NEUNUNDDREISSIG

Peter setzte vorsichtig den Hund ab und klopfte an die Tür. «Ann?»

Nach einem kleinen Moment war sie da. «Alles klar bei dir?» Ihre Stimme war gedämpft.

«Ja, mir geht’s gut.» Müde war er, aber davon sagte er nichts. Ein gut zwanzig Kilogramm schweres Tier so weit zu tragen war anstrengend. «Kannst du mir ein paar Sachen holen? Wasser, Mullbinden, eine antibakterielle Salbe. Eine Nagelschere und eine Decke, wenn du eine über hast.»

«Hast du dich verletzt?»

«Nein, ich brauch die Sachen für den Hund.»

«Welchen Hund? Den Hund vom alten Finn?»

«Er hat sich verletzt.»

«Warum kann Finn ihm nicht helfen?»

«Er ist tot.»

«Ach, Peter! Geht’s dir auch wirklich gut?»

«Ja. Aber um den Hund mache ich mir Sorgen.»

«Okay. Einen Augenblick.»

Er zog die Jacke aus und wartete an der Wand gegenüber. Nach ein paar Minuten machte sie die Tür auf.

«Hier», rief sie, warf ihm eine Decke zu und stellte eine Tasche raus. Dann sah sie erst ihn, dann den Hund an, der hechelnd auf dem Boden lag. Danach schaute sie ihm lange ins Gesicht. Er fragte sich, was sie wohl sah. «Das Essen ist gleich fertig.»

Er wartete, bis die Tür zu war, bevor er die Tasche holen ging.

Nachdem er die Decke hinten im Minivan ausgebreitet hatte, knipste er das Licht an der Wagendecke an. Sie war nicht sehr hell, aber er wollte die Wunde ja auch nicht nähen. Dazu war es zu spät. Er hob Barney hoch und legte ihn auf die weiche Fläche. Der Hund atmete schwer.

Er schnitt das Fell um die Wunde kurz und wusch die Wunde aus. Dann drückte er einen großen Klecks antibakterielle Salbe darauf und umwickelte das Bein mit einem langen Streifen Mull. Er tröpfelte dem Hund ein wenig Wasser in den Mund und deckte ihn mit den vier Ecken der Decke zu. Die Nacht brach an. Er konnte kaum noch etwas sehen.

Ein Klopfen an der Tür. «Ich mache auf», rief Ann.

«Okay.»

Sie stellte eine Kerze auf die Stufe vor der Tür. Die kleine Flamme beleuchtete eine Schale, die sie auf den Beton setzte. Er hörte ihre Stimme. «Bist du sicher, dass du alles hast, was du brauchst?»

«Ganz sicher.»

Die Tür ging zu.

Sie hatte ihm mehrere Dinge hingestellt – Suppenschale, Löffel, Trinkglas, eine Flasche Wasser. Er nahm die Schale und betrachtete den Inhalt im Kerzenlicht. Ein undefinierbarer heller Brei. Vielleicht Reis. Oder Haferflocken. Die Masse schmeckte nach nichts und war nass und körnig. Er hatte so was schon mal gegessen, aber wann? Es erinnerte an Couscous, schmeckte aber weniger nussig. Peter nahm noch einen Löffel. Da fiel es ihm ein. Graupen. Wo in aller Welt hatte Ann Graupen gefunden?

Im Glas war Apfelsaft. Schon wieder eine Überraschung. Wo kam der denn her? Sie hatten in letzter Zeit bloß noch Wasser gehabt. Er trank das ganze Glas in einem Zug aus. Wie hatte ihm das Zeug je zu süß sein können?

Mit der Schale und dem Wasser setzte er sich auf eine umgedrehte Kiste am offenen Garagentor, um die Straße zu beobachten. Gegenüber ragten dunkel die Mauerreste vom Haus der Guarnieris auf. Ein Stück weiter, bei den Singhs, glühte ein Kaminfeuer. Er sah den Schein durch das Wohnzimmerfenster. Ihr Auto stand seit einigen Tagen unbewegt in der Einfahrt. War Singh auch erkrankt?

Die Graupen schmeckten nicht schlecht. Er aß die Hälfte und brachte den Rest dem Hund. Barneys Augen glänzten im Kerzenlicht. Peter stellte ihm die Schale hin. Keuchend rappelte der Hund sich auf. Er schleckte den Brei weg.

«Guter Hund.»

Peter füllte die Schale mit Wasser. Der Hund wartete, dann senkte er den Kopf und trank. Als er fertig war, lehnte er sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Peter stellte die saubergeleckte Schale an die Tür.

Der Abendhimmel war klar. Peter betrachtete das Muster der Zweige und die scharfen Kanten der Dachspitzen. Die Welt hatte auf Zeitlupe umgeschaltet. Schade, dass er den Sonnenuntergang nicht hatte sehen können. Die Garage ging in die falsche Richtung. Er trank noch einen Schluck Wasser.

Bei den Jagdausflügen mit seinem Vater hatte er häufig Sonnenauf-und Sonnenuntergänge erlebt, obwohl er nie ein großer Jäger gewesen war. Schon als Kind hatte er sich für den Flug der Raubvögel begeistert, war er davon bezaubert gewesen, wie sich die Wasservögel v-förmig anordneten, wenn sie nach Süden flogen. Meistens war es sein jüngerer Bruder Mike gewesen, der zum rechten Zeitpunkt sein Gewehr hochriss. Mike, der später Soldat geworden war. Der Präsident hatte die Truppen zurückgeholt. Mike musste längst wieder zu Hause sein, bei Frau und Kind.

Barney knurrte. Peter sah sich zu ihm um. Der Hund hatte den Kopf gehoben.

«Dad?» Eine dünne Stimme drang durch die Dunkelheit. Kate.

Rasch stand Peter auf. Die Kiste fiel um. An der Einfahrt standen seine beiden Töchter. «Nicht näher kommen.»

«Ist das ein Hund?», fragte Maddie.

Peter hörte die Hoffnung in ihrer Stimme. «Das ist der Hund von Mr. Finn. Er hat sich verletzt, und ich passe ein bisschen auf ihn auf. Was wollt ihr zwei denn hier draußen?»

«Mom hat gesagt, wir dürfen dir gute Nacht sagen.»

«Wie geht’s Jacob?»

«Er ist meckrig, Mami hat ihn gezwungen, Bohnen zu essen.»

«Sie hat sie von nebenan», ergänzte Kate.

Daher also die Graupen und der Apfelsaft. Das hatte Ann gut gemacht.

Maddie erzählte: «Sie hat gesagt, Smith und Libby waren nicht mehr da.»

Ihre Stimme klang verwirrt. Also hatte Ann nichts Genaueres erklärt.

«Das stimmt.»

«Seltsam», sagte Kate herausfordernd. «Wieso sollten sie ihr Kind verlassen?»

Aus dem Dunkel rief Ann: «Sagt gute Nacht, ihr beiden.» Sie trat hinter die Mädchen, das Baby auf dem Arm.

«Ich bin klein, mein Herz ist rein», begann Peter.

«Soll niemand drin wohnen als Jesus allein», fuhr Maddie fort. «Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.»

Sie klang so schrecklich traurig. Wie gern hätte Peter sie in die Arme geschlossen. «Gute Nacht, ihr zwei. Ich liebe euch.»

«Gute Nacht, Dad.»

«Nacht, Dad.»

Er folgte den Mädchen mit den Augen, dann wandte er sich an Ann: «Ich höre, du warst nebenan.»

«Es war furchtbar.»

«Aber klug.»

«Kate weiß, was mit Libby und Smith ist. Das ist mir gar nicht recht.»

«Sie ist jung. Sie wird damit fertig werden, Ann.»

Ann biss sich auf die Lippen und senkte den Blick. «Und ich habe ihr zuletzt noch das Vertrauen verweigert.»

Sie redete von Libby. «Aber jetzt kümmerst du dich um ihr Kind», erinnerte er sie sanft.

Sie sah ihn an. Ihr Gesicht lag im Schatten. «Du warst derjenige, der Jacob gerettet hat. Ich hab die Tür vor ihm verschlossen.»

«Wenn ich ihn nicht hereingeholt hätte, hättest du es getan.»

«Meinst du? Ich weiß nicht.» Ihre leise Stimme klang gequält.

«Vorbei ist vorbei», sagte er und bekam zur Belohnung ein trauriges Lächeln geschenkt.

«Das ist noch so ein Spruch von deinem Vater», sagte sie, und er nickte.

Das Baby gähnte. Beiläufig wippte sie es auf und ab, wie Mütter es auf der ganzen Welt tun. Jacob legte eine Hand an ihren Hals, bettete die Wange an ihre Schulter und rülpste. Sie lachten beide. «Was macht der Hund?», fragte sie.

«Ich glaube, er hat große Schmerzen. Er bräuchte ein Aspirin. Wenn ich doch bloß meine Tasche noch hätte.» Sie war mit seinem Pick-up verschwunden.

«Würde Ibuprofen auch helfen?»

Peter schüttelte den Kopf. «Ich werde ihn einfach im Auge behalten.»

Sie nickte. Jacobs Kopf rollte zur Seite, und sie hielt seine Wange. «Ich sollte ihn jetzt lieber hinlegen.»

«Denk dran, alles abzuschließen.»

«Ja.»

Sie klang abwesend. Sie hörte nicht richtig zu. «Ann», mahnte er scharf.

Sie blieb stehen und sah sich um.

«Ich meine es ernst. Guck nach, ob alle Türen abgeschlossen und alle Fenster fest verriegelt sind.»

«Okay, Peter. Ich guck nochmal überall nach. Versprochen.»

Er wartete, bis sie verschwunden war, dann zog er das Garagentor zu. Er blies die Kerze aus und kletterte in den Minivan. Die Hundemarken klapperten leise aneinander.

«Versuch jetzt zu schlafen, mein Freund.»

Morgen früh würde er seinen Verband wechseln. Dann würde er auch wissen, ob es ihm gelungen war, die Infektion zu heilen. Er lehnte sich zurück und versuchte, eine bequeme Lage zu finden. Seine zweite und hoffentlich letzte Nacht im Auto. Draußen war kein Mond zu sehen. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die unsichtbare Wagendecke.

Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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