ACHTUNDVIERZIG

«Warum hat es so lange gedauert?», fragte Kate verärgert, als Ann die Autotür öffnete. Jacob holte aus und schlug nach Kates Kinn, und sie fing seine Hand ab. «Wie geht’s, Maddie?»

«Ich hab eine Spritze bekommen.» Maddie schob sich an Ann vorbei und kletterte ins Auto. Sie hatte sich die Maske vom Gesicht gerissen und hielt sie noch in der Hand. «Und der Doktor hat mir vor allen Leuten den Pulli hochgezogen.» Sie fummelte nach dem Gurt, und Ann half ihr, sich anzuschnallen.

Kate lehnte sich zurück. «Und jetzt ist alles wieder gut?»

«Wir wissen immer noch nicht, was die Reaktion ausgelöst hat», sagte Ann.

«Ich dachte, sie wäre bloß allergisch gegen Katzen.»

«Es muss noch was Neues hinzugekommen sein.» Ann setzte sich ans Steuer und schloss schnell die Tür. Sie sah Kate im Rückspiegel an. «Du musst mir helfen herauszufinden, was es gewesen sein kann.»

Kate betrachtete Maddie mit einem sorgenvollen Blick. «Wie sollen wir das machen?»

«Keine Ahnung. Wir haben zwei Wochen, hat der Arzt gesagt. Sag mir mal genau, was ihr beiden gemacht habt, als es losgegangen ist.»

«Nichts. Wir haben Jacob angezogen.»

Ann ließ den Motor an und fuhr los. «Ihr wart nicht draußen?»

«Nein.»

«Vielleicht ist es Staub.» Wie sollte sie das feststellen? Es war schlicht unmöglich. «Wenn wir nach Hause kommen, putze ich erst mal überall. Und ihr geht erst hinterher in eure Zimmer. Maddie, du bleibst am besten unten.»

Sie fuhren auf die Straße. Heiße Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen. Sie kamen an einem Baumarkt, einem Geschäft für Mobiltelefone und einer Reihe von Restaurants vorbei. Alles war geschlossen. Die Uhr auf dem Armaturenblatt zeigte 16 : 15. Sie waren eine Stunde in der Klinik gewesen. Sowie sie zu Hause waren, musste sie nach Peter sehen. Mit etwas Glück hatte er die ganze Zeit geschlafen. Sie hätten das Schlimmste hinter sich, hatte die Krankenschwester gemeint. Morgen würde es ihm schon bessergehen.

Kate fragte: «War die vorhin schon da?»

Auf einem leeren Parkplatz stand ein Feuerwehrwagen – schief, als wäre er hastig zum Stehen gekommen. Eine Tür stand auf. Ann konnte sich nicht erinnern, ob er auf dem Hinweg auch schon dort gestanden hatte. Sie hatte vor lauter Eile nicht nach rechts und links geschaut.

«Da ist was draufgeschmiert, Mom.»

Ann sah noch einmal hin. Auch Maddie guckte. An die Seitenwand des Wagens war ein schwarzer Kreis gemalt, mit einem dicken Strich durch die Mitte.

«So was habe ich schon mal gesehen», sagte Kate. «Das sieht genauso aus wie an der Tür von Libby und Smith.»

Ein so großer Wagen musste einen riesigen Benzintank haben. Ann fragte sich, ob darauf wohl schon andere gekommen waren.

«Bloß, da steht eine Drei dabei.»

Eine Drei hier, an Libbys Tür eine Zwei – kleine Zahlen, die zusammen viel zu viel ergaben.

Ann sah im Rückspiegel, wie Kate aus dem Fenster starrte. Plötzlich trat ein erschrockener Ausdruck auf das Gesicht ihrer Tochter. Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Als Jacob auf ihrem Schoß unruhig wurde, gab sie ihm wieder ihre Hand zum Spielen.

Ann umfasste das Lenkrad fester. Sie musste zusehen, dass sie nach Hause kamen, bevor die Kinder noch mehr sahen.

Hier waren der Supermarkt, das Bekleidungsgeschäft und der Schreibwarenladen. Nichts als leere Fenster und dunkle Türen.

«Guck mal», sagte Maddie plötzlich. «Da ist Heyjin.»

«Wer?», fragte Kate.

«Ein Mädchen aus meiner Klasse. Aus Korea. Sie sitzt in dem Bus da. Ich glaube, sie hat mich gesehen.» Maddie winkte.

Ann schaute zu dem großen silberblauen Bus hinüber, der sie gerade überholte. An allen Fenstern saßen Kinder.

«Wo fährt sie hin, Mom?»

«Das weiß ich nicht.»

«Ich sehe ihre Mutter nicht.»

«Ich sehe überhaupt keine Mütter», sagte Kate. «Und auch keine Väter.»

Wie hatte man die Kinder gefunden? Wie lange waren sie auf sich allein gestellt gewesen? Das war eine der Ängste, die Peter neulich ausgesprochen hatte. Seine Sorgen waren berechtigt. Sobald sie nach Hause kamen, würde sie ihn warm einpacken, und dann würden sie aufbrechen. Keine Stunde wollte sie es mehr aufschieben. Er war nicht mehr ansteckend, und er konnte genauso gut im Auto schlafen. Und es war auch besser, Maddie aus dem Haus zu schaffen, damit sie nicht noch einmal einen allergischen Schock bekam.

Ann bog in ihr Viertel ein. Plötzlich überkam sie das erdrückende Gefühl, zu ersticken. Die Straße führte an den verklinkerten und verputzten Häusern vorbei, mit den Säulen vor der Tür, und schließlich an den verrußten Überresten des Hauses, in dem die Guarnieris gewohnt hatten. Sie war in einigen dieser Häuser auf Partys gewesen. Sie war an ihnen vorbeigekommen, wenn sie mit den Mädchen in den Park ging. Jetzt wirkten sie alle fremd, seelenlos und überhaupt nicht mehr anheimelnd. Es würde gut sein, von hier wegzukommen und nach Norden zu fahren.

«Barney ist wieder da», sagte Kate.

Ja, er schlich hinten ums Haus. In den letzten Tagen war er immer wieder für eine Weile verschwunden, sodass Ann schon gehofft hatte, er habe vielleicht eine andere Familie gefunden, die sich seiner annahm, allerdings nur, bis er dann doch wiederauftauchte und auf der Terrasse herumschnüffelte oder an der Garagentür kratzte.

Ann holperte in die Garage und stellte den Motor aus. «Maddie, du gehst bitte direkt in den Hauswirtschaftsraum und ziehst dich ganz aus. Es tut mir leid, mein Schatz, aber ich werde dich einmal von oben bis unten waschen müssen, auch die Haare.»

«Mit kaltem Wasser?»

«Ich mach ganz schnell, das verspreche ich dir.» Sie drehte sich zu Kate um. Was immer die Allergie ausgelöst hatte, konnte auch in ihren Sachen hängen. «Warte du mit Jacob hier draußen. Ich bring dir was zum Anziehen, sobald ich mit Maddie fertig bin.»

Kate nickte, aber sie wirkte abgelenkt. «Warum bellt Barney so?»

«Keine Ahnung.» Der Hund bellte sonst eigentlich nie. Das hohle Geräusch hallte durch die Straße. Wenn Peter bis jetzt noch nicht aufgewacht war, dann war er es jetzt bestimmt.

Ann schob Maddie vor sich ins Haus. «Lass alles links liegen, wenn du es ausgezogen hast. Ich hol dir ein Handtuch und saubere Sachen.»

«Ist gut.» Maddie lief in den Hauswirtschaftsraum und schloss die Tür.

Sie hörte von irgendwoher ein Plätschern. Seltsam. Ann ging in die Küche und sah, dass der Wasserhahn lief. Sie wusste genau, dass sie das Wasser nicht hatte laufen lassen. Sie war überhaupt nicht an der Spüle gewesen. Oder vielleicht doch? Eine andere Erklärung gab es nicht. Sie machte den Hahn zu. Es wurde merkwürdig still im Haus. Das mussten ihre Nerven sein. Die ganze Aufregung mit Maddie. Sie hatten zum ersten Mal seit fast zwei Monaten das Haus verlassen. Kein Wunder, dass es seltsam war, wieder hier zu sein.

Zuerst die Sachen für Maddie, dann wollte sie nach Peter sehen. Er musste etwas trinken, und vielleicht konnte er endlich auch Ibuprofen bei sich behalten. Wer weiß, vielleicht hatte er sogar Appetit. Sie sollte versuchen, ihm noch irgendwas Sättigendes einzuflößen, bevor sie abfuhren. Suppe vielleicht. Die heiße Flüssigkeit würde seinem Hals guttun.

Sie musste so bald wie möglich nach ihm sehen und schauen, ob das Fieber endlich nachließ. Sie ging an die Treppe und legte die Hand aufs Geländer. Doch dann stockte sie. Irgendetwas stimmte nicht. Sie schaute sich um. Vor der Haustür lag etwas. Ein Mensch. Im grünen Schlafanzug, mit langen, schlanken Füßen. Und er rührte sich nicht.

Peter.

Mit wenigen Schritten war sie bei ihm. Sie ließ sich auf die Knie nieder und nahm ihn bei den Schultern. Durch das Flanell fühlte sie die Sehnen in seinen Armen. Er war so dünn geworden. «Mein Schatz, du hättest nicht aufstehen dürfen.»

Er sackte unter ihren Händen zusammen. «Komm, ich helf dir.»

Sein Kopf rollte zur Seite. Mit halbgeöffneten Augen sah er sie an.

Sie gefror innerlich. In ihrem Hals breitete sich ein Kloß aus. Sie berührte seine Wange. Die Haut war wie Wachs. Von einem seltsamen Blassgelb. Seine Augen waren blicklos und ohne Licht.

«Peter?», flüsterte sie, aber sie wusste, dass er nicht antworten würde. Wo immer er sein mochte, Peter war nicht mehr in seinem Körper. Er war nicht mehr da.

Um sie versank die Welt. Sie begann zu zittern.

Nein.

Sie presste beide Hände gegen seine Wangen. «Komm zurück.»

Seine Lippen fielen auseinander.

«Peter! Du darfst mich nicht verlassen. Peter!»

Sie klopfte ihm auf die Wangen, schüttelte ihn, dass sein Kopf nach hinten sackte.

«Peter!»

Schluchzend schlang sie die Arme um ihn und drückte ihn so fest an sich, wie sie konnte. So als sollte ihr Herz für sie beide schlagen. «Bitte, bitte.» Sie hatte das hier schon einmal erlebt, mit William. Auch damals war es zu spät gewesen.

Draußen stieß Barney ein lautes Heulen aus.

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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