NEUNUNDVIERZIG
«Warum ist er runtergegangen?» Maddie stand mit Kate oben an der Treppe. Unten lag Peter. Näher hatte Ann sie nicht herangelassen. Sie hatte ihn mit der Decke aus seinem Bett zugedeckt. Er hatte so elend und kalt gewirkt. So allein. Das hatte sie nicht ertragen. Im Schlafzimmer hinter ihnen jammerte Jacob leise vor sich hin.
«Vielleicht hat er uns gesucht», sagte Kate. «Mom, wir haben ihn ganz alleine gelassen.»
«Ja, ich weiß.»
Er war ganz allein gewesen. Hatte er gelitten? Hatte er Angst gehabt? Ihre Töchter schmiegten sich an sie.
Schließlich schickte sie die beiden zu Jacob ins Zimmer. Sie würden nicht mehr unten im Wohnzimmer schlafen. Dort würden zu viele Erinnerungen lasten. Jacob war auf seinem kleinen Lager auf dem Boden eingeschlafen. Ann sah noch einmal nach ihm, dann ging sie ins Bett und hielt die Decken hoch. Die Mädchen kletterten von beiden Seiten zu ihr und drängten sich an sie. Ann hielt ihre kalten Hände fest. An der Decke sammelten sich Schatten.
Kate murmelte: «Ich will nie wieder jemand lieben.»
«Ach, mein Schatz.» Ann streichelte ihre Handfläche mit dem Daumen.
«Wie konnte er uns verlassen?»
«Das wollte er doch nicht.»
«Wieso bist du nicht krank geworden?», fragte Maddie. «Und wieso sind wir beide nicht krank geworden?»
«Das weiß ich nicht.»
«Stirbst du jetzt auch?» Maddies Atem strömte weich über Anns Wange.
«Nein.» Doch eigentlich fühlte sie sich schon tot.
Mit piepsiger Stimme fuhr Maddie fort: «Und wir, Mommy? Müssen wir auch sterben?»
«Alle müssen sterben.» Kate entzog Ann ihre Hand und drehte sich auf die Seite, mit abgewandtem Gesicht.
So war es. Anns Augen wanderten an die Decke. Alle müssen sterben. Stumm lag sie im Dunkeln und lauschte dem Atem ihrer Kinder. Sie ließ ihn direkt in ihr Herz strömen.
Der Mond stand tief zwischen treibenden Wolken.
Ann kniete sich ins Gras und suchte im grauen Licht nach Baumwurzeln. Wenn sie zu nahe an der Birke grub, war die Sonne nicht zu sehen. Wenn sie zu weit wegging, würde sie nicht mehr durch die Zweige scheinen, und das sah so schön aus. Sie musste den Fleck finden, der die Abendsonne einfing. Sie fuhr mit dem Handschuh über den Boden, um zu sehen, wie steinig er war. Dann stand sie auf, stieß den Spaten in den harten Boden und stellte einen Fuß hinten auf das Blatt, wie sie es bei Peter gesehen hatte. Sie legte sich mit ihrem ganzen kläglichen Gewicht in die Bewegung. Die Schaufel rutschte zur Seite weg.
Sie grub den Spaten tiefer, um größeren Halt zu haben. Trotzdem kippte er auch beim zweiten Mal weg, als sie sich draufstellte. Bei Peter hatte es so einfach ausgesehen. Fuß drauf, zutreten, mit beiden Händen am Stiel die Erde ausheben. Sie fasste den Spaten fest an, hob ihn hoch und rammte ihn in den Boden. Ping. Das Metall stieß auf etwas Hartes. Stein vielleicht. Mit der Taschenlampe leuchtete sie auf die Stelle. Immerhin war sie ein kleines Stück in die Erde eingedrungen. Das war ein Anfang.
Sie fand einen Rhythmus. Die Schaufel hoch-und niederstoßen. Die gelockerte Erde herausschaben. Hoch, nieder, schaben. Nach einer Weile hatte sie eine schmale Rinne ausgehoben. Das Loch musste nicht breit werden, nur tief.
Peter, wie er sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg ansah. Wie er ihr Kaffee nachschenkte. Wie er sich zu ihr aufs Sofa setzte und seine Beine neben ihren ausstreckte.
Der Mond stieg höher, während sie arbeitete, und gab ein fahles Licht. Irgendwann brauchte sie keine Taschenlampe mehr. Sie knipste sie aus, um Batterien zu sparen. Dann und wann hielt sie inne und sah sich um. Es war niemand da. Die Straße war leer, die Häuser dunkel.
Die Männer mit dem Laster würden wiederkommen. Beim ersten Mal waren sie höflich gewesen, aber das würde sich ändern. Sie würden es am Ton ihrer Stimme hören, dass sie log. Sie durfte nichts zurücklassen, was sie finden konnten. Sie stieß den Spaten in den Boden, wieder und wieder.
So war es zwischen uns immer, hatte sie ihm damals auf der Terrasse vorgeworfen. Sie hatte sich so einsam gefühlt, so umzingelt von all ihren Fehlern. Und er hatte geantwortet: Nein, das war es nicht. Weißt du das nicht mehr?
Doch, sie wusste es noch.
Peter, wie er mit den Mädchen mitlief, als sie unsicher auf ihren Fahrrädern loswankten. Wie er am ersten warmen Tag den Rasensprenger aufbaute. Wie er ihnen das Flugbild bestimmter Vögel erklärte. Das Gras teilte, um ihnen einen Tierbau zu zeigen. Wie er mit ihnen vor dem Haus saß und fernes Gewitter beobachtete. Die Mädchen hatten viel von ihm gelernt. Irgendwo in Kate und Maddie würde Peter weiterleben.
Ann kauerte sich neben das Loch und langte hinein. Ihr Arm verschwand bis zum Ellbogen. Gute dreißig Zentimeter. Noch nicht annähernd tief genug. Sie stieg hinunter und grub weiter.
Der Spaten klirrte gegen einen Widerstand. Der Griff vibrierte, dass sie es bis in die Arme spürte. Sie ging in die Knie und fühlte nach. Durch das Leder ihrer Handschuhe ertastete sie eine scharfe Kante. Sie schabte mit beiden Händen die Erde weg und wuchtete einen schweren Kalkstein heraus. Dieses alte Ackerland war voll davon. Sie warf ihn beiseite.
Das Graben wurde leichter, als sie die weiche Lehmschicht unter dem festen Boden erreichte. Sie hob den Lehm in dicken Klumpen aus. Inzwischen stand sie bis zu den Oberschenkeln im Loch. Da war wieder ein Stein. Sie legte die Oberfläche mit dem Spaten frei und versuchte ihn herauszuhebeln. Ihre Muskeln an den Schulterblättern und zwischen den Rippen schmerzten. Ihre Fingerspitzen pochten, und sie konnte spüren, dass sich an den Handflächen Blasen gebildet hatten. War es Einbildung, oder konnte sie jetzt mehr sehen?
Ann blickte auf. Bald würde die Sonne aufgehen. Sie musste schneller graben. Sie musste fertig sein, bevor die Mädchen aufwachten. Sie musste alle Spuren beseitigen, bevor der Laster kam. Sie hatte Peter zum Schluss allein gelassen, aber sie würde sich ihn nicht wegnehmen lassen.
Im Flur wickelte Ann Peter in Laken ein, sodass er ganz in einem Baumwollkokon verschwand. Kates Eule legte sie mit hinein. Dann band sie die Enden zusammen und verschnürte das Bündel von oben bis unten mit vielen Knoten, damit er sicher in seiner Stoffhülle aufgehoben war.
Sie breitete die Federdecke auf dem Boden aus und legte zuerst seine Beine darauf. Stück für Stück schob sie den Oberkörper hinterher, schließlich den Kopf. Dies war der Mann, den sie liebte. Ein Schluchzen stieg in ihr auf.
Als Peter ganz auf der Decke lag, packte sie zwei Ecken und zerrte die Last über die Schwelle. Peters Stimme, als sie Maddies alte Kommode die Treppe hinuntertragen wollten. Fass unten an, Ann. Sein Lachen, als ihm aufging, dass sie eingeklemmt war und sich gar nicht bewegen konnte.
Ein Stein riss ein Loch in den Bezug. Ann zog und zerrte und gönnte sich immer wieder kleine Pausen. Ihre Wangen waren nass. Sie wischte sie mit dem Ärmel ab. Ein scheppernder Lärm ließ sie herumwirbeln. Barney kam im Dämmerlicht angeschlichen.
«Hau ab.»
Der Hund blieb stehen.
«Ich mein das ernst. Hau ab, verdammt nochmal!»
Wie der Blitz drehte Barney sich um und verschwand die Straße hinunter.
Am Nachmittag kam eiskalter Wind auf. Eine Kaltfront rückte an. Sie standen zu viert unter den kahlen Zweigen der Birke. Sie bot keinen Schutz. Auf der einen Seite schmiegte sich Maddie an sie, auf der anderen Kate, das Baby auf dem Arm. Die Sonne versank hinter den Dächern. Ann hatte auf sie gewartet, und die Wolken hatten ihr den Gefallen getan, sich aufzulösen und in feinen Schleiern über den Himmel zu ziehen, die in der Abendsonne rot leuchteten.
Sie schlug die Bibel auf und blätterte, bis sie die richtigen Seiten fand. Es gab mehrere Stellen zur Auswahl. Alles war deutlich erklärt und hervorgehoben: wann man aufstand, was man zu sagen hatte. Ihre Augen brannten. Die Buchstaben verschwammen. Sie hatte einen harten, schmerzenden Kloß im Hals. Die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Sie schlug die Bibel wieder zu und stand einfach nur da, vor dem Hügel aus hellbrauner Erde, mit dem Gefühl, überhaupt nicht zu wissen, wie sie ihren Mann und ihre Töchter über diesen schmalen Grat führen sollte.
Maddies kalte Finger krochen in ihre Hand.
Eine Bö riss an ihnen.
Sie hatten so viel verloren.
«Müde bin ich, geh zur Ruh», sagte Ann.
Maddie schniefte, dann sprach sie mit: «Schließe beide Äuglein zu. Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein.»
Zu zweit beteten sie weiter. Die letzte Zeile sprach auch Kate mit, mit zitternder, leiser Stimme:
«Alle Menschen, groß und klein, sollen dir befohlen sein.»