NEUN
Peter ging hinter Shazia durch den in übertrieben fröhlichen Farben gestrichenen Flur des Studentenheims. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Peter trat beiseite, um einen älteren Herrn vorbeizulassen, der einen großen Karton trug.
«Hast du alles?», fragte der Mann das schlanke braunhaarige Mädchen, das ihm auf den Fersen folgte.
«Ich habe meinen Laptop, Dad. Mehr brauch ich nicht.»
Shazia blieb vor ihrem Zimmer stehen. An der Tür klebte ein Zettel. Sie riss ihn ab, faltete ihn auseinander und überflog den Inhalt. «Caroline ist schon weg.»
Peter kannte Shazias Zimmergenossin, eine sehr bestimmt auftretende, große junge Frau aus Südafrika, die ein Wunderkind in der Nanotechnologie zu sein schien. «Wohin?»
«Sie soll sich auch im Tower West melden.»
Gut. Vielleicht wurden sie wieder zusammen untergebracht. Das würde ihnen die Umstellung erleichtern.
Shazia zog ihre Schlüsselkarte durch den Kartenleser und stieß die Tür auf. Sie traten in ein kleines quadratisches Zimmer, das mit den üblichen zerkratzten Eichenmöbeln vollgestellt war, jeweils in doppelter Ausführung, zwei Betten, zwei Kommoden, zwei Schreibtische. Sie brauchte nicht lange, um ihre Sachen zusammenzulegen und in einen Koffer zu packen. Bevor sie ihn zumachte, verstaute sie noch ein paar gerahmte Fotos zwischen den Pullovern. In einen zweiten Koffer kamen Handtücher und ihre persönlichen Dinge.
Traurig, dieser plötzliche Abschied.
Sie richtete sich auf und sah sich um. «Ich glaube, das ist alles.»
Tower West war nicht weit.
Das Hochhaus war hellerleuchtet. Am Straßenrand standen Busse mit laufenden Motoren. Menschen eilten über den hellerleuchteten Vorplatz. Peter parkte den Pick-up am Ende einer Autoreihe auf dem Rasen. Der Sicherheitsdienst würde heute Abend niemanden aufschreiben.
Durch das Foyer wanden sich lange Schlangen, die zu drei Tischen vor den Fahrstühlen führten. Ein uniformierter Wachmann stand mit verschränkten Armen daneben und passte auf.
Peter und Shazia stellten sich an. Als sie an die Reihe kamen, blickte die Frau an dem kleinen Tisch durch ihre zierliche Brille. «Ihr Ausweis?»
«Ja, natürlich.» Shazia stellte ihren Koffer ab und holte den Ausweis aus der Aktentasche.
Die Frau nahm die Plastikkarte und kniff die Augen zusammen. Dann tippte sie auf ihrer Tastatur ein paar Zahlen ein und runzelte die Stirn. Sie betrachtete noch einmal die Karte und tippte erneut die Zahlen ein. «Sind Sie eingeschrieben?»
«Ja, ich bin seit einem Semester hier.»
«Dann ist Ihre Nummer vielleicht noch nicht im System erfasst. Wir versuchen es nochmal mit Ihrem Namen.»
Shazia buchstabierte ihn.
Die Frau tippte. Dann schüttelte sie den Kopf. «Das klappt auch nicht. Sind Sie sicher, dass Sie für dieses Semester eingeschrieben sind?»
«Sie könnte im allgemeinen Verzeichnis gelandet sein», sagte Peter. «Wir könnten im Tower East nachfragen.»
«Tower East ist schon voll. Wir nehmen die Überzähligen hier auf.»
Peter bekam etwas von hinten an die Beine. Als er sich umdrehte, entschuldigte sich der hochgewachsene junge Mann, der mit Schlafsack, Rucksack und einigen Taschen hinter ihm wartete.
Peter nickte und drehte sich wieder um. Er hielt der Frau den Ausweis hin, der an seiner Brusttasche steckte. «Ich bin ihr Doktorvater», sagte er. «Ich kann für sie bürgen. Könnten Sie ihr jetzt ein Zimmer zuweisen, und wir klären den Rest später?»
«Tut mir leid, Dr. Brooks. Sie sind nicht der Erste, der mich heute Abend um diesen Gefallen bittet. Wenn ich Ihretwegen gegen die Regel verstoße, trete ich eine Lawine los.» Sie reichte Shazia ihren Ausweis.
«Aber sie hat ein Recht auf eine Unterkunft.»
«Nur wenn sie als ausländische Studentin eingeschrieben ist.»
Peter verlor allmählich die Geduld. «Sie ist eingeschrieben.»
«Nicht in meiner Kartei. Vielleicht ist etwas mit ihren Studiengebühren nicht in Ordnung.»
Peter sah Shazia an.
Ihre Miene war ratlos. «Das weiß ich nicht.»
«Was auch immer das Problem ist», sagte Peter zu der Frau. «Ich werde es morgen aus der Welt schaffen. Geben Sie ihr nur bitte erst mal ein Zimmer.»
«Tut mir leid, Dr. Brooks.» Sie richtete den Blick betont deutlich an Peter vorbei. «Der Nächste.»
«Ihr Studentenheim ist geschlossen. Sie hat keinerlei Unterkunft.» Sein Handy klingelte. Es vibrierte in seiner Hosentasche. Er holte es heraus.
«Na schön.» Die Frau seufzte. «Dann warten Sie doch einfach dahinten, und ich versuche jemand zu finden, der Ihnen weiterhilft.»
Sicher doch. Er entschuldigte sich, klappte sein Handy auf und sprach dann ins Telefon: «Kate, Schatz, kann ich dich zurückrufen?»
«Dad? Wo bist du?» Sie hörte sich an, als hätte sie geweint.
«Ich bin bei der Arbeit. Warum fragst du? Was ist los?»
«Mom ist schon seit über zwei Stunden weg, dabei hat sie gesagt, sie wäre in einer Stunde wieder da. Sie geht nicht an ihr Handy.» Ihre hohe Stimme gellte laut und klar aus dem kleinen Lautsprecher. «Und gerade habe ich in den Nachrichten gesehen, dass bei Kroger ein Kunde erschossen wurde.»
«Dr. Brooks?», sagte die Frau am Tisch ungeduldig.
«Ist sie denn dort?», fragte Peter seine Tochter erschrocken.
«Das weiß ich nicht. Uns hat sie bloß gesagt, dass sie einkaufen fährt. Sie hat nicht gesagt, wo.»
«Dr. Brooks, ich muss Sie bitten, aus der Schlange zu treten.»
«Klingt, als würdest du zu Hause gebraucht.» Shazia fasste ihn am Ärmel. «Geh ruhig, Peter. Ich werde schon was finden.»
Peter sah sich unschlüssig um. Er ließ seinen Blick über die Menge wandern, die sich im Foyer drängte. Wie sollte er Shazia diesem Chaos überlassen, ohne jede Sicherheit, dass sie einen Schlafplatz bekommen würde? Und wie sollte er die Bitte seiner Tochter abweisen, wo sie ein Jahr lang kaum Kontakt zu ihm gesucht hatte? Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie ihn das letzte Mal um irgendetwas gebeten hatte.
«Dad?»
Shazia schob ihn sanft von sich fort. «Los, geh.»