzuschränken hatte nur geringe Auswirkungen darauf, wie schnell sich das Virus ausbreitete.
Sie schenkte sich auch einen Kaffee ein und stellte die Kanne zurück auf die Wärmplatte. «Aber aus Ägypten gibt es noch keine Meldungen. Hat Shazia ihre Eltern erreicht?»
«Nicht, dass ich wüsste.» Er trank einen Schluck Kaffee. Sie würde natürlich keine Sahne dahaben, aber Milch würde es auch tun.
«Sie müssen vor Sorge vergehen. Na ja, vielleicht reden sie heute miteinander.» Sie nippte an ihrem Kaffee. «Wären Hamburger okay zum Abendessen?»
«Klar.» Das hatte er ganz vergessen, ihre Art, lange im voraus zu entscheiden, was es zu essen geben sollte. Ihm war es gleich, was sie aßen. Schon immer, genau wie Ann immer das Bedürfnis gehabt hatte, sich ihren Tag genau einzuteilen. Es gab Zeitfenster für Besorgungen, fürs Wäschewaschen, für die Mahlzeiten. Es war ihre Art gewesen, mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter fertig zu werden. Er fragte sich, ob sich das nicht geändert hatte, jetzt, wo sie wieder voll arbeitete.
Er nahm die Milch aus dem Kühlschrank. «Hast du noch Bargeld?»
«Die Geldautomaten waren leergeräumt, als wir zur Bank kamen.»
«Jetzt müssten sie wieder funktionieren. Wasser bringe ich auch gleich mit.»
«Es war furchtbar gestern Abend.»
«Klingt so.» Wenigstens hatte sie nur eine Prellung am Schienbein. Es hätte auch schlimmer kommen können.
«Die Schießerei bei Kroger gestern –» Sie schüttelte den Kopf. «In den Nachrichten haben sie gesagt, es ging um einen Parkplatz.»
Er konnte es genauso wenig glauben wie sie. «Na ja, mittlerweile wird sich die Lage beruhigt haben.» Jetzt war er hier. Wenn jemand einkaufen ging, dann er. «Ann?»
Sie sah ihn an.
«Du weißt, dass wir den Mädchen nicht erlauben dürfen, mit ihren Freunden zu spielen.»
«Die ganzen drei Monate, meinst du?»
«Das müssen wir von Tag zu Tag neu entscheiden.»
«Das wird hart für die beiden. Besonders für Kate.»
«Besser als die Alternative.»
Sie sah ihn über den Rand ihres Bechers an und nickte.
Bis in Flughafennähe waren die Straßen ziemlich leer. Dann füllten sie sich. Autos wechselten von Spur zu Spur, Bremslichter leuchteten auf, vermutlich Studenten, die es eilig hatten, nach Hause zu kommen. Über den Himmel donnerte ein Flugzeug, dessen Lichter in der Dunkelheit rot und weiß blinkten. Peter verließ die Hauptstraße und setzte seine Fahrt durch Nebenstraßen fort. Hier schliefen noch fast alle, nur wenige Autos waren unterwegs. Gähnende Menschen standen an Bushaltestellen oder warteten an Hauswände gelehnt auf ihre Fahrgemeinschaft.
Vor ihm erhob sich der Tower West gegen den lavendelfarbenen Himmel, das Schwarz nur vom Lichtstreifen um das Erdgeschoss herum unterbrochen, wo das verglaste Foyer hellerleuchtet war. Der Parkplatz war überfüllt, sogar auf den Rasenflächen zwischen den Gebäuden parkten Autos. Ein Mann in Uniform trat aus dem Eingang. Der Wachmann von gestern Abend. Peter erkannte ihn an der müden Schulterhaltung. Er bremste und ließ sein Fenster herunter.
«Wir haben hier keinen Platz mehr», gab der Mann Peter Auskunft. «Wir mussten einen ganzen Haufen Studenten wegschicken. Es wurden immer mehr.» Er schüttelte den Kopf. «Erst plant und plant man für den Ernstfall. Und wenn er dann eintritt, merkt man, wie nutzlos die ganzen Pläne waren.»
Zehn Straßen weiter, in einem großen, massiven Backsteinhaus, war seine Wohnung. Die Türen am Eingang standen weit offen. Eigentlich achtete der Hauswart pedantisch darauf, dass sie geschlossen waren. Peter trat ein und lauschte. Links lief leise ein Fernseher. Fahrräder lehnten an der Wand. Alles schien normal. Achselzuckend schloss er die Tür, ging die Treppe in den ersten Stock hinauf und rechts durch den Flur zu seiner Wohnung. Auch hier wirkte alles unverändert. Das schmale Bett in der Ecke mit den straffgezogenen Decken. Der ramponierte Tisch, der ihm als Nachtschrank und als Küchentisch diente, mit der Bogenleuchte, seiner Kaffeekanne und dem Wecker. Der Klappstuhl in der gegenüberliegenden Ecke neben dem kleinen Bücherbord. Die gerahmten Fotos von seinen Töchtern, Maddies Tuschebild von einer Ente, das er mit Klebestreifen an die Wand gehängt hatte. Er hatte die Vorhänge halbgeöffnet gelassen. Auf den verschlissenen Teppich fiel blasse Morgensonne. Er packte seinen Koffer und stopfte weitere Sachen in einen Kleidersack. Dann zog er die Stecker des Fernsehers und des DVD-Players aus der Steckdose und schloss die Vorhänge. Er sah sich noch einmal in dem kleinen Zimmer um, seinem Zuhause seit über einem Jahr.
Im Treppenhaus kamen ihm ein Mann und eine Frau entgegen. Er erkannte das Paar, das nebenan wohnte, die beiden studierten noch am College. Peter hatte sich angewöhnt, am Wochenende bis in die Nacht zu arbeiten, um ihre unvermeidlichen Partys zu meiden, und hatte versucht wegzuhören, wenn sie morgens früh miteinander schliefen. Sie drückten sich an die Wand, um ihn mit seinem Gepäck vorbeizulassen.
«Machen Sie’s gut», sagte die Frau.
Es war das erste Mal, dass sie mit ihm redete. Und es klang nach einem Abschied für immer. Peter nickte. «Sie auch.»
Sie ging weiter die Treppe hinauf, innig umschlungen von ihrem Freund.
In der kurzen Zeit, die er in der Wohnung verbracht hatte, waren die Straßen lebendig geworden. Im kleinen Café an der Ecke brummte das Geschäft. Die Terrasse war voll, die Leute standen bis auf den Bürgersteig hinaus an und warteten auf ihren Kaffee. Fahrräder sausten vorbei. Leute gingen Hand in Hand spazieren. In der Innenstadt herrschte fast so etwas wie Jahrmarktsatmosphäre, überall waren Menschen, die sich darüber freuten, so unverhofft einen freien Tag genießen zu können.
Peter schüttelte missbilligend den Kopf und verstaute seine Sachen auf der Ladefläche seines Pickups.
Er fuhr an den Spielplätzen vorbei, die vor einer Stunde noch leer gewesen waren. Überall spielende, vergnügt schreiende Kinder. Ihre Eltern standen in Gruppen zusammen, schaukelten Kinderkarren und beratschlagten vermutlich, wie sie diesen und all die folgenden schulfreien Tage meistern sollten. Wahrscheinlich waren die Kinos rammelvoll. Genauso wie die Einkaufspassagen, die Schnellrestaurants, die Bücherei und das Sportzentrum – überall, wo Kinder willkommen waren. Was ein großer Fehler war.
Die Lage war viel zu ernst. Keiner von ihnen sollte hier herumstehen und lachen und plaudern. Er überlegte, ob er anhalten und sein Fenster herunterkurbeln sollte, um ihnen zu sagen, dass sie nach Hause gehen sollten. Aber natürlich ließ er das bleiben. Sie hätten ihm gar nicht zugehört. Ihn für einen Verrückten gehalten.
«Hör dir das an.» Shazia saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden, den Laptop auf den Knien. Ihr Haar fiel ihr offen über die Schultern. Sie spielte mit der Spange und knipste sie immer wieder auf und zu. «Die Biotechnologieabteilung von RNL arbeitet an einem Impfstoff.»
«Wer tut das nicht?» Peter wandte sich wieder seinem eigenen Bildschirm zu und tippte ein paar Befehle ein. Er musste seine Vorlesungen für die Woche hochladen und dann die Prüfung auf den Weg bringen. Es war alles schon Magisterstoff, aber das konnte er an diesem Punkt von seinen Studenten auch erwarten.
«Aber es sieht aus, als könnten sie an was dran sein. Sie befinden sich bereits in der zweiten Phase der Klinikstudie.»
Peter drehte sich zu ihr um. «Wirklich?»
Sie nickte. «Ein Dr. Liederman ist der Leiter.»
«Albert Liederman?»
«Kennst du ihn?»
«Er ist mein Doktorvater. Ich habe seit Monaten nicht mehr mit ihm geredet.» Er hatte sich um den alten Herrn schon Sorgen gemacht. Im Lauf des letzten Jahres hatte er aufgehört, an Kongressen teilzunehmen und Anrufe zu erwidern. Peter hatte befürchtet, dass es ihm nicht gutging, aber offenbar war er einfach anderweitig ausgelastet gewesen. «Ich liege ihm seit Jahren in den Ohren, dass er seine Erfahrungen mit der Influenza-Welle von 1978 aufschreiben soll. Da waren wir nur so weit von einer ausgewachsenen Pandemie entfernt.» Er hielt Daumen und Zeigefinger hoch und kniff sie zusammen.
«1978?»
Sie hatte vermutlich noch nie davon gehört. Wie die meisten anderen auch.
«Der Mann kann einem kalte Schauer über den Rücken jagen. Du müsstest ihn mal davon erzählen hören.»
Und dabei wollte Liederman es auch belassen. Wie oft hatte er gebrummt: «Ich kann kein Buch schreiben, Brooks. Das müssen Sie machen.»
Peter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Er hat mir vor einiger Zeit seine Notizen überlassen. Damit ich versuche, ein Buch daraus zusammenzustellen. Vielleicht könntest du mir helfen, das Material zu ordnen.»
«Sehr gerne.»
Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr. Ann stand in der Tür. «Willst du den Grill anwerfen?»
Shazia stellte ihren Laptop auf den Boden. «Ich kann helfen.»
«Bleib sitzen.» Peter winkte lässig ab. «Heute Abend koche ich.»
Shazia sah ihn an. «Wie nett.»
Er wusste, was sie dachte. Was konnte sie kulinarisch schon von einem Mann erwarten, der seine Ernährung mit Sandwiches aus dem Automaten und warmen Mahlzeiten vom Imbiss bestritt?
Peter ging neben Ann durch den Flur. «Kann sein, dass ich eine Unterkunft für Shazia gefunden habe. Die Uni wird Baldwin Hall aufmachen. Ich habe sie überredet, sie aufzunehmen, obwohl sie nicht auf der offiziellen Liste steht.»
«Schade, dass sie nicht zusammen mit ihrer Mitbewohnerin untergebracht wird.»
«Es wird dort reichlich ausländische Studenten geben. Sie wird bestimmt ein paar von ihnen kennen.»
Maddie lag auf dem Bauch vor dem Fernseher. Er hatte keine Ahnung, was zurzeit ihre Lieblingssendungen waren und was sie da gerade sah. Eine Gruppe Mädchen im Grundschulalter lieferte sich Wortgefechte mit einem Mann in einer Hotellivree. Peter blieb an der Couch stehen, auf der Kate mit ihrem Laptop saß. Es war sein alter, aber für sie zum Spielen reichte er immer noch. «Mit wem redest du?»
Sie antwortete, ohne aufzublicken. «Michele. Claire. John. Andrea. Scooter.»
Er sah Ann an. «John? Scooter?» Die Namen hatte er noch nie gehört. Was war Scooter nur für ein Name? Er war sich nicht einmal sicher, welches Geschlecht sich dahinter verbarg.
«John ist Micheles Freund.» Ann reichte ihm eine Platte mit rohen Hamburgern. «Und Scooter ist ein Mitschüler von Kate. Sie haben einen Kurs zusammen.»
Peter betrachtete seine große Tochter, die mit geröteten Wangen auf ihren Computerbildschirm starrte. Dann wanderte sein Blick zu Ann. Ihre Stirn war leicht gerunzelt. Sie schüttelte den Kopf. Nichts sagen, funkte sie ihm zu, und er nickte.
Sie war doch noch so jung. Er schob die Fliegengittertür auf und trat auf die Terrasse hinaus. Viel zu jung. Gerade war sie dreizehn geworden. Durch das Fenster beobachtete er, wie Kate im Schneidersitz auf der Couch saß, fohlenhaft, das lange braune Haar nach vorn fallend. Mit anmutigen, geschmeidigen Händen tippte sie etwas ein, lehnte sich zurück und lachte. Der Anblick ging ihm unmittelbar zu Herzen.
Er machte den Grill an, und zu seiner Freude leuchtete sofort die Flamme auf. Er hatte gar nicht nachgesehen, ob noch genug Propan in der Flasche war. Er legte die Hamburger auf den Rost und stellte die leere Platte ab.
Der Abend war kühl, er konnte seinen Atem sehen. Über den dunklen Gehwegen leuchteten die Straßenlaternen, den Sonnenuntergang hatte er verpasst.
Ein dunkler Geländewagen glitt vorüber. Der Fahrer hob die Hand zum Gruß. Es war der Arzt, der neben den Guarnieris wohnte. Wie war noch sein Name? Singh. Ja, so hieß er. Er war ein paar Monate vor ihrer Trennung in die Straße gezogen. Sie hatten einander immer höflich zugenickt, wenn sie den Rasen mähten. Der Wagen fuhr langsamer, und im Scheinwerferlicht sah Peter einen Mann und hinter ihm eine kleine, struppige Gestalt.
Walter Finn. Sein Hund war nett und freundlich, was man von seinem Herrchen ganz und gar nicht behaupten konnte. Ständig sammelte Finn irgendwelche Unterschriften: gegen das Unkraut, das in Nachbars Garten wuchs, gegen die Fahrräder, die auf dem Gehweg herumlagen, gegen den Schnee, der nicht gefegt wurde, die kleinen Ärgernisse eben, die sich aus dem Zusammenleben in einer Vorortsiedlung ergaben und die von den meisten Leuten einfach ignoriert wurden, nur nicht von Finn, der unermüdlich auf Gelegenheiten lauerte, sich zu beschweren.
Peter wendete die Hamburger mit der Gabel.
Das Fleisch auf dem Grill lockte den Hund, der an seiner Leine zerrte. Finn hob den Kopf. Er musste Peter im hellen Licht, das aus dem Küchenfester kam, gesehen haben, und Peter machte sich schon auf die neueste Klage über den Niedergang ihres Viertels gefasst, doch Finn straffte nur die Leine und zog den Hund mit sich fort.
«Bei Fuß, Barney», befahl er. Sie überquerten die Straße, und der Hund erschnupperte am Baum an der Ecke, wer sonst noch vorbeigekommen war.
Der Kelch war an Peter vorübergegangen. Finn würde wissen, dass er in diesem Haus nicht länger der Ansprechpartner war. Als er sich wieder dem Grill zuwandte, sah er, dass sich Smith nebenan ebenfalls am Grill zu schaffen machte.
«Mann», sagte Smith. «Schön, dich zu sehen.»
«Ist ’ne Weile her.»
«Verrückte Zeiten, was? Libby hat mich heute losgeschickt, um Wasser zu kaufen, aber ich habe bloß noch so Designersprudel bekommen.»
«Ich hatte bei an einer Tankstelle Glück. Da wurde gerade eine Lieferung entladen, als ich hielt. Wir haben reichlich, ihr könnt was abhaben.»
«Ich werde drauf zurückkommen. Libby war ganz verzweifelt.»
Sie unterhielten sich weiter von Terrasse zu Terrasse. Würde die National Football League die Spiele nachholen, die jetzt ausfielen? Wie weit würde der Dow Jones noch fallen, bevor er sich wieder zu erholen begann? Würden die Benzinpreise jemals aufhören zu steigen? Libby kam mit dem Baby auf dem Arm heraus und brachte Smith einen großen Teller.
«Hey», sagte Peter.
«Hallo», sagte sie kühl.
Na ja, wenigstens behandelte sie ihn nicht wie Luft. Das war immerhin etwas. Peter beschloss, sein Glück zu versuchen. «Jacob ist groß geworden.» Das letzte Mal, als er den Kleinen gesehen hatte, hatte er mühelos in eine Armbeuge gepasst. Jetzt saß er auf Libbys Hüfte und griff mit einer Hand nach dem Brötchenstück, das Smith ihm hinhielt.
Smith sagte: «Wenn er groß ist, wird er Linebacker, genau wie sein Alter.»
Die Kohlen glühten sanft. Die Hamburger rochen, als wären sie gar. Peter nahm den Pfannenwender und legte sie auf einen Teller. Er schaltete den Grill wieder aus.
«He», sagte Smith. «Ich habe eine Idee. Kommt doch einfach zu uns rüber.»
Eine alte Sitte, sie hatten oft zusammen gegrillt und hinterher gemeinsam gegessen, auf der Terrasse oder in einem ihrer beiden Esszimmer.
«Smith», sagte Libby.
«Herrje, Libby. Stell dich nicht so an. Wenn Ann nichts dagegen hat –»
«Leider», sagte Peter möglichst leicht dahin, «hat Libby recht. Es ist wahrscheinlich besser, wenn wir Abstand halten.»
Stille.
«Gott.» Smiths Stimme klang beklommen. «Ja dann. Ich glaube, ich habe so was auch in den Nachrichten gehört. Und du meinst, das hilft?»
«Es ist das Einzige, was wir tun können.»
Drüben wurde der Deckel auf den Grill gesetzt. «Na ja, hat mich gefreut, Peter.»
«Mich auch.»
Peter ließ seinen Blick über die Häuser wandern, große dunkle Kästen mit hellerleuchteten Fenstern und geschlossenen Türen, wie von Rasen umgebene Inseln. Leere Terrassen, Tische neben gestapelten Stühlen und aufgerollten Sonnenschirmen. Es war ein selten klarer Abend, aber kein Mensch saß draußen.
In dem Haus seiner Familie – er konnte durch das Fenster in die Küche sehen – holte Ann gerade einen Stapel Teller aus dem Schrank, Maddie packte ihre Malsachen zusammen, und Kate schenkte sich ein Glas Milch ein. Alles wirkte wie immer. Dabei war alles anders als sonst.