SIEBENUNDZWANZIG
Der alte Mann kauerte im Schatten vor seinem Hauseingang. Weiße Haare, brauner Mantel über einem dicken Bauch, hellbraune Jägermütze mit Fellklappen. Peter hob die Hand zum Gruß.
Der Mann beugte sich auf seinem Stuhl vor. «Haben Sie gehört, ob die langsam mal Lebensmittel abwerfen wollen?»
Seine Stimme klang verschleimt. War er krank?
«Nicht, dass ich wüsste», sagte Peter.
Er hatte keine Ahnung, wie lange es her war, dass er zum letzten Mal ein Flugzeug am Himmel gehört hatte. Eines der vielen kleinen alltäglichen Ärgernisse, die er als selbstverständlich hingenommen hatte. Wie würde er sich jetzt freuen, das Dröhnen zu hören.
«Geräumt worden ist auch nicht.»
«Nein», sagte Peter, «das stimmt.» Er sah den Mann an. «Sind Sie allein?»
Der Mann schüttelte den Kopf. «Die andern schlafen noch.»
Peter zögerte immer noch. «Brauchen Sie was?»
«Nee.» Der Mann lehnte sich zurück. «Alles klar.»
Die Schneegrate auf den Dächern malten in der Morgensonne schartige Schatten auf den Boden. Peter trottete weiter. Der Schlitten knirschte hinter ihm über das Pflaster. Er fühlte sich einsam, wie er mit dem leeren Schlitten durch die Gegend zog.
Unter einem Ginkgobaum steckte ein Ast im Gras. Er war klein, bloß ein Zweiglein. Damit konnte man höchstens Marshmallows aufspießen, Wärme würde er nicht bringen. Trotzdem legte Peter ihn auf den Schlitten. Da war noch einer. Er war innen hellgrün und hatte lauter Knospen. Ein junger Zweig. Irgendwer oder -was hatte ihn von einem Baum abgerissen. Er legte ihn auf den Schlitten. Der musste erst mal trocknen, bevor er ihn verbrennen konnte.
Er folgte dem Weg in den Wald.
Die Luft war klar. Er atmete tief durch und musste husten. Sie hielten sich den ganzen Tag in verräucherten Zimmern auf. Er roch den Holzrauch in den Haaren seiner Töchter, seinen Kleidern, den Decken, unter denen sie nachts schliefen. Ann versuchte dagegen anzukämpfen, aber ihm machte es nicht so viel aus. Es war ein tröstlicher Geruch, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Sein Vater war jeden Herbst mit Mike und ihm in die Hütte gefahren, zur Jagd. Abends hatten sie ein Lagerfeuer gemacht und übers Wasser geguckt. Ihr Vater hatte Geschichten erzählt. Mit rauer Stimme, weil er den ganzen Tag nicht gesprochen hatte.
Er erzählte ihnen von den Bergen in Kentucky, die bei Tagesanbruch blau schimmerten, und wie er beim Bau der Eisenbahn in North Dakota mit sieben anderen Männern in zwei kleinen Zimmern gehaust und bei der Arbeit einen Daumen verloren hatte, als ihm der Hammer ausgerutscht war. Wie er am Ende des Krieges auf einem Frachtschiff nach Europa gefahren war und junge Französinnen gerettet hatte. Und wie er in den Black Hills mit einem Bären gekämpft hatte und in Minnesota zum Ehren-Navajo ernannt worden war.
Dass sich in seinen Geschichten Dichtung und Wahrheit mischten, machte Peter und Mike nichts aus. Wichtig war die Stimme ihres Vaters. Wie oft hatte er betont, dass ein Mann nicht an seinen Worten, sondern an seinen Taten gemessen wird. Nicht ein einziges Mal hatte er Peter gesagt, dass er ihn liebte. Er hatte seinen alten Pick-up beladen und war mit den Jungs zur Jagd gefahren.
Peter wanderte tiefer in den Wald.
Zuckerahorn und Schwarznuss, Roteichen und Hickorybäume. Kalt und schattig war es, auf einer Lichtung plötzlich gleißende Sonne. Es roch nach nasser Erde und faulenden Blättern. Er kam an ein Flüsschen, das über Steine plätscherte, am lehmigen Ufer die braunen Reste von Farnwedeln, hartes Sumpfgras, glitschige graue Kalksteinflächen. Ein Weidenbusch erhob sich anmutig aus braunem Gestrüpp.
Er brach einen Zweig von dem Busch. Der würde sich gut machen in einer Vase auf dem Küchentisch. Später, wenn die Kätzchen verwelkt waren und abfielen, konnten sie ihn als Anmachholz verwenden.
Von der schmalen Brücke konnte er durch das klare Wasser sehen, bis zu den Kieseln auf dem Grund. Gleich hinter der ersten Biegung erspähte er einen ordentlichen Ast, der zur Hälfte im Wasser lag. Er befreite ihn aus den Ranken, die ihn hielten, und zerrte ihn ans Ufer. Dann zertrat er ihn in handliche Stücke. Die Stöcke würden reichen, das Zimmer für eine Viertelstunde zu wärmen.
Der nächste Fund, ein dicker knorriger Ast. Er war schon lange tot, und an einer Seite verlief ein langer Schimmelstreif. Er verströmte muffigen Geruch. Aber er würde reichen, um eine Büchsensuppe warm zu machen.
Ein paar Biegungen weiter kam er in ein Wohngebiet, das anders aussah als ihres. Die Häuser waren groß und lagen weit von der Straße zurück. In einem Garten war ein Swimmingpool, in einem anderen ein Teich. Hinter den Häusern floss der Scioto, ein dunkles Band aus Wasser, das sich in der Ferne verlor. Über der Allee bildeten die langen Zweige von Eichen, Judasbäumen und Robinien ein Dach. Es waren alte Bäume, und sie warfen jede Menge tote Äste ab. Ein echter Glückstreffer. Er sammelte so viele ein, wie er konnte, und stapelte sie rasch auf dem Schlitten, möglichst dicht, damit er ihn hoch beladen konnte. Anschließend streckte er sich.
Auf einer Seite der Straße verlief ein langer Eisenzaun. Das Haus dahinter hatte drei Stockwerke, zwei Schornsteine, Natursteinbögen, einen gepflasterten Hof und seitlich davon Tennisplätze. Das Tor hing schief über der Einfahrt. Es war in der Mitte verbogen, als hätte es jemand gerammt. Ein verstörender Anblick. Auf den Torpfosten hatte jemand mit dicker Farbe einen schwarzen, schräg durchgestrichenen Kreis gemalt. Er sah nicht aus wie eine Graffiti-Schmiererei, sondern wie ein Symbol mit einer feststehenden Aussage. Peter schaute die Straße entlang, aber außer dem kaputten Tor war nichts zu sehen, das auf Vandalismus hindeutete.
«Die sind weg», sagte jemand.
Peter drehte sich um. Auf der anderen Straßenseite stand ein kleines Mädchen. Sie war etwa so alt wie Maddie und wirkte ähnlich ungekämmt.
Jetzt kam sie näher und stapfte über den vereisten Schnee und das tote Gras bis an den Zaun, der ihren Garten einfasste. «Der große Laster hat sie geholt.» Sie legte ihre Finger um die Gitterstangen. Das blonde Haar hing ihr strähnig bis auf die Schultern. Sie trug einen roten Wollmantel mit einem breiten schwarzen Pelzkragen. «Wenn der Laster kommt, muss man sie reinlassen.»
Sprach sie von einem Umzugswagen? Vielleicht hatte der Fahrer zu schnell in die Einfahrt gewollt und dabei aus Versehen das Tor gerammt. Doch das war noch keine Erklärung für den schwarzen Kreis.
«Ach so», sagte Peter.
Sie musterte ihn. «Du darfst nicht reinkommen, hat meine Mutter gesagt.»
Er nickte. «Deine Mutter hat recht.»
«Amelia!»
Eine Frau lief über den großen Rasen auf ihn zu. Als sie das kleine Mädchen erreichte, packte sie es am Arm und riss es vom Zaun fort. Sie kauerte sich vor ihre Tochter und strich ihr über den Mantel. «Haben Sie sie angefasst?», fragte sie Peter. Sanft schüttelte sie Amelia. «Schatz, hat er dich berührt?»
«Das würde ich nie tun», antwortete Peter an ihrer Stelle.
Die Frau stand auf und funkelte ihn böse an. «Schämen Sie sich. Sie sollten es besser wissen.»
Wie sie so dastand, von gerechtem Zorn erfüllt, ihrer Überzeugungen unumstößlich sicher, schlich sich, ehe er sich dagegen wehren konnte, ein verräterischer Gedanke in seinen Kopf. Sie war genau wie Ann.
Wie konnte man sich nur weigern, ein Baby zu retten?