DREIUNDVIERZIG

War es der dritte Tag oder der vierte? Peter wusste es nicht. Er versuchte eine bequemere Lage zu finden, die Kissen und Decken so zu sortieren, dass seine Glieder weniger schmerzten. Die Wirkung des Ibuprofen ließ nach.

Die Sonne warf schräge Schatten an die Wände. Er konnte nicht ausmachen, ob es die ersten Morgenstrahlen waren, die über die Fensterbank krochen, oder die letzten am Nachmittag. Die Tür ging knarrend auf, und er drehte den Kopf. Ann kam ins Zimmer. Sie war wieder so lächerlich kostümiert, mit der weißen Maske und der Schutzbrille, die Haare unter der geblümten Duschkappe versteckt, dazu rosa Handschuhe und ein Hemd von ihm, das sie rückwärts trug.

«In dem Aufzug wirst du nie einen Mann finden.»

Sie lächelte, die Maske verschob sich ein wenig. «Wie gut, dass ich dich habe und du nicht weglaufen kannst.» Sie zog einen Stuhl ans Bett und nahm Platz. «Du hast deinen Saft nicht ausgetrunken.»

Er leckte sich über die Lippen. Sein Mund war trocken. Sie hielt ihm das Glas an den Mund. Der Saft war köstlich. Er schluckte.

«Meinst du, dass du diese Tabletten schlucken kannst?» Sie streckte ihm die Hand hin.

Er versuchte ihr die kleinen weißen Pillen abzunehmen, aber er bekam sie nicht zu fassen. Sie hielt ihm eine an die Lippen, und er öffnete den Mund, damit sie sie ihm auf die Zunge legen konnte. Er versuchte sie runterschlucken, musste aber würgen und spuckte sie in ihre Hand.

«Warte», sagte sie.

Sie zerdrückte die Tabletten mit dem Boden des Glases und fegte das weiße Pulver anschließend hinein. Langsam rieselte es durch den Saft.

«Was machen die Mädchen?»

«Sie spielen Poker. Maddie gewinnt. Kate ist entschlossen, sie vernichtend zu schlagen. Sie zanken sich schon den ganzen Morgen.»

«Nein, ich meine, wie geht’s ihnen?»

Sie sah ihn an. «Prima.»

«Gut.»

Sie tauchte den Strohhalm in den Saft, hielt ihn mit einem Finger oben zu und führte ihn an seinen Mund. Gehorsam machte er den Mund auf, und sie tröpfelte ihm die süße Flüssigkeit auf die Zunge.

«Der wievielte Tag ist heute?»

«Der fünfte.»

«Gut», krächzte er.

Wieder ein Strohhalm voll Saft. Sie sah ihn erwartungsvoll an. Sie wollte etwas. Was wollte sie? Sie hielt ihm ein Papiertaschentuch hin.

Er hustete, und sie hielt ihm das Taschentuch vor den Mund.

«Was machst du für ein Gesicht?», sagte er. «Was hast du?»

«Unser Wasser riecht irgendwie komisch.»

«Dann dürft ihr es nicht trinken. Vielleicht hat das Wasserwerk … was beigefügt, damit man erkennt, dass es nicht gut ist.»

«Kann ich es nicht abkochen?»

«Das tötet die Bakterien … aber wer weiß, was mit den Chemikalien ist.» Das Reden strengte seine Lunge an, und er lehnte sich keuchend zurück.

Sie warf das Taschentuch weg, irgendwo neben das Bett. Wie viele Taschentücher hatte er verbraucht? Wo kamen sie alle hin? Der Teppich musste von einer weißen Flut überschwemmt sein, eine weiße Woge würde aufsteigen und sein Bett davontragen.

«Dem Baby scheint es auch gutzugehen», sagte sie. «Vielleicht ist es wirklich immun.»

Dem Baby ging es gut. Wie konnte das sein? Sie hatten es doch schon vor so langer Zeit verloren. Er erinnerte sich an das Gefühl, ihn in den Armen zu halten, an das runde Köpfchen und die ruhigen blauen Augen. Diese Erinnerungen konnte die Zeit nicht auslöschen, auch wenn ihm die Tage jetzt verschwammen. Er wusste noch genau, wie er sich an den Feuerwehrleuten und Rettungssanitätern vorbeigedrängt und Ann gefunden hatte, wie sie auf den Stufen saß und die kleine Kate umschlang und sie um keinen Preis loslassen wollte. William war tot. Und von da an war es nie wieder so gewesen wie vorher.

Sie tröpfelte ihm mehr Saft auf die Zunge. «Barneys Wunde scheint zu heilen. Auch wenn er mich nicht nahe genug heranlässt, damit ich seinen Verband wechseln kann.»

Er hatte Mühe, ihr zu folgen. War Barney ein Freund oder ein Nachbar? Ein Verwandter von ihr? Als sie sich zu ihm herunterbeugte, waren auf einmal zwei Anns da. Doch als sie sich aufrichtete, wieder nur eine.

«Ich glaube, er mag mich nicht. Du kannst viel besser mit Tieren umgehen.»

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Köter. Das arme Tier, das sich zu dem Haus geschlichen hatte, das sein Zuhause gewesen war, und zu seinem Herrchen, das es nur noch durch das Fenster sehen konnte.

Jetzt hielt Ann ihm eine Stoffeule vor die Nase. Er blinzelte, um sie besser sehen zu können. Sie wollte, dass er sie reparierte, wieder heil machte. Der blassbraune Körper baumelte schlaff in der Luft, die großen schwarzen Augen blickten starr. Aber sein Spezialgebiet waren Zugvögel. Das musste Ann doch wissen.

«Von Kate. Sie will, dass du sie bei dir hast.» Sie setzte die Eule auf den Nachtschrank.

Er hatte nicht mitbekommen, dass sie sie mit ins Zimmer gebracht hatte. War sie gerade noch einmal hereingekommen? War sie rausgegangen und wiedergekommen? Er versuchte sich das Hemd, das sie trug, genauer anzusehen. Es war gestreift. Hatte sie das vorhin auch angehabt?

«Die habe ich ihr doch geschenkt.»

Ann zog die Brauen zusammen. Er hatte etwas Falsches gesagt. Dann glättete sich ihr Gesicht wieder, und sie lächelte. Das Unglück war verflogen. Er war erleichtert.

«Das stimmt, Schatz», sagte sie. «Du hast ihr erklärt, dass Eulen Nachttiere sind.»

Die Eule sollte sie beschützen, wenn sie schlief. Kate hatte früher vor Angst nicht einschlafen können, und da hatte er sich das einfallen lassen, damit sie ruhiger wurde. Er erinnerte sich an die schwülwarmen Julinächte, in denen sie zu dritt unter einem Ventilator gelegen hatten, ohne sich zuzudecken. Kates kleine Finger hatten sich in seine Hand gekrallt, während er ihr erklärte, dass die Sterne ihnen nicht vom Himmel auf den Kopf fallen würden und dass in den Schränken keine Gespenster wohnten, die sie beobachteten.

Er hörte seine Töchter irgendwo spielen. Eine von ihnen sang. Er musste daran denken, wie Ann beim Malen gesungen hatte, schief, und immer wieder dieselbe Melodie. Er sehnte sich danach, es noch einmal zu hören.

Jetzt hatte sie eine Schüssel. Dampf stieg daraus auf. Im Zimmer war es dunkel. Wieder war Zeit vergangen. Mühsam versuchte er sich aufzurichten.

«Hunger?», fragte sie, tauchte einen Löffel in die Schüssel und führte ihn an seinen Mund.

Er wollte, dass sie wegging. Er warf die Decke von sich, sie stand da und griff nach seinem Arm. Er schüttelte sie ab. Bei der Bewegung schoss ihm ein Schmerz durch den Kopf und bohrte sich wie ein Messer zwischen seine Augen. Er musste zur Toilette, schnell. Seine Beine waren steif. Das Zimmer drehte sich um ihn. Er fiel gegen die Wand, die Hand zur Tür gereckt.

«Nein, Schatz», sagte Ann. «Hier, komm.»

Vor ihm gähnte die Öffnung zum Flur. Er schaffte es ins Bad und übergab sich in die Toilette. Er fiel auf die Knie und hielt sich am kalten Porzellan fest. Wieder hustete er und übergab sich.

Ann half ihm zurück ins Bett. Sie hob die Decken mit Schwung hoch und deckte ihn sanft zu. Sie legte ihm eine Hand in den Nacken, damit er den Strohhalm erreichen konnte. Er schloss die Augen. Er liebte sie so sehr. Mehr als jemals zuvor. Ob sie das wusste?

«Ach, Peter», sagte sie. Sie betupfte ihm die Stirn mit einem kühlen Waschlappen. «Ich liebe dich doch auch.»

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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