VIERZEHN

Sie deckten den Tisch im Esszimmer.

Ann nahm die dicke Filzdecke vom Tisch und legte die glänzend rote Holzfläche frei, dann schlug sie die Falten aus dem feinen Leinentischtuch ihrer Großmutter, dessen weißer Stoff im Laufe der Jahre cremefarben geworden war. Als sie gerade das Porzellan aus der Truhe holte, kam Peter herein.

Er stellte die Weinflasche ab und sah sich um. «Sieht toll aus, Ann.»

Es war eine Bitte, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sie trug einen Stapel der zerbrechlichen Teller zum Tisch. Er hatte recht. Sie mussten den Tag möglichst gut hinter sich bringen, das Thanksgivingfest so normal gestalten, wie es eben ging. Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete die Tafel, das blitzende Silber und das edle Leinen, die eleganten Teller mit den dünnen Goldbändern. Sie hatte nichts vergessen. Alles war an seinem Platz. «Ich glaube, wir sind so weit», sagte sie. «Willst du alle hereinrufen?»

Als sie saßen, entstand eine verlegene Pause, während sie und Peter sich über den Tisch hinweg ansahen und stumm miteinander berieten, ob sie sich an ihre alte Tradition halten und ein Dankgebet sprechen sollten. Weil die Gefahr bestand, dass es alte, kaum verheilte Wunden aufriss, schüttelte sie den Kopf, und er nickte.

Peter nahm die Vorlegegabel von der Hähnchenplatte und fragte Shazia: «Gibst du mir deinen Teller?»

Maddie griff nach der Schüssel mit der Füllung. «Kate hat einen Freund.»

Ann sah Kate an, die heftig errötete. Was für eine schöne Neuigkeit. Es musste Scooter sein, der Junge, mit dem sie in letzter Zeit ununterbrochen gechattet hatte.

Peter war gerade dabei gewesen, Ann Wein einzuschenken. Jetzt wanderte sein Blick von Maddie über Kate zu Ann.

«Sie hat es Michele erzählt.» Maddie lud sich einen Löffel Füllung auf. «Er hat Kate gefragt, ob sie mit ihm gehen will, und sie hat ja gesagt.»

Kate deutete mit der Gabel auf ihre Schwester. «Halt du dich mal besser da raus.»

«Ihr wollt richtig miteinander gehen?» Peter runzelte die Stirn. «Damit bin ich gar nicht einverstanden.»

Er klang so beunruhigt, dass Ann grinsen musste. «Keine Sorge. Das ist nur eine Redewendung. Wenn ein Junge ein Mädchen fragt, ob sie mit ihm gehen will, heißt das nicht, dass sie sich zu echten Dates verabreden. Sie chatten bloß ständig und telefonieren.» Und vielleicht trafen sie sich in der Schule an den Garderobenschränken und hielten Händchen auf dem Gang. Nur kam das alles unter diesen Umständen nicht in Frage. Kates erste Liebe würde eine Fernbeziehung sein.

Kate wand sich vor Peinlichkeit. «Können wir bitte das Thema wechseln?»

«Maddie, darf ich dir die Bohnen reichen?», fragte Shazia, und Kate stieß einen erleichterten Seufzer aus.

Maddie wollte den Kopf schütteln, doch Ann sah sie scharf an. «Ist gut», sagte sie zögerlich. «Danke.»

Ann lächelte Shazia zu: «Sie haben mit Ihrer Cousine gesprochen, habe ich gehört.»

Shazia nickte. «Ja, meine Eltern sind auf dem Weg in den Süden zu meinem Bruder.» Sie schüttelte den Kopf, als Peter ihr die Schüssel mit dem Kartoffelbrei anbot. «Dort ist es ländlicher. Sie glauben, dort sicherer zu sein.»

Shazia hatte zuletzt vor einer Woche mit ihren Eltern gesprochen. Seitdem hätten sie doch gewiss eine Möglichkeit zum Telefonieren finden können. Vielleicht war es anderswo noch viel schlimmer, als Ann gedacht hatte. Vielleicht würde es hier genauso schlimm werden, jetzt, wo ein Flughafen nach dem anderen geschlossen wurde.

«Fährt Ihre Cousine mit?», fragte Ann.

«Nein. Sie wird in Kairo bleiben. Sie ist Apothekerin. Und kann nicht weg.»

Konnte sie nicht, oder wollte sie nicht? Vielleicht war das für jemanden, der sich den Dingen lieber stellte, am Ende dasselbe. «Das klingt sehr tapfer.»

«Gibt es in Ägypten auch Thanksgiving, Shazia?», fragte Maddie und hielt ihr Milchglas vorsichtig in beiden Händen.

«Na klar», sagte Kate. «Bloß heißen die Pilgerväter Pharaonen, und der Pilgerfelsen ist eine Pyramide.»

Maddie sah sie unsicher an.

Manchmal war Kate einfach gemein, um gemein zu sein. «Genug jetzt, Kate.» Ann reichte Shazia die Glasschüssel mit den Preiselbeeren und erinnerte ihre Große: «Als du so alt warst wie Maddie, dachtest du noch, dass Geld auf Bäumen wächst.»

Kate machte schon den Mund auf, um etwas zu entgegnen, als sie den warnenden Blick ihrer Mutter sah.

«Wir haben kein Thanksgivingfest wie ihr hier in Amerika, Maddie.» Shazia nahm einen winzigen Löffel von den eingelegten Früchten und reichte die Schüssel weiter an Peter. «Aber es gibt in meinem Land auch große Feste. Das Opferfest und das Fest am Ende des Ramadan.»

Maddie nickte. «Vom Ramadan habe ich schon mal gehört.»

«Ja, da fasten alle Muslime einen Monat lang, und hinterher feiern sie ein Fest, das vier Tage dauert.»

«Vier Tage?», wiederholte Maddie.

Shazia lächelte und lehnte mit einem Kopfschütteln die von Ann angebotenen Brötchen ab. «Und dann haben wir auch Weihnachten, aber das feiern wir erst im Januar.»

«Weihnachten!» Maddie sah ihre Mutter an. «Kommt der Weihnachtsmann dieses Jahr zu uns?»

Darüber hatte Ann noch überhaupt nicht nachgedacht. Sie hatte noch keinerlei Einkäufe gemacht. Eigentlich hatte sie die Sonderangebote zu Thanksgiving dafür nutzen wollen. Und jetzt? Sie hatte keine Ahnung.

«Na sicher», sagte Kate. «Und die Zahnfee und der Osterhase helfen ihm, weil die Elfen H5N1 haben.»

Das Wort hatte in Kates Mund nichts zu suchen. Ann nahm Kates Hand. Zu ihrer Überraschung zog ihre Älteste sie nicht weg. Zu Maddie sagte Ann: «Das werden wir abwarten müssen, Schatz.»

Sie hatte einen Monat Zeit. Irgendwas würde ihr schon einfallen.

Maddie wandte sich an Peter und strahlte. «Weißt du was? Ich habe letzte Woche einen Zahn verloren. Er ist mir rausgefallen, während ich meinen Kakao getrunken habe.»

«Ich verstehe», sagte er. «Der Kakao muss ziemlich hart gewesen sein.»

Maddie kicherte.

«Was ist mit dir, Kate?» Peter löffelte Soße über seine Kartoffeln. «Hast du auch Zahnprobleme, um die ich mich kümmern muss?»

Kate verdrehte die Augen. «Als ob ich dir das sagen würde.» Sie tauchte die Gabel in ihren Kartoffelbrei und führte sie zum Mund.

«Weißt du noch, wie du Kate mit einer Zange durch das Haus gejagt hast?» Maddie setzte ihr Glas ab.

Peter nickte. «So ein dummes Mädchen», scherzte er und machte ein Gesicht, als könnte er es nicht glauben. «Kannst du dir vorstellen, dass sie nicht wollte, dass ich ihr einen Faden um den losen Zahn binde?»

«Das war», sagte Kate, «weil du, als ich es dir das eine Mal erlaubt hatte, die Tür zugeknallt hast und der Türknopf abgegangen ist.»

«Und da hat sie mich gebissen.» Peter zog eine Grimasse und sah Maddie an. «Ich kann dir die Narben noch zeigen.»

Das Haus war immer so von Leben erfüllt gewesen, wenn Peter von der Arbeit kam. Lautes Lachen und treppauf, treppab Gerenne. Im letzten Jahr war es so leise gewesen.

Shazias Blick wanderte von Kate zu Peter, sie lächelte still in sich hinein.

«Und wie war das noch, als sie dir mit dem Hammer den Finger plattgehauen hat?», sagte Maddie.

«Ach ja.» Kates Augen blitzten. «Als wir mit Granddad das Baumhaus gebaut haben.»

Die vier hatten viel Spaß daran gehabt. Ann und ihre Schwiegermutter hatten vom Küchenfenster aus zugeguckt und sich vor Lachen kaum halten können, als ein Brett nach dem anderen schief angenagelt wurde.

«Bretterbude, willst du wohl sagen», meinte Ann.

«Nur weil du uns gezwungen hast, es auf die untersten Äste zu setzen.» Peter schüttelte den Kopf. «Dad und ich haben uns wirklich ein Bein ausgerissen, um die Bretter anzubringen.»

Er sprach ganz unbefangen über seinen Vater. Ann wurde froh ums Herz. «Das war auch richtig so. Dazu stehe ich.»

Kate nickte. «Als Grandma reingeklettert ist, ist es nämlich zusammengebrochen.»

«Arme Mom.» Peter grinste. «Wenigstens ist sie nicht tief gefallen.»

Peter und Ann lächelten sich über den Tisch zu. In ihren Gefühlen mischten sich Glück und Trauer. Nie wieder würden sie gemeinsame Erinnerungen sammeln. Doch wie schön, unter all dem Traurigen auch schöne Momente zu finden. Ein Geschenk.

«Oh, wow.» Maddie schob ihren Stuhl nach hinten und zeigte aus dem Fenster.

Durch die Jalousien schienen winzige bunte Lichter. Gegen die Helligkeit im Zimmer wirkten sie blass und klein. Ann stand auf und drehte das Licht aus, damit die bunten Farben draußen besser zur Geltung kamen.

Alle liefen ans Fenster. Peter zog die Jalousien hoch, und vor ihnen erstrahlte in ihrer ganzen Pracht die Weihnachtsbeleuchtung der Foxes, die auf der anderen Straßenseite wohnten.

«Guckt mal», staunte Maddie. «Sie haben einen Weihnachtsmann auf dem Dach.»

Da saß er mit roten Wangen und grünen Fausthandschuhen und winkte, während seine Rentiere mit den Hufen scharrten.

«Den Frosty haben sie auch noch», sagte Kate. «Und diese komische Schneekugel.»

Die gigantischen Aufblasfiguren thronten auf dem Gras. Neben dem Gehweg sprang ein Satz weißer Weidenrentiere einher, und den Weg zur Haustür säumten Elfen, die sich bückten und wieder aufrichteten, als bauten sie Spielsachen zusammen. In allen Fenstern flackerten Kerzen, und sämtliche Sträucher waren mit Lichterketten behängt, die wie Smaragde und Rubine, Saphire und Diamanten blinkten.

«Wann hängen wir unsere Lichter auf, Daddy?», fragte Maddie.

Eine einfache Frage, und wieder rief sie so viel wach. Die Mädchen, wie sie die Kabel entrollten, während Peter die Lämpchen kontrollierte, ihre ausgiebigen Diskussionen darüber, welche Bäume und Büsche sie schmücken und ob sie nur weiße Lichterketten oder die traditionellen bunten verwenden sollten.

«Letztes Jahr hatten wir keine», sagte Kate.

«Du machst so was auch, Peter?» Shazia klang verblüfft.

Er lachte. «Schon, aber glaub mir, längst nicht in dem Maße wie die Foxes. Meistens hänge ich ein paar Lichterketten auf, und das war’s.»

Trotzdem hatte das Haus im Dunkeln immer so fröhlich ausgesehen. Wenn Ann mit den Mädchen nach Hause kam und sie in ihre Straße bogen, sahen sie schon von weitem die bunten Lichter, die sie mit ihrem munteren Blinken begrüßten.

«Wenn’s um Weihnachtsbeleuchtung geht, arbeitet Peter eher abstrakt», sagte Ann, und Peter lachte.

«Bei ihm sieht es aus, als hätten die Elfen auf die Büsche gekotzt», meinte Kate.

«He», protestierte Peter.

Maddie wollte sich ausschütten vor Lachen. «Stimmt doch, Daddy.»

Kate schmiegte sich an Ann, und Ann schlang ihr einen Arm um die Schultern. Nicht mehr lange, und Kate würde sie überragen. Ann gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Schläfe. Unter ihren Lippen pochte der Puls, und die Haut war warm und roch nach Kate. Ann nahm Kates schmale Hand und drückte sie fest. Sie war froh über dieses Thanksgivingfest, so sonderbar es war. Maddie hatte recht. Es musste nicht alles perfekt sein, um zu feiern. Manchmal reichte es, dass alle zusammen waren.

Zu dritt standen sie am Fenster, dicht aneinandergeschmiegt, mit einem kleinen Abstand zu Peter und Shazia, und betrachteten das leuchtende Schauspiel auf der anderen Straßenseite.

 

Die Flasche mit dem Waschmittel war über und über mit glänzenden schwarzen Käfern bedeckt. Sie liefen über ihre Finger. Ann unterdrückte einen Schrei, wischte sie von den Händen und wich schnell zurück. Die Käfer fielen zu Boden und schwärmten durch die Tür des Hauswirtschaftsraums in die anderen Zimmer.

Plötzlich hielt sie ein Schwert in der Hand. Es war lang und gebogen, mit einem reichverzierten Griff. Sie schwang es durch die Luft. Die Käfer bildeten einen schwarzen Strom, der durch die Küche schoss, zur Treppe, die nach oben führte.

Peter arbeitete an seinem Laptop. Sie rief im Vorbeilaufen nach ihm. Er blickte nicht auf. Aber dann war er da und stand in der Diele. Er hatte seinen Mantel an und einen Koffer in der Hand. «Ich muss mit Liederman reden», sagte er und knallte die Tür hinter sich zu.

Jetzt zertrampelte sie die Käfer, ihre Leiber knackten unter ihren Sohlen. Aber wenn sie ihre Füße anhob, flitzten die Käfer unversehrt weiter. Sie krabbelten über ihre Zehen. Sie strömten zu ihren Knöcheln, fluteten um ihre Knie. Sie watete in Käfern. Sie griff nach dem Geländer und schleppte sich die Treppe hinauf, unter ihr ein See aus kleinen, hartnäckigen Insekten. Sie schwärmten über ihre Schultern, ihren Hals nach oben. Sie verstopften ihren Mund und drückten gegen ihre Augenlider.

Ann riss die Augen auf. Alles war schwarz, sie lag im Bett. Sie stützte sich auf, um nach dem Wecker auf dem Nachtschrank zu sehen. Halb vier. Früher als sonst.

Maddie hatte wieder das Deckenlicht in ihrem Zimmer angelassen. Würde sie je aufhören, Angst vor der Dunkelheit zu haben? Die Laken waren zwischen ihren Beinen verdreht, und ein Arm lag quer über ihrem Gesicht. Ann ging hinein, um das Licht auszumachen und ihre Tochter wieder zuzudecken. Maddie regte sich nicht, so sehr war sie in ihren Träumen versunken. Wie viele Nächte hatte Ann an ihrem Babybett gestanden und über ihren Schlaf gewacht?

Weiter hinten im Flur stand die Tür zu Kates Zimmer offen. Ann blieb stehen und hörte, wie sie sich im Schlaf umdrehte. Beruhigt ging sie weiter.

Im Gästezimmer herrschte Stille. Die Tür war fest verschlossen, kein Licht drang nach draußen. Shazia musste endlich eingeschlafen sein. Ann hatte sie vorhin weinen hören. Sie war aufgestanden, aber als sie im Flur gestanden hatte, waren die gedämpften Geräusche verstummt. Shazia musste sich schreckliche Sorgen machen, während sie hier bei ihnen festsaß, so weit weg von ihrer eigenen Familie. Sie hatte nur das eine Mal von ihrer Cousine gehört. Ihre Eltern waren immer noch nicht zu erreichen. Nun lag sie in diesem fremden Haus in der Dunkelheit.

Mondlicht folgte ihr die Treppe hinunter, verschwand, als sie am Esszimmer vorbeiging, und leuchtete wieder, als sie in die Küche trat. Sie setzte Wasser auf und ging ins Wohnzimmer. Dort auf dem Sofa kuschelte sie sich in die Wolldecke und griff nach der Fernbedienung für den Fernseher. Sie stellte den Ton leise. Ein Mann stand im Wind, mit ernster Miene. Wieder schlechte Nachrichten.

Auf dem nächsten Kanal lief dieselbe Sendung. Ebenso auf dem Heim-und-Garten-Kanal und allen Spielfilmsendern. Wo wurden die alten Schwarzweißshows gezeigt? Die sah sie gern. Sie hatte sie früher angestellt, wenn sie die Kinder nachts stillte und in den Schlaf wiegte. Nein, auch dort liefen die gleichen Bilder wie überall. Vor grellem Hintergrund sprach ein Sprecher mit abgehackten Bewegungen ins Mikrophon und trat beiseite, damit die Kamera über die Stahlkonstruktion schwenken konnte, die aus dem Meer ragte. Dann wechselte sie zu einem Mann, der in einen ganzen Wald von Mikrophonen sprach. Selbst auf dem Kindersender lief der Beitrag.

Eine Stufe knarrte. Sie sah sich um. Es war Peter.

«Habe ich also doch richtig gehört», sagte er.

Er trug sein zerschlissenes Uni-Sweatshirt und die alte Jogginghose. Ob er jetzt immer in diesen Sachen schlief? «Habe ich dich geweckt?»

«Ich konnte nicht schlafen.» Er setzte sich seufzend in den Sessel.

Sie freute sich, dass er da war, freute sich über seine Gesellschaft in dieser dunklen Nacht. Der Traum hatte sie ziemlich aufgewühlt. «Ich habe Tee aufgesetzt.»

«Klingt gut.» Er nickte in die Richtung des Fernsehers, der stumm vor sich hin spielte, der Bildschirm ein helles Rechteck in der Finsternis. «Gibt’s was Neues?»

«Auf einer Bohrinsel im Golf von Mexiko ist die gesamte Besatzung erkrankt. Die Ölgesellschaft und die Gesundheitsbehörde in Washington sind sich uneins, wie sie sie medizinisch versorgen sollen.»

«Treibstoff wird knapp werden.»

Ja, natürlich. Sie hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, was für schreckliche Folgen das alles haben würde. Doch nun schaltete sich ihr Gehirn ein und spielte sie durch. Wenn Benzin und Diesel knapp wurden, konnten die Laster keine Lebensmittel mehr ausliefern. Die Züge würden die Lager nicht erreichen. Fabriken würden schließen. «Wie lange kann das gehen?»

«Kurzfristig werden die Preise steil ansteigen, aber dann werden sie sich wieder beruhigen. Die Regierung hat jede Menge Notfallpläne in der Schublade. Der Präsident kann jederzeit unsere Vorräte anzapfen.» Er gähnte. «Wie viel hast du noch im Tank?»

«Der ist voll. Ich habe auf dem Rückweg von der Schule getankt.» Das war vor acht Tagen. Es fühlte sich an wie acht Jahre.

Der Minivan verbrauchte ungefähr zwölf Liter auf hundert Kilometern. Ein voller Tank langte für knapp fünfhundert Kilometer. Fünfhundert Kilometer waren gar nichts, damit kam man bis halb nach nirgends. «Vielleicht können sie ja bald eine neue Besatzung hinfliegen.»

Peter sagte nichts. Er hörte nicht mehr zu, weil er den Text las, der über den unteren Bildschirmrand lief. Sie kniff die Augen zusammen, um die winzigen Buchstaben zu entziffern. Die beiden Kranken in Minnesota waren gestorben. Aus Chicago wurde von weiteren Fällen berichtet. Aus New Orleans auch. In Detroit gab es einen Verdachtsfall.

«Minnesota», sagte er. «Illinois, Louisiana, Michigan. Das liegt alles auf der Mississippi-Route der Zugvögel.»

Ohio auch. Während sie schliefen, hatte sich das Virus unermüdlich weiter ihrem Wohnort genähert. Sie dachte wieder an ihren Traum und schauderte. «Meinst du, das hat was zu bedeuten?»

«Es ist interessant.»

Auf dem Herd pfiff der Kessel. Sie stand auf, bevor er lauter wurde. «Kräutertee?»

«Bitte.» Er folgte ihr in die Küche.

Der Kessel wackelte auf der Platte. Sie goss das dampfende Wasser in zwei Becher und hängte Teebeutel hinein. «Wann willst du ins Labor?»

Er nahm den Becher, den sie ihm reichte. «In ein paar Stunden. Wenn ich die Proben untersucht habe, kann ich mich mit den Leuten in Tennessee kurzschließen. Wir werden verschiedene Teilstücke der RNA isolieren, um zu prüfen, ob das Virus gefährlicher geworden ist. Wenn beide Seiten arbeiten, schaffen wir doppelt so viel.»

«Aber eure Fälle sind Vögel. Lohnt es sich wirklich, sich dafür der Gefahr auszusetzen?»

«An dem Humanvirus arbeiten alle. Keiner kümmert sich um die Vogelvariante. Aber die Erkrankungen bei den Menschen scheinen der Vogelroute zu folgen, wenigstens in Amerika. Deshalb glaube ich, dass sie irgendwie miteinander zusammenhängen. Und dass alles, was ich über die Vogelviren in Erfahrung bringe, auch für die Humanvariante aufschlussreich sein könnte.»

Ihr gefiel es trotzdem nicht, dass er in die Stadt fahren wollte. Wer weiß, was dort inzwischen los war? Wer weiß, wie verzweifelt die Leute inzwischen waren? Peter war so vertrauensselig. Er würde sofort anhalten, wenn er meinte, dass jemand seine Hilfe brauchte. Er würde nicht an seine eigene Sicherheit denken. Es musste eine andere Lösung geben. Ihr fiel ein, dass Peter früher mit jemandem von der Bundesbehörde zusammengearbeitet hatte. «Was ist mit Dan? Wäre das nicht seine Aufgabe?»

«Ja, aber er kann auf keinen Fall in sein Labor. Alle Staatsangestellten, die nicht ausdrücklich in die Teams bestellt sind, haben Befehl, sich von ihren Instituten fernzuhalten. Wenn man ihn erwischt, fliegt er raus.»

Sie machte einen letzten Versuch. «Die Uni ist auch geschlossen. Du könntest ebenfalls fliegen.»

«Ich pass schon auf.»

So hatte er sie immer abgetan. Das wird schon gutgehen. Mach dir keine Sorgen. Ich pass schon auf. Als ob er sie mit diesen Sprüchen wirklich beruhigen, als ob er damit ihre Befürchtungen zerstreuen könnte. Tatsächlich erreichte er nur, dass sie sich noch einsamer fühlte. «Fährt Shazia mit?», hörte sie sich fragen.

«Nein. Das kann nur einer allein erledigen. Ich habe sie gebeten, hierzubleiben und Liedermans Notizen für mich durchzusehen. Erinnerst du dich noch an das Buch, das ich schon so lange schreiben will?»

«Ja, klar.» Sie legte ihren Löffel hin und sah ihn an. Rötliches Licht fiel auf sein Gesicht. Es tauchte die ganze Küche in Rot. Ann drehte sich nach der Quelle um. Sie lehnten sich beide über das Spülbecken.

In einer Einfahrt in ihrer Straße stand ein rot-und weißblinkender Rettungswagen. Die Sirene hatte er abgestellt. Vielleicht fuhren sie mitten in der Nacht immer ohne Sirene.

«Steht der bei Al?», fragte Peter.

«Vermutlich. Er hat letztes Jahr den Bypass bekommen. Wobei er heute Nachmittag eigentlich nur ein bisschen müde aussah.» Er hatte dagestanden und Sue an seiner Seite umschlungen. Ann hatte sehnsüchtig zugesehen und daran gedacht, wie ungezwungen sie und Peter früher miteinander umgegangen waren.

«Vielleicht ist es etwas, von dem wir nichts wissen.»

Die Fahrertür ging auf. Ein Mann stieg aus und ging um den Wagen herum. Er öffnete die Hecktüren und zog eine Krankentrage heraus. Ein zweiter Mann kam hinzu. Er hievte eine große Tasche auf die Trage, und beide rollten sie zum Haus. An der Tür blieben sie kurz stehen. Sie stand weit auf, und sie gingen hinein.

«Müssten sie nicht schneller gehen?»

Sie spürte, wie Peter die Schultern hob.

Einer der Rettungssanitäter kam rückwärts wieder heraus. Er hob die Trage über die Stufen vor dem Haus. Der zweite Mann tauchte auf.

Ann versuchte zu sehen, ob noch jemand dabei war, aber sie konnte niemanden sehen. Sue musste noch im Haus sein, um ein paar Sachen zu packen und dann mitzufahren. Ihre Eltern waren schon abgefahren. Sie hatten eine Katze, um die sie sich sorgten. Sie hatte ihr Auto vorhin gesehen, wie es aus der Straße fuhr. Sie sollte rasch rüberlaufen und anbieten, auf Jodi aufzupassen. Erst als sie schon ihren Becher abgestellt hatte, fiel ihr ein, dass das ja gar nicht ging. Natürlich nicht. Sie konnte nur dastehen und hilflos zusehen.

Unten vor der Treppe lösten die beiden Männer die Bremsen an den Rädern und rollten die Trage den Weg hinunter. Sie bewegten sich sehr langsam. Beide trugen Atemschutzmasken und Schutzbrillen, die ihnen ein eigenartig insektenhaftes Aussehen verliehen. «Siehst du das?» Sie hoffte, dass Jodi schlief. Es war ein schrecklicher Gedanke, dass ein Kind dabei zuschaute.

«Ich denke mal, das machen sie jetzt generell.»

Sie sah sein besorgtes Gesicht. Vermutlich hatte er recht.

Die Männer rollten die Trage zwischen sich die Einfahrt hinunter. Ann konnte nichts erkennen. Einer der beiden versperrte ihr die Sicht. Er betrat die Einfahrt rückwärts und schwenkte die Trage so, dass sie längs vor dem Heck des Rettungswagens zu stehen kam. Nun konnte sie die Trage gut sehen. Die Bettfläche war ganz und gar weiß, komplett mit einem Laken zugedeckt. Sie sah leer aus. War es nur ein falscher Alarm gewesen? «Warum fahren sie wieder?»

«Ann», sagte Peter. «Das ist nicht Al.»

Sie sah noch einmal hin und erkannte eine kleine Wölbung im Laken. Sie hielt sich am Rand des Spülbeckens fest. O mein Gott. Jodi. Ihr Herz pochte laut. Das konnte nicht sein. Sie war doch nur ein kleines Mädchen. «Aber sie war doch gesund. Sie wirkte gesund.» Sie war doch erst am Nachmittag über den Rasen gelaufen und hatte sich lachend ihrer Mutter in die Arme geworfen.

«Mm-hm.»

«Kann es so schnell gehen?»

Er nickte.

Ann begann zu zittern. «Könnte es nicht was anderes sein?»

«Doch.»

«Aber du weißt, dass es nicht so ist.»

Jodi. Und sie war ihr immer so auf die Nerven gegangen. Gestern hatte sie noch mit ihr geschimpft. Sie hatte sie nach Hause geschickt. Sie blinzelte, um nicht zu weinen.

Die Beine der Trage wurden eingeklappt und die Trage in den Wagen gehoben. Ein Sanitäter kletterte auf den Fahrersitz. Die Hecklampen leuchteten auf.

Die Angst schnürte Ann die Kehle zu. Ihre Hände krallten sich um den stählernen Rand der Spüle.

«Peter», flüsterte sie. «Sie war hier. Sie war mit den Mädchen auf dem Trampolin.»

Carla Buckley - Die Luft die du atmest
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