VIERUNDZWANZIG
Sie hatten schon so viel aufgegessen.
Ann zählte die Dosen und Schachteln noch einmal durch, als könnten sie sich dadurch wie durch Zauberhand vermehren. Wobei sie natürlich davon ausgegangen war, drei Leute ernähren zu müssen, und nicht fünf.
«Erzähl uns noch eine Geschichte, Shazia.»
«Was denn für eine?»
«Erzähl uns von deiner Familie.»
Wie viel hatte sie über die Jahre weggeschmissen, ohne sich die leisesten Gedanken zu machen. Reste, die nicht mehr für eine ganze Mahlzeit reichten. Spaghetti, mit denen sie die Kerzen auf den Geburtstagstorten angezündet hatten. Allein die hätten inzwischen bestimmt für eine ganze Mahlzeit gereicht. Salatköpfe, die im Gemüsefach des Kühlschranks welk geworden waren. Vielleicht sollte sie alles auf einen Tisch vor dem Haus packen und ihren Nachbarn zum Tausch anbieten. Ein Gläschen Pinienkerne gegen ein Glas Traubengelee oder, verflucht, einen Apfel. Was würde sie für frisches, saftiges Obst geben. Für ein Glas Milch. Brokkoli. Grün, die Farbe des Lebens.
«Na gut, mal sehen. Mein Vater ist Kinderarzt, und meine Mutter ist Schönheitspflegerin.»
«Was ist das?»
«Eine Schönheitspflegerin? Die macht Leuten die Haare und das Make-up. Meistens Frauen. Die Männer in Ägypten tragen nicht viel Make-up.»
Weihnachten. Ein Tag nach dem Feuer, der vierte ohne Telefon, der achtundzwanzigste ohne Strom. Sie führte im Geiste genau Buch über die Verluste und merkte sich die Tage. Heute war Mittwoch. Morgen war Donnerstag. Alles, was üblicherweise die Tage voneinander unterschied, war aus ihrem Leben verschwunden. Sie musste schlicht zählen und sich die Daten merken.
«Hat sie dir auch beigebracht, wie man sich schminkt?»
«Ja, ein paar Tricks schon, zum Beispiel, dass man die Wimpern vor dem Tuschen formt. Und dass bei manchen Frauen ein Lidstrich auf dem unteren Lid die Augen kleiner wirken lässt.»
Auch Shazia zählte die Tage. Ann hatte gesehen, wie sie ihren Terminkalender studierte und mit dem Finger über die kleinen Quadrate fuhr, während sie lautlos die Zahlen vor sich hin sagte. Jetzt saß sie im Schneidersitz mit den Mädchen im Wohnzimmer. Sie hatten die Schlafsäcke und Kissen an den Rand geschoben und sich in einen Halbkreis gesetzt. Vermutlich würde bald eine von ihnen in die Küche kommen und sich ein Glas Wasser holen. Oder an die Tür gehen, um durch die Scheibe hinauszugucken. Inzwischen putzten sich alle im kleinen Gästeklo die Zähne, zogen sich dort an und wuschen sich mit einem Waschlappen Gesicht und Hals. Keiner ging mehr nach oben. Keiner ging mehr in den Keller. Ihre ganze Welt war auf die paar Zimmer im Erdgeschoss zusammengeschrumpft.
«Warum bist du nicht auch Schönheitspflegerin geworden?»
«Als ich klein war, hatten wir einen Hund. Eine Hündin, die Fila hieß. Ich liebte sie sehr. Sie fraß mir aus der Hand, und wenn sie etwas haben wollte, hob sie die Pfote und legte den Kopf schräg. Sie war unheimlich süß. Nachts schlief sie auf einem Kissen am Kopfende meines Bettes.»
Ann lehnte die Stirn gegen das Glas der Schiebetür. Draußen regte sich nichts. Alles war bloß schwarz, braun oder weiß. Wie satt sie es hatte, immer dieselben Häuser, dieselben Bäume, dieselben leeren Wege zu sehen. Wäre sie doch bloß mit Peter gefahren.
«Und dann?»
«Dann wurde sie krank. Der Arzt meinte, er könne ihr nicht helfen. Sie wurde immer dünner, bis sie eines Tages einfach starb. Ich war lange Zeit sehr traurig. Deshalb hat meine Mutter mir vorgeschlagen, später doch vielleicht Ärztin zu werden, damit ich den Hunden anderer kleiner Mädchen helfen könnte, nicht krank zu werden.»
«Und das hast du dann gemacht?»
«Nicht ganz. Ich wollte bei eurem Vater studieren. Deshalb habe ich mich für ein anderes Forschungsgebiet entschieden. Dein Vater erzählt Leuten immer, er habe mich überredet, aus Kairo hierherzukommen, aber so war das nicht. Ich habe ihn überredet, mich einzustellen.»
Ann hatte vorm Haus gestanden, während Peter in der Straße den Müll eingesammelt hatte. Niemand war herausgekommen, um zu helfen. Aber zugeguckt hatten sie. Ann hatte gesehen, wie sich Vorhänge und Schatten hinter den Fenstern bewegten. Offensichtlich bestand keine Gefahr, dass sie auf Peters Plan eingehen würden, ihre Vorräte auszutauschen. Sie würde nichts mehr dazu sagen müssen. Das Schweigen der Nachbarn würde es an ihrer Stelle tun.
Sie hätte über den Rasen laufen und mit in seinen Pick-up hüpfen können, bevor er wegfuhr. Shazia hätte bei den Mädchen bleiben können. Sie hätte sich auf dem Sitz zurücklehnen und spüren können, wie sich endlich etwas anderes bewegte als bloß die Wolken am Himmel. Aber sie hatte die Gelegenheit verstreichen lassen. Sie konnte es nicht riskieren, dass sie sich beide irgendwo ansteckten. Sie musste an ihre Töchter denken.
Maddie klopfte mit ihrem Pinsel gegen den Rand des Trinkglases. Ping. Ping. Ping. Vor sich hatte sie Papier ausgebreitet, auf das sie smaragdgrünes Gras und blauen Himmel gemalt hatte.
Ann legte ihrer Tochter eine Hand auf den Arm. «Maddie, bitte. Hör auf mit dem Krach.»
Doch Maddie schlug nur noch lauter gegen das Glas.
Mit einem Ruck richtete sich Ann auf. Sie hatte geträumt. Das Zimmer war dunkel, im Kamin brannte nur noch Glut. Aber das Klopfen war noch da. Es kam aus der Diele. Sie sah sich um. Alle schliefen fest – Kate, Maddie, Peter, Shazia.
Sie zog den Reißverschluss an ihrem Schlafsack auf, kroch hinaus und trat auf den gesteppten Daunenstoff. Wer konnte um diese nachtschlafende Zeit bei ihnen klopfen? Plötzlich keimte eine Hoffnung in ihr auf. Mom. Dad. Beth.
Sie rannte zur Tür. Der Fußboden unter ihren Socken war kalt. Mondlicht schien durch das Fenster an der Treppe. Vor der Scheibe neben der Tür bewegte sich ein dunkler Schatten. Dort war jemand. Ann tastete automatisch nach dem Schalter für das Außenlicht, aber natürlich ging es nicht an. Sie stieß die Nase gegen die raue Scheibe und spähte hinaus. «Wer ist da?»
«Ann?»
Eine Frauenstimme, die sie kannte, aber nicht die Stimme ihrer Mutter. «Ja?»
«Ann? Ach, Gott sei Dank.»
Libby!
«Wo bist du gewesen? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.» Ann hob die Hand und legte sie auf den Riegel. Dann waren Libby und Smith also nicht nach Arizona gefahren, sondern genauso wie sie die ganze Zeit hier eingesperrt gewesen.
«Lass mich rein.»
«Ich bin gleich so weit, Libby. Du musst ja halb erfroren sein!»
Ann hatte die Tür schon beinahe ganz entriegelt, als sie es hörte, das heftige, verschleimte Husten auf der anderen Seite. Sie erstarrte. «Ist alles in Ordnung mit dir?»
«Kannst du mich reinlassen? Es ist so kalt.»
«Bist du … krank?» Während Libby schwieg, hörte sie ein zweites Geräusch. Ein Baby weinte. Jacob.
«Bitte, Ann.»
Hinter ihr schlurfte es, und als Ann sich umdrehte, kam Peter gähnend aus der Finsternis.
«Wer ist da?», fragte er.
«Libby. Mit Jacob.»
«Dann lass sie rein.» Peter langte an ihr vorbei nach dem Riegel.
Ann hielt seinen Arm fest. «Warte.»
Libby hustete wieder. Es klang wie Krupp.
Ann fühlte etwas Dunkles in sich aufsteigen. Sie nahm den Riegel und schob ihn mit aller Kraft wieder zu, dass es durch die Diele hallte.
Libby rüttelte am Türknopf.
Verwirrt fragte Peter: «Was tust du da?»
«Sie hat die Grippe.» O Gott, Libby.
«Aber wir können sie doch nicht einfach draußen stehenlassen.»
Libbys Stimme war heiser. Zwischen zwei Hustenanfällen erklärte sie: «Jacob ist gesund. Das verspreche ich. Er ist schon damit durch.»
«Wenn er sie schon gehabt hat, ist er immun», sagte Peter zu Ann.
An Libbys Stelle würde sie das auch behaupten. Ihr Herz pochte laut. Sie musste nachdenken. Konnte sie den Kleinen aufnehmen? Er war so winzig. Sie konnte ihn allein in ein Zimmer legen. Aber nicht unten im Haus. Da gingen alle Zimmer ineinander über. Vielleicht konnte sie unten bleiben, und Peter und die Mädchen zogen nach oben. Aber was war, wenn sie krank wurde? Wie konnte sie dann dafür sorgen, dass die Mädchen sich nicht ansteckten? Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie verwarf einen nach dem anderen.
«Mom?»
Kate und Maddie standen in der Diele. Hinter ihnen Shazia.
«Wer ist an der Tür?», fragte Maddie und rieb sich die Augen.
«Shazia», sagte Ann, «bitte geh mit den Mädchen nach nebenan.»
Shazia zögerte und sah Peter an.
«Bitte, Shazia», sagte er.
Sie nahm die Mädchen bei den Schultern und führte sie hinaus.
Der Türknopf drehte sich fordernder hin und her. «Ann? Bitte!»
«Wenn er sie wirklich gehabt hat, besteht keine Gefahr», sagte Peter. «Lass ihn rein, Ann.»
«Und wenn sie lügt?»
«Und wenn nicht?»
Sie kaute auf ihren Lippen, schmeckte Blut. «Ich kann das Risiko nicht eingehen, Peter, ich kann es einfach nicht.»
«Wir müssen es tun.»
Inzwischen trommelte Libby an das Holz.
«Ann», sagte Peter.
Das dunkle Gefühl in ihr schwoll an, bis es alles in ihr ausfüllte. Ihr Kopf brummte. «Ich werde das Leben unserer Kinder nicht für ein fremdes aufs Spiel setzen.»
«Es ist kein fremdes Kind. Sie ist deine beste Freundin.»
«Sie würde es umgekehrt auch nicht tun.» War das die Wahrheit? Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
«Das kannst du nicht wissen.»
Moment. Doch, sie wusste es. Natürlich. Was konnte es für einen Grund geben, dass eine Mutter das Leben ihrer Kinder riskierte? Nein, Libby würde genauso handeln wie sie, da war sie sich sicher, ganz egal, wie sehr es schmerzte. «Wir werden diese Tür nicht aufmachen.»
«Das ist ein Fehler.»
«Peter.» Er musste ihr zuhören. «Hör zu. An der Grippe stirbt die Hälfte aller, die sie bekommen. Das weißt du. Jeder Zweite stirbt. Das heißt, wir opfern eine von beiden.» Ihre Augen brannten, die Kehle schmerzte. Sie sah die achtjährige Jodi vor sich, wie sie auf dem Trampolin sprang, mit fliegenden Haaren und fröhlichem Lachen. Plötzlich wurde sie so von Zorn übermannt, dass sie kaum noch Luft bekam. Sie brauchte ihn an ihrer Seite, nicht als ihren Gegner. Warum konnte er sie nicht verstehen? «Kate oder Maddie. Welche von unseren Töchtern willst du opfern?»
«Um Himmels willen, schrei nicht so.»
Sie presste den Rücken ans Holz, erschrocken über ihre eigenen Worte. Das Rütteln ließ nicht nach. Der Kampf war leicht zu bestehen, wenn das Ungeheuer auf Abstand blieb, dann ließ sich einfach die Grenze ziehen. Aber wenn es buchstäblich vor der Tür stand, dann zählte jeder kleine Schritt. Nicht das Öffnen der Tür war so schwer. Sie nicht zu öffnen war viel schwerer. Das konnte Peter nicht verstehen. Das würde er nie verstehen.
«Geh einfach wieder schlafen.» Nie hatte sie sich einsamer gefühlt als in diesem Moment. «Ich mach das allein. Wie immer.»
«Was zum Teufel soll das nun wieder heißen?»
«Du machst es dir immer leicht. In unserer Ehe. Mit deiner Mutter. Du bist schwach. Genau wie dein Vater.»
Er verzog das Gesicht.
«Ich geh weg.» Flehentlich bummerte Libby an die Tür. «Aber bitte hilf Jacob. Ann, bitte. Bitte hilf meinem Kind.»
Die Grippe hatte so viele dahingerafft. Sie würde Kate und Maddie nicht bekommen. Ann lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür. Sie würde verhindern, dass diese unaussprechliche Seuche Kate und Maddie noch mehr belastete, als sie es ohnehin schon waren.
Peter sagte leise: «Und du meinst, dein Verhalten macht dich zu einer guten Mutter?»
Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht. Es war starr vor Zorn. Seine Augen waren kalt. Er fand abscheulich, was er sah.
«Was soll ich denn tun?»
Das Bummern hörte auf.
«Nimm nur mein Kind.» Libbys Stimme entfernte sich. «Ich bin im Garten. Ich bin im Garten.»
Ann versagten die Beine. Sie sank zu Boden, schloss die Augen und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Das Ungeheuer drohte sie zu vernichten. Sie selbst war das Ungeheuer.
Um sie herum wurde es still.
Die Diele war leer. Peter war gegangen. Zitternd rappelte sie sich auf und guckte aus dem Fenster. Draußen lag alles verlassen. Sie sah nur ihren verschneiten, schräg abfallenden Garten und dahinter die dunklen Umrisse der Nachbarhäuser. Libby war weg. Aber vor der Tür lag etwas. Was war das?
Libby hatte das Baby dort gelassen. Jacob lag in einem Wäschekorb, so dick in Decken gehüllt, dass nur seine Nasenspitze zu sehen war. Ann presste die Hand ans Fenster. Ihr Atem gefror auf dem Glas. Im trüben Licht des Mondes meinte sie zu sehen, wie ein Füßchen gegen den Deckenberg antrat.
Libby, komm wieder.
Draußen war alles still. Selbst die Bäume schienen den Atem anzuhalten. Libby war nirgends zu sehen. Anns Gedanken rasten. Und wenn sie nun unrecht hatte? Wenn Libby die Wahrheit gesagt hatte? Ann musste nur die Tür entriegeln. Er lag direkt auf der Schwelle. Sie würde nicht einmal aus dem Haus treten müssen. Vielleicht war er wirklich nicht krank.
Libby, bitte, ich schaff das nicht. Komm wieder und nimm diese Last von mir.
Ann schlug die Hände vors Gesicht.