SECHZEHN

Ann betrat die Küche mit vollen Armen. Es schneite wieder, aber diesmal tanzten die Flocken nicht schwerelos, sondern sanken aus einem kalten, weißen Himmel unerbittlich zu Boden. Sie legte die Packungen auf der Küchentheke ab. «Peter, kannst du den Grill anwerfen?»

Peter füllte den Inhalt des Kühlschranks in Beutel um, die zu seinen Füßen lagen. «Es ist noch keine zwölf.»

«Ich weiß. Aber wir müssen das Fleisch garen, damit es nicht verdirbt.» Wenn es warm wurde, bevor sie wieder Strom hatten, wäre alles hinüber.

Er nickte. «Gut, mach ich. Bring mir nach und nach alles raus.»

Sie dankte dem Himmel, dass er da war. Die Probleme im Haus nicht ganz allein angehen zu müssen war ungemein beruhigend.

«Kate sagt, das Licht geht auch nicht.» Maddie saß am Tisch, den Löffel zwischen Mund und Joghurtbecher. Sie war in Pullover und Handschuhe eingemummt, mit einem pinkfarbenen Schal um den Hals, dessen Enden über ihren Rücken fielen.

«Mach dir keine Sorgen.» Peter zog den Mantel über. «Mom hat jede Menge Kerzen.»

Nein, die hatte Ann nicht. Sie hatte bloß zwei Schachteln Wachskerzen für die Kerzenleuchter im Esszimmer, eine seltsame Sammlung, die Peters Mutter ihr aufgezwungen hatte, als sie ins Seniorenheim ging, und einen Haufen Teelichter, die von Halloween übrig waren.

«Hast du noch genug Feuerholz?» Peter zog eine Schublade auf und nahm eine Streichholzschachtel heraus.

«Ich glaube schon.» Sie hatte den Vorrat, den er vor seinem Auszug angelegt hatte, überhaupt nicht angerührt. Das Holz lag noch genauso da, wie er es hinterlassen hatte, unter einer Plane hinten im Garten.

«Gut. Ich bringe nachher gleich ein Feuer in Gang.» Er zwinkerte Maddie zu, schob die Glastür auf und trat in das Weiß hinaus.

Kate kam in die Küche geschlurft und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. In ihrem schwarzen Rollkragenpullover und mit tief in die Stirn gezogener Mütze war sie ein Bild der Trauer. «Will es denn nie wieder aufhören zu schneien?»

«Dad sagt, wir müssen Schnee schieben», verkündete Maddie zu ihrer Begrüßung, offensichtlich voller Genugtuung darüber, mit einer schlechten Nachricht auftrumpfen zu können.

Kate funkelte sie böse an. «Lass mich in Ruhe.» Sie griff nach dem Joghurtbecher an ihrem Platz und machte ein angeekeltes Gesicht. «Ich hasse Joghurt.»

«Ich weiß.» Ann wickelte ein Rippenstück aus. «Aber iss ihn trotzdem.» Das Haltbarkeitsdatum war zwar schon eine Woche überschritten, aber der Joghurt war noch völlig in Ordnung. In ein paar Tagen würde er ungenießbar sein.

«Ich hätte meinen iPod gestern Abend aufladen sollen. Der Akku ist leer.» Kate entfernte den Foliendeckel. «Der von meinem Handy auch.»

Kate war den ganzen Vormittag durchs Haus gelaufen, hatte ihren Laptop aufgeklappt und auf den schwarzen Bildschirm gestarrt, ihren Fön in die Hand genommen und mit einem Stöhnen wieder auf die Kommode im Bad fallen lassen, als hoffte sie, die Geräte durch schiere Willenskraft zum Laufen zu bringen.

«Du kannst das Telefon im Hobbyraum benutzen.» Ann legte den Braten hin und griff nach dem nächsten Paket.

Wie erleichtert war sie gewesen, als sie den Hörer abgenommen und das Freizeichen gehört hatte. Auch wenn der Hobbyraum nicht eben der bequemste Ort für ihre einzige Leitung zur Außenwelt war. Sie würde das Telefon nachher im Wohnzimmer einstöpseln müssen.

«Echt?» Kate sah sie misstrauisch an. «Wieso?»

«Wir haben Glück. Wir haben nie auf digital umgestellt, deshalb geht die alte Leitung noch.»

«Was heißt das?», wollte Kate wissen.

Ann riss eine Packung auf und fand Schweinekoteletts darin. «Um die Wahrheit zu sagen, habe ich nicht die geringste Ahnung. Aber dein Vater wird’s dir wahrscheinlich erklären können.»

«Und würde Micheles Telefon dann auch funktionieren?»

«Das musst du ausprobieren.» Innerlich drückte sie die Daumen.

«Vergiss nicht, deinen Freund anzurufen», meinte Maddie gehässig.

Kate tauchte ihren Löffel in den Joghurt. «Ich hab dir doch schon gesagt, lass mich in Ruhe.»

«Moment mal.» Maddie sah Ann an. «Was ist mit dem Fernseher? Haben wir da auch einen, der geht?»

«Nein, mein Schatz. Das ist leider etwas anderes.» Ann schnitt die dünne Folie auf und kippte die Koteletts in eine Schüssel.

«Ach so.» Maddies Stimme war von Enttäuschung getrübt.

Ann sah, wie sie in ihren Becher starrte und sich bemühte, nicht zu weinen. «Weißt du, du willst doch sonst immer Monopoly spielen, oder?» Ein Spiel, das ewig dauerte, wenn man es mit einer Achtjährigen spielte.

Maddie zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken.

«Heute würde ich mit dir spielen», versprach Ann.

Kate verdrehte die Augen, aber Maddie richtete sich auf. «Au ja!»

«Wir können alle spielen.» Sie konnten zwei Mannschaften bilden. Das würde den Mädchen gefallen. «Ich kümmere mich vorher bloß noch um die Lebensmittel, okay?» Ann drehte sich um und stieß beinahe mit Shazia zusammen.

«Entschuldigung.» Shazia balancierte einen Stapel eingeschweißter Hähnchenbrüste und Hackfleisch in ihren Armen. «Das ist jetzt alles.» Sie lud ihre Last vorsichtig auf der Arbeitsfläche ab.

Noch vor ein paar Tagen waren Ann die Fleischvorräte so reichlich erschienen. Immer wenn sie den Gefrierschrank öffnete, hatte sie beruhigt auf die gefüllten Schubfächer geschaut. Doch als jetzt alles vor ihr ausgebreitet lag, wirkte die Menge armselig. Nun ja, aus den Knochen konnte sie Brühe kochen. Das Fett konnte sie zum Braten weiterverwenden. Und irgendwann würden die Geschäfte wieder aufmachen. Dafür würde die Stadt sorgen. Anns Familie war nicht die einzige, die zusah, wie ihre Vorräte schwanden.

«Soll ich den Gefrierschrank ganz leer machen?», fragte Shazia.

Je weniger die Tür geöffnet wurde, desto kälter würde der Inhalt bleiben. Leider mussten sie aber auch herausfinden, wann die Sachen nicht mehr gut waren. Fleisch würde vergammelt riechen. Eis würde eine pelzige Oberfläche bekommen, aber woran erkannte man, dass Erbsen schlecht wurden? Sie würde eine neue Regel aufstellen – niemand außer ihr durfte an den Gefrierschrank gehen. «Ich glaube, wir lassen die Sachen lieber drin. Aber du könntest Peter dabei helfen, die Sachen, die er aus dem Kühlschrank geholt hat, zu verstauen.»

«Ist gut.» Shazia nahm zwei Beutel und drückte die Tür nach draußen mit dem Ellbogen auf.

«Hört zu, ihr zwei. Wir schlafen heute Abend alle hier unten. Ich lege die Luftmatratzen aus. Euer Vater macht nachher Feuer im Kamin.»

«Warum können wir nicht in unseren Zimmern schlafen?», fragte Kate.

«Da oben wird es zu kalt sein. Wir machen es uns hier unten gemütlich, das verspreche ich. Aber du wirst nicht im Bett lesen können, Kate, tut mir leid, Schatz.»

Ann drehte den Hahn auf und wusch sich die Hände.

«Warum kann ich nicht mit der Taschenlampe lesen?», fragte Kate.

«Wir müssen Batterien sparen.»

Maddie leckte ihren Löffel ab. «Was heißt das?»

«Das heißt, dass gar nichts mehr geht», murmelte Kate böse. «Nicht mal dein CD-Spieler. Und dein Gameboy auch nicht.»

Maddie sah Ann an. «Ist das wahr?»

«Hey», sagte Ann betont munter, während sie sich die Hände abtrocknete. «Wir werden das schon hinkriegen. Wir hatten schon mal einen Stromausfall. Wisst ihr noch?» Aber nicht so. Noch niemals so. «Bestimmt geht der Strom jeden Moment wieder an. Bis dahin machen wir Party. Mal ehrlich, wie oft dürft ihr unten im Wohnzimmer schlafen?»

«Jippie.» Kate erhob sich vom Tisch und kam mit dem Joghurtbecher auf sie zu. Ann legte ihr besänftigend eine Hand auf den Arm. Kate verdrehte die Augen und hielt ihr den Becher hin.

Er war sauber ausgekratzt. «Gut gemacht.» Ann legte ihrer Tochter prüfend die Hand an die Stirn und strich ihr dann mit den Fingerrücken über die blasse Wange. «Wie geht es dir?»

«Mir ist kalt.»

Gott sei Dank war das alles. Sie hatte kein Fieber und keine Kopfschmerzen. Ann umarmte sie. «Dad macht bald Feuer.»

Kate entzog sich ihrer Umarmung und warf den Joghurtbecher in den Müll. «Kann ich Michele jetzt anrufen?»

«Ja, natürlich. Und wenn uns jemand erreichen will, dann nimm bitte den Anruf an.»

Maddie kam mit ihrem Löffel und ließ ihn in die Schüssel mit dem Spülwasser fallen. «Können wir jetzt Monopoly spielen?»

«Jetzt noch nicht, Liebes. Kannst du nicht noch ein bisschen lesen?» Die Hähnchenbrüste waren noch hartgefroren. Sie würde sie auftauen müssen, um die Folie ablösen zu können. Sie ließ Wasser ins Spülbecken ein.

«Aber ich lese schon die ganze Zeit. Ich habe keine Lust mehr zum Lesen.»

Ann hatte als Kind stundenlang gelesen. Für sie war es der Himmel, abends lange aufzubleiben und, während das Haus der Nacht entgegentickte, beim gemütlichen Licht ihrer Lampe zu lesen, bis ihre Mutter durch den Flur rief: «Jetzt wird es aber Zeit, dass du schläfst, Annie.»

«Wie wäre es denn mit Kartenspielen?» Ann legte die Packungen mit dem Hähnchenfleisch ins kalte Wasser und stellte einen schweren Topf drauf, damit sie unten blieben.

«Es ist keiner da, der mit mir spielt.»

Da hatte sie recht. Ann griff auf den einzigen Vorschlag zurück, der immer zog. «Dann mal doch was.»

«Okay.» Seufzend schlurfte Maddie aus der Küche. «Kann ich meine Filzstifte mit nach unten bringen?»

«Ja, klar.» Ann schob die Tür auf und wurde von einer Kälte empfangen, die ihr den Atem nahm. Peter reichte der Schnee bis gut über die Knie, er war dabei, den Grillrost mit einer Stahlbürste zu reinigen. «Hier ist die nächste Ladung.» Sie hielt ihm die Platte mit dem Hähnchenfleisch hin. «Drinnen ist noch mehr.»

Er nickte geistesabwesend. Vermutlich war er in Gedanken wieder bei seinen Tests. Hatte er wirklich eine heiße Spur gehabt? Hätte die Arbeit vielleicht tatsächlich etwas gebracht? Sie würden es nie erfahren.

Sie kehrte in die Küche zurück und ging zum Kühlschrank, hob die Beutel auf, die noch auf dem Boden lagen, und schloss die Tür. Nun war das Gerät bloß noch eine große, leere, teure Kiste.

In der Garage war es eiskalt. Sie zog sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf und suchte sich vorsichtig einen Weg zwischen den merkwürdigen Formen hindurch, die im Halbdunkel lauerten. Fahrräder, Schlitten, Rasenmäher. Hinten in der Ecke unter dem kleinen Fenster hockte Shazia und verstaute Lebensmittel in einer großen Kiste, die Ann vorhin leer gemacht hatte.

«Soll ich das Garagentor öffnen, damit du mehr sehen kannst?»

«Nein, es geht schon so.» Shazia nahm ihr die Beutel ab.

Sie klapperte mit den Zähnen. Ihr Pullover war nicht dick genug, um sie warm zu halten. «Shazia, du frierst. Geh ins Haus. Ich mache den Rest.»

«Nein, es geht schon. Ich bin fast fertig.»

Ann fiel auf, dass sie das Mädchen nie in etwas anderem als Blusen und dünnen Pullis gesehen hatte. Sie hätte eher darauf kommen müssen. Shazia hatte sich ja auch Peters Wintersachen leihen müssen. Wahrscheinlich traute sie sich nicht, um mehr zu bitten. «Hast du keine wärmeren Sachen?»

Shazia betrachtete ihren Pullover. «Mir war nicht klar, wie kalt es hier wird.»

«Wir schauen mal in meinen Schrank.» Anns Sachen würden ihr nicht passen. Shazia war zu lang und dünn, aber sie würden schon irgendwas finden.

«Ja gerne, danke.» Shazia faltete eine Plastiktüte zusammen und griff nach der nächsten.

Drinnen kniete Maddie vor dem Kasten mit den Filzstiften und kramte darin herum. «Hallo, Mom, da bist du ja. Kate hat nach dir gerufen. Libby ist am Telefon.» Sie zog den Deckel von einem Stift und schmierte etwas auf ein Blatt Papier. «Die sind alle ausgetrocknet, Mom.»

«Guck mal in die Kisten mit meinen Sachen für die Schule.»

Im Hobbyraum hielt Kate ihr den Hörer hin und machte ein ungeduldiges Gesicht. «Ich hatte gerade Michele am Apparat.»

Dann waren also auch Michele und ihre Familie telefonisch zu erreichen. Gott sei Dank. Wenigstens etwas. «Ich sag dir Bescheid, wenn ich fertig bin. Du kannst solange bitte überall die Kissen von den Betten einsammeln und ins Wohnzimmer bringen.» Ann nahm den Hörer ans Ohr. «Hey. Wie geht’s euch da drüben?»

«Ist das zu glauben?» Libby klang, als wäre sie den Tränen nahe. «Gerade wollte meine Mutter kommen, da haben sie diese blöde … Quarantäne verhängt.»

«Das ist ja wirklich zu dumm.»

«Ich meine, wie wollen sie denn die Leute am Reisen hindern?»

Ann lehnte sich an den Schreibtisch. Der Bildschirm von Peters Laptop war noch hoffnungsvoll geöffnet. Sie drückte ihn zu. «Indem sie auf sie schießen.»

«Na, hör mal! Dies ist Amerika, nicht irgendein Land in der Dritten Welt.»

«Doch, Libby, das werden sie tun. Das Risiko ist zu groß.»

Libby stieß zitternd die Luft aus. «Wie sieht es bei euch aus?»

«Mein Vater hatte eine schlechte Nacht. Er hustet wieder. Aber wenigstens haben sie Strom.»

«Schön zu wissen, dass es irgendwo zivilisiert zugeht.»

«Ich weiß nicht, wie zivilisiert es da zugeht. Bei Beth hat jemand eingebrochen, während sie bei der Arbeit war. Die Polizei ist nicht mal gekommen, um die Sache zu Protokoll zu nehmen. Sie haben ihre Anzeige bloß über Telefon aufgenommen.»

«O Gott, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Was ist, wenn hier eingebrochen wird? Wir haben keine Schusswaffe. Wir haben überhaupt nichts

«Libby, reg dich ab. Hier wird keiner einbrechen.» Anns Blick schweifte trotzdem zum Fenster. Natürlich war da draußen niemand. Das war doch Unsinn.

«Ich habe es so satt, Ann. Ich will bloß eine heiße Tasse Tee und in Ruhe meine Zeitung lesen, ohne eine Schreckensnachricht nach der anderen zu bekommen.»

«Ich weiß. Na, wenigstens haben wir noch das Telefon.»

«Sonst würde ich durchdrehen.» Im Hintergrund ertönte gedämpftes Rufen. Libby seufzte. «Ich muss Schluss machen. Smith braucht irgendwas. Wahrscheinlich hat er mal wieder vergessen, wie man eine Windel wechselt.»

Ann lächelte. Libby klang schon besser. «Ich ruf dich nachher nochmal an.»

 

Im Keller war es stockfinster. Ann tastete automatisch nach dem Lichtschalter, doch auf halbem Weg hielt sie inne. Sie trat in den Heizungskeller und wartete darauf, dass ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten. Nichts. Sie konnte nicht einmal schwache Umrisse erkennen. Alles war schwarz. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie gegen einen Widerstand stieß. Sie beugte sich mit ausgestreckten Händen vor und berührte die glatte Oberfläche einer Kiste. Sie nahm den Deckel ab und spürte Metall und festen Stoff unter ihren Händen. Am Zelt vorbei griff sie tiefer ins Innere der Kiste und fand etwas Geripptes, das sich nach Gummi anfühlte. Sie zog es heraus und ließ es neben sich fallen. Darunter musste noch so ein Ding liegen, und, siehe da, so war es. Sie wischte Staub und ein klebriges Spinngewebe beiseite und hoffte, dass die Spinne, von der das Netz stammte, sich inzwischen verzogen hatte. Vorzugsweise in ein anderes Sonnensystem.

Nachdem sie beide Luftmatratzen hochgeschleppt und im Wohnzimmer nebeneinander ausgelegt hatte, pumpte sie sie mit der Handpumpe auf. Auf jede passten zwei Personen. Sie waren fünf. Einer von ihnen würde auf dem Sofa Platz finden. Die Familie konnte auf dem Boden schlafen. Maddie und Kate innen, und die beiden Eltern außen. Shazia konnte auf dem Sofa schlafen. Es war lang genug, und sie war schlank.

Sie lief noch einmal in den Keller und grub ihre gesammelten Schlafsäcke aus: die beiden bunten, mit Comicfiguren bedruckten von den Mädchen, die sie zu Partys mitnahmen, bei denen die ganze Gesellschaft übernachtete, die beiden robusteren von vor Urzeiten, als sie mit Peter in West Virginia gezeltet hatte, und den alten schwarzen aus Peters Studienzeit, den sie ihm wirklich endlich mitgeben sollte. Na ja, jetzt war es praktisch, dass er noch da war.

Oben im Wohnzimmer zog sie die Reißverschlüsse auf und breitete die Schlafsäcke auf den Matratzen aus. Den letzten legte sie für Shazia aufs Sofa. Nun musste sie noch die Decken von den Betten oben holen. Als sie wieder nach unten kam, saß Maddie am Küchentisch.

«Na, Mom.»

«Na, du.»

Sie breitete die Bettdecken in Schichten über die Schlafsäcke, legte die oberen Kanten um und stopfte sie unter, schüttelte die Kissen auf und verteilte sie an den Kopfenden. Als alles fertig war, richtete sie sich auf und begutachtete ihr Werk. Es sah gemütlich aus. Aber die großen Fenster waren ein Problem. Sie spürte schon jetzt, wie die Kälte hereindrang. Sie würde sie noch irgendwie abdichten müssen. Mit Plastikfolie und Isolierband.

«Das sieht aber schön aus», sagte Maddie.

Lächelnd drehte sich Ann zu ihr um.

Maddie hatte einen Pinsel in der Hand. Keinen dünnen Plastikpinsel mit buntem Griff, sondern einen dicken Pinsel mit Holzgriff. Ja, er sah genauso aus wie der wahnsinnig teure Zobelpinsel, den Peter ihr zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Eigentlich konnten sie ihn sich nicht leisten, aber sie hatte ihn auch nicht wieder hergeben mögen. Mit diesem Pinsel hatte sie ihr erstes Aquarellbild gemalt, mit dunklen, satten Violetttönen bis hin zu üppigem Grasgrün.

Ann atmete tief durch. «Wo hast du den her?»

Maddie drückte den Pinsel aufs Papier und drehte. «Aus der Schachtel.»

«Aus welcher Schachtel?»

«Unten.»

«Im obersten Regal?»

«Mm-hm.»

Mit wenigen Schritten war Ann bei ihr. Sie riss ihr den Pinsel aus der Hand und tauchte ihn in den Wasserbecher.

«Mom, was machst du da? Wie soll ich weitermalen?»

Überall auf dem Tisch lagen verdrehte Farbtuben und mitten drunter eine Plastikpalette mit den Spuren der Farben, mit denen Ann vor Jahren zuletzt gemalt hatte. Sie konnte ihren Anblick nicht ertragen. «Hast du die andere Schachtel auch aufgemacht?»

«Nein.»

Ann griff nach der Tube Aquamarin und schraubte den Deckel zu. Auch das Umbra war offen und das Ebenholzschwarz. «Du hättest mich fragen müssen.» Sie hatte den Karton mit Klebestreifen verschlossen. Maddie hatte ihn abreißen müssen, um an die Farben zu kommen, deswegen hätte sie wissen müssen, dass sie in der Schachtel nichts zu suchen hatte. «Die sind nichts für dich.» Anns Stimme bebte vor Zorn.

«Für wen denn?», fragte Kate von hinten.

«Für mich.» Es schien nichts kaputt zu sein. Sie würde die Schachtel wieder zukleben und hinten im Schlafzimmerschrank verstecken.

Maddie schob ihren Stuhl zurück. «Aber du benutzt die Sachen nie. Warum kann ich sie dann nicht haben?»

Das Malen hatte Ann so viel Freude gemacht, aber es gehörte zu einer anderen. Die Frau, zu der sie geworden war, ertrug es nicht, die Sachen anzusehen.

«Halt’s Maul», sagte Kate. «Sie hat’s dir doch gerade gesagt.»

«Mom, sie hat ‹Halt’s Maul› zu mir gesagt.»

Doch Ann hörte sie nicht.

 

«Nicht weggehen, Mom», sagte Maddie.

«Nein, mein Schatz, ich bleib hier.» Ann hielt die rotweiß geringelte Kerze auf dem Teller. Sie gab gerade genug Licht, dass sie etwas sehen konnten.

Maddie zog sich das Nachthemd über den Kopf. «Bist du noch da?» Ihre Stimme klang gedämpft durch den Flanell.

«Ja, ich bin da.»

Maddie steckte den Kopf durch das Kopfloch und griff nach ihrem Morgenmantel.

«Siehst du», sagte Ann. «Hier bin ich.»

Das Kerzenlicht warf Schatten auf Maddies Gesicht, umspielte ihre runden Wangen, ließ ihre Augen groß und wachsam wirken. Ann stellte die Kerze ab und half ihrer Tochter in den warmen Morgenmantel. «Schön siehst du aus», sagte sie und band den Gurt fest zu. «Wie eine Prinzessin.» Sie hielt ihr den Arm hin. «Seid Ihr bereit, Majestät?»

Maddie kicherte, und Ann wurde warm ums Herz.

Eingehakt gingen sie die Treppe hinunter. Unten tanzten die Flammen im Kamin. Das Zimmer wirkte warm und gemütlich. «Siehst du?», sagte sie zu Maddie. «Wie beim Zelten. Bloß ohne Bären.»

Sie richteten sich auf den Luftmatratzen ein, die Mädchen in der Mitte, Ann und Peter außen. Shazia rollte sich auf dem Sofa zusammen. Auf dem Tisch in der Ecke flackerte die Kerze. Ann würde noch warten müssen, bis Maddie richtig lag, bevor sie sie auspusten konnte.

«Mir ist k-kalt», jammerte Kate. «Wann kriegen wir denn endlich wieder Strom?»

Peter sagte: «Bestimmt arbeiten sie auf Hochtouren daran.»

«Dann also morgen?»

«Hoffentlich.» Ann zog Kate die Decken bis ans Kinn. «Die alten Siedler sind prima ohne Strom ausgekommen.»

«Wir sind aber keine alten Siedler», sagte Kate. Sie rollte sich auf den Rücken, von Ann weg.

«Wer ist das?», wollte Maddie wissen.

«Das sind die Pioniere, die den Westen besiedelt haben», sagte Ann.

«Ach so. Menschen von früher.»

«Genau.»

Das Feuer knisterte. Kate starrte stur an die Decke. Maddie kuschelte sich an Ann. Ann legte den Arm um sie und beugte sich hinunter, um ihre Tochter auf die weichen Pausbäckchen zu küssen. Sie würde Maddie einen eigenen Tuschkasten kaufen. Im März wurde sie neun, das war nur noch drei Monate hin. Sie konnte die Farben zum Geburtstag bekommen. Dann würde bestimmt längst wieder Normalität herrschen.

«Also, Maddie», sagte Peter. «Was würdest du lieber machen?»

Maddie hob den Kopf.

«Würdest du lieber mit einem fliegenden Teppich fliegen oder einem Kobold die Hand schütteln?»

Lächelnd wartete Ann auf die Antwort ihrer Tochter.

«Könnte ein fliegender Teppich mich überallhin bringen, wohin ich will?», fragte Maddie.

«Na klar», sagte Peter.

«Auch nach Disney World oder zu Toys’R’Us?»

«Sicher.»

«Ich glaube, ich würde lieber einem Kobold die Hand schütteln, dann könnte ich ihn fragen, wo das Ende des Regenbogens ist.»

Das war typisch Maddie, erst mal um die Ecke zu denken und dann eine ganz eigene Lösung zu finden. Ann lächelte.

Maddie sagte: «Kate?»

Kates Stimme war vom Kissen gedämpft. «Was?»

«Würdest du lieber ein Lexikon lesen oder in Unterwäsche zur Schule gehen?»

«Das ist beides doof. Blödes Spiel.»

«Ach, Kate», sagte Maddie. «Mach doch mit.»

«Lass sie ruhig.» Ann streckte die Hand über Maddie hinweg und rubbelte Kates Rücken. «Sie braucht nicht mitzumachen.»

Kate schüttelte Anns Hand ab und rollte sich weg.

«Aber ich will», sagte Maddie. «Dad?»

«Ja-a?», brummte Peter mit tiefer Stimme.

Maddie kicherte. «Würdest du lieber eine Tasse Zucker essen oder einen sechsten Zeh haben?»

«Hmm. Schwer zu sagen. Ich glaube, ich würde den Zeh nehmen. Und du, Maddie? Wärst du lieber dreißig Zentimeter oder drei Meter groß?»

«Öh, drei Meter.»

«Drei Meter sind Mist», sagte Kate. «Du würdest mit dem Kopf an die Decke stoßen.»

«Ich dachte, du spielst nicht mit», sagte Maddie. «Shazia? Würdest du lieber zu Fuß rückwärts um die Welt gehen oder durch alle Meere schwimmen?»

«Oh. Also, ich schwimme gern. Darf ich das sagen?»

«Es gibt keine Regeln. Du kannst sagen, was du willst.»

«Gut.»

«Dann bist du jetzt dran. Du musst eine Frage stellen. Frag Mom was.»

«Mir fällt nichts ein.»

Die Glut leuchtete rot im Dunkeln. Im Kamin krachte es leise, als ein Holzscheit mit einem Funkenregen in sich zusammenfiel. Ann stützte sich auf und blies die Kerze aus. Der warme Geruch nach verbranntem Docht zog durch das Zimmer.

«Ich hab eine Frage», sagte Kate. «Würdest du lieber ewig leben oder ein anderes Leben retten?»

«Wen fragst du?», wollte Maddie wissen.

«Mom.»

Ann ließ sich auf ihr Kissen fallen. Worauf wollte Kate hinaus? «Das ist eine schwere Frage. Da muss ich erst mal nachdenken.» Aber sie konnte nicht darüber nachdenken. Sie wollte es nicht.

«Käme es nicht darauf an, um wessen Leben es geht?», fragte Shazia.

«Nicht unbedingt», sagte Peter.

Ann spürte seinen Blick über die Kinder hinweg. Wie meinte er das?

«Das ist egal», sagte Kate. «Ich meine einfach irgendwen. Hitler.»

«Oder den Weihnachtsmann», sagte Maddie. «Würdest du den Weihnachtsmann retten?»

«Oder einen besoffenen Obdachlosen, wie wäre das?», fragte Kate. «Mom?»

Maddie gähnte. «Ich wette, morgen haben wir wieder Strom.»

«Träum weiter», sagte Kate, doch hatte ihre Stimme keinen Biss mehr. Auch sie war müde.

Ann lag im Dunkeln und starrte an die Decke. Nach einer Weile seufzte Shazia, und Ann schloss daraus, dass nun auch sie eingeschlafen war. Das Feuer ging aus, und im Zimmer wurde es pechschwarz.

Ihr Sohn würde nicht William genannt werden wollen, sondern Will. Er würde neben Peter sitzen und genau beobachten, wie sein Vater das Feuerholz stapelte. Schon am nächsten Tag würde er es selbst können. So, das hätte geklappt, würde er sagen und ein großes Stück Holz in den Kamin hieven. Sich die Hände an den Hosen abwischen. Lass mich mal dahin, Mom. Ich muss das Gitter vormachen.

«Ann», flüsterte Peter.

Sie wusste, was er dachte. Dass ihre Gedanken um nichts anderes kreisten. Sie drehte sich auf die Seite und starrte weiter in die Finsternis. Sie hatte ihre Chance, jemand anderem das Leben zu retten, gehabt. Und wie es ausgegangen war, wussten sie beide.

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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