DREISSIG

Am nächsten Tag fing es mitten in der Nacht an zu regnen.

Ann hatte das gleichmäßige Prasseln an den Fensterscheiben schon immer geliebt. Die Melancholie habe sie ihren irischen Wurzeln zu verdanken, meinte ihre Mutter immer. Nun wurde alles frisch und sauber gewaschen, die ganzen schmutzigen Schneeberge in die Gullys geschwemmt. Wie silberne Bänder würden die Straßen blitzen. Die Bäume freundlicher aussehen. Das Gras vielleicht hier und da grün zwischen all dem trostlosen Braun leuchten. Vielleicht würden sich an den Büschen rosa, gelbe und weiße Knospen zeigen und erste Krokusse spitzen. Die Kälte würde nachlassen. Die Mädchen würden wieder richtig baden können, in der Wanne, statt vor dem Waschbecken zu zittern. Sie alle würden sich dünner anziehen und normaler bewegen können. Einmal aufatmen, bevor der Winter mit voller Macht zurückkehrte.

Das Haus knarrte.

Vierundzwanzig Stufen und ein kleiner Absatz trennten sie von Peter. Es hätte auch eine Bergkette sein können. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war. Wahrscheinlich nach Mitternacht. Im Zimmer herrschte die tiefe Finsternis der frühen Morgenstunden. Sie knuffte ihr Kissen zurecht. Der Stoff an ihrer Wange war eisig.

Du weißt, dass ich dir keine Schuld gebe.

Für die Mädchen würde es hart sein, dass er ging. Es würde Tränen geben, Fragen, Vorwürfe. Es würde genauso grausam sein wie beim ersten Mal.

Ein zweites Knarren, länger diesmal. Irgendwer war auf und lief unten im Haus herum, immer wieder über dieselbe Stelle in der Küche. Sie hörte leises Weinen. Das Baby. Sie richtete sich auf. War Jacob krank?

In der dunklen Küche stand jemand. Shazia. Sie drehte sich um. «Mit dem Baby stimmt was nicht», flüsterte sie.

«Hat er Fieber?», fragte Ann leise.

Das Baby wimmerte.

«Nein.»

«Niest er oder –?»

«Nein. Ich glaube, es ist gar nichts Besonderes. Ich weiß es doch auch nicht.»

Der Kleine rieb sein Gesicht an Shazias Schulter. Ann sah es und wusste Bescheid. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich. Jacob war gesund.

«Er hat Hunger.» Die Ansteckungszeit war vorbei. Jetzt hatten sie bloß noch ein hungriges, müdes Baby im Haus.

«Aber er hat abends seinen Brei gegessen.»

Libby hatte schon länger versucht, ihm die nächtlichen Fläschchen abzugewöhnen. Ann wusste nicht, wie weit es ihr gelungen war. Jedenfalls hatte das Kind ganz offensichtlich Hunger.

«Versuch’s mal mit dem Schnuller.» Ann griff nach der Büchse mit der Säuglingsnahrung und drückte den Dosenöffner ins Blech. Wie viel Gramm sollte sie nehmen? Sie versuchte, sich zu erinnern, wie viel Libby Jacob zu seinen Mahlzeiten gegeben hatte, vermutlich zwischen 150 und 200 Milliliter. 150, beschloss sie. Sie mussten jedes Gramm sparen. Wer weiß, wann sie wieder welche bekommen würden. Sie hielt das Fläschchen im Dunkeln hoch, um besser zu sehen, und schraubte den Sauger auf.

Shazia saß im Wohnzimmer. Sie schaukelte Jacob und versuchte ihm einen Schnuller in den Mund zu schieben. Jedes Mal, wenn der Kleine den Mund aufmachte und ihn mit der Zunge wegschob, steckte sie ihn wieder hinein.

«Er erinnert mich an meinen Neffen», sagte sie leise. «Der konnte auch so wütend werden.»

Die Sehnsucht in ihrer Stimme war deutlich zu hören. «Willst du ihn füttern?»

«Ich glaube, er will lieber von dir gefüttert werden.» Shazia stand auf und legte Ann das strampelnde Kind in den Arm.

«Hallo, kleiner Freund.» Ann umschlang ihn fest und machte es sich im Sessel bequem.

Jacob riss den Mund auf. Der Schnuller fiel zu Boden. Ann schob ihm den Sauger in den Mund. Seine Lippen schlossen sich, und er öffnete die Augen. Er starrte sie an. Zögernd fing er an zu trinken. Die Augen fielen ihm zu, und sein Körper entspannte sich. Ann wiegte ihn im Arm, lauschte dem Regen, genoss die schlichte Freude, ein Baby zu füttern.

Shazia nahm auf dem Sofa gegenüber Platz. «Wenn es regnet, heißt das, der Winter ist vorbei?»

«Leider nein. Tauwetter kriegen wir zwischendurch immer mal wieder. Es hält nie lange. Es kann schon morgen wieder Schnee geben.»

Shazia schüttelte sich. «Sag das bloß nicht. Ich will nie wieder Schnee sehen. Ich kann gern aufs Schlittenfahren verzichten.»

Sie lächelten sich über Jacobs Kopf hinweg zu.

Shazia schlug die Füße unter ihre Beine. «Unser größtes Problem in Ägypten sind die Sandstürme. Da kann man überhaupt nicht vor die Tür.»

«Ich war noch nie in Ägypten. Aber ich habe mich mit ägyptischer Kunst beschäftigt. Ich würde sie wahnsinnig gern mal in echt sehen.»

«Dann musst du im Februar fahren. Das ist die beste Jahreszeit.»

Bis Februar waren es nur noch ein paar Wochen. Ann stellte sich vor, wie sie unter herrlich blauem Himmel durch warme sonnendurchflutete Straßen spazierte und die Mädchen lachend herumliefen und lauter wunderbare Entdeckungen machten.

Shazia seufzte. «Ich halte es nicht mehr aus.»

Ann hob den Kopf und sah, wie sie aus dem Fenster starrte.

«Ich kann einfach nicht mehr, Ann.»

Ann verspürte Mitleid mit der tapferen jungen Frau, die bisher kein Wort der Klage geäußert hatte. «Ach, Shazia, ich weiß. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange.» Die gleichen Worte, mit denen sie ihre Töchter tröstete, der gleiche besänftigende Ton. «Du hast bloß den Winterblues.» Den kannte Ann gut. Wie oft war sie schon verzweifelt im Haus auf und ab gelaufen und hatte auf die Sonne gewartet.

«Ich weiß nicht, was ich machen soll. Peter ist auch so seltsam geworden. Ist dir das nicht auch aufgefallen? Seitdem das Haus abgebrannt ist … Er redet nicht. Er läuft bloß dauernd auf und ab.»

Genauso war Peter nach Williams Tod gewesen. Wenn er überhaupt etwas sagte, dann waren es Nichtigkeiten. Ob sie das Auto wohl noch ein Jahr behalten könnten. Ob Kate vielleicht das Stück sehen wollte, das mit den tanzenden Pilzen. «Wir sind alle erschöpft. Wir müssen einfach durchhalten. Das weißt du besser als wir.»

«Das ist es ja gerade, Ann. Ich weiß genau, dass dies erst die erste Welle ist. Wie sollen wir denn bloß achtzehn Monate auf diese Weise überstehen?»

«So dürfen wir nicht denken. Es geht nicht anders, wir müssen von einem Tag zum andern leben.» Unwillkürlich schaukelte Ann das Kind heftiger. Jacob protestierte leise. «Tut mir leid, mein Kleiner», murmelte sie. «Entschuldigung.»

«Letztes Jahr ist mein Großvater gestorben. Er hat viele Wochen gelitten und schließlich Essen und Trinken verweigert. Er hat uns nicht mehr erkannt. Er hat mit Gespenstern geredet, die nur er sehen konnte. Ganz klein ist er geworden, und fremd. Wir waren alle erleichtert, als er … endlich starb.» Jetzt weinte Shazia. Ann hörte es am Klang ihrer Stimme.

Peter schlief. Er war so tief unter seinen Decken vergraben, dass er kaum zu sehen war. Konnte Ann ihn mit dem Fuß anstupsen? Das Baby reckte den Arm und schlug ihr ans Kinn. Sie hielt seine Hand fest und drückte sie an ihre Lippen.

«Auch meine beste Freundin habe ich sterben sehen.» Shazia wischte sich mit den Fingern über die Wangen. «Ein Motorrad hat sie auf dem Bürgersteig überfahren. Im einen Moment war sie lebendig und unterhielt sich mit mir, und im nächsten war sie tot. Sie war elf.»

Früher hatte sich Ann mit Libby über alles unterhalten – Beziehungen, Muttersein, Glück und Unglück. Sie hatten ihre Freundschaft als etwas Selbstverständliches hingenommen, aber auch die schweren Zeiten miteinander durchgestanden.

«Was glaubst du, Ann, welches von beiden ist der bessere Tod?»

Ann legte sich das Kind an die Schulter und rieb ihm den Rücken. Jacob schmiegte seinen Kopf genauso in ihre Halsbeuge wie William früher. Sein federleichter Atem kitzelte sie. Sie presste ihn an sich. Ein plötzlicher Tod war das Schlimmste, das wusste sie. «Ach, Shazia», sagte sie hilflos.

Der Regen malte Streifen an die Fenster und bildete Pfützen auf dem Sims, ins Zimmer schlich sich silbriges Licht. Bald würde es hell werden. Ann konnte die Umrisse von Shazias Profil erkennen, die Linie ihrer Wangen, den Bogen ihrer Schultern.

«Peter hat gesagt, er will heute Morgen weg.» Ihre Stimme war leise. «Ich möchte mit ihm gehen.»

Es klang, als wollte sie Ann um Erlaubnis bitten. Aber Ann konnte und wollte nicht ihren Segen dazu geben. «Wo willst du unterkommen?»

«Im Studentenheim. Dort gibt es bestimmt längst wieder Platz.»

«Nein, Shazia. Das ist doch unmöglich. Du wärst in ständiger Gefahr. Das weißt du.» Ann legte sich das Baby wieder in die Armbeuge und steckte ihm den Sauger wieder in den Mund. Jacob sah sie mit großen Augen vertrauensvoll an. Wie lange war das her. Sie küsste ihn auf den Kopf. «Dies ist jetzt dein Zuhause, Shazia.» Das war die Wahrheit. «Und deine Eltern glauben auch, dass du hier bist.»

«Meine Eltern erwarten von mir, dass ich selbst für mich sorge.»

Was für eine merkwürdige Aussage. Ann sah sie an. «Was ist, Shazia? Was ist passiert?»

Shazia zuckte die Achseln und stierte aus dem Fenster in den strömenden Regen. Die Hände hatte sie im Schoß gefaltet.

«Shazia?»

Doch die junge Frau weigerte sich, sie anzusehen.

Nachdenklich betrachtete Ann ihre verschränkten Hände. Seit Wochen aß Shazia wie ein Spatz. Ständig weinte sie hinter verschlossener Tür. Ständig legte sie sich zum Schlafen hin, und dauernd studierte sie den Kalender, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Plötzlich passte alles zusammen. Ann hielt die Luft an.

Shazia war schwanger.

Aber … wer war der Vater?

Anns Blick wanderte zu Peter.

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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