FÜNF
Peter zuckte zusammen, als er sich aufsetzen wollte. Schmerz schoss ihm in die Schulter. Der Wecker am Bett zeigte fünf. Er hatte verschlafen.
Während er durch die stillen, nassgrauen Straßen fuhr, rieb er sich den Nacken. Er durfte nicht vergessen, Ann anzurufen und sich mit den Mädchen fürs Wochenende zu verabreden, bevor sie nach Osten zu Anns Familie fuhren. Er würde Thanksgiving allein sein. Er würde einfach einen Arbeitstag daraus machen. Und wahrscheinlich mehr erledigen können als sonst. Ohne dass ständig das Telefon klingelte oder Leute vorbeikamen.
Er schloss die Tür zu seinem Labor auf und machte Licht. Lange Leuchtstoffröhren flackerten und gingen an. Er setzte sich an seinen Laptop und öffnete die mit winziger Schrift gefüllte graue Tabelle. Es war immer angenehm, Ergebnisse in dieser Form vorzufinden. Er erinnerte sich noch gut an die Zeiten, als man noch alles selber machen musste.
Für jedes der kleinen Rechtecke, die er anklickte, erschien ein buntes Diagramm auf dem Bildschirm. Während er eines nach dem anderen studierte, wurde sein Gesicht immer ernster. Irgendetwas konnte nicht stimmen. Vielleicht waren die Tests fehlerhaft oder die Proben nicht in Ordnung. Er kehrte zu dem ersten Diagramm zurück und sah es sich noch einmal an. Die blaue Kurve zeigte, dass die PCR funktioniert hatte. Er betrachtete die grün ausschlagende Temperaturkurve. Die erste Probe war also tatsächlich positiv. Er ging weiter zum zweiten, dann zum dritten Ergebnis. Und immer weiter, Rechteck für Rechteck.
Fassungslos lehnte er sich zurück. Von 32 Proben waren 29 positiv. Das hieß, dass neunzig Prozent der toten Blauflügelenten mit dem Virus infiziert waren. Ein erschreckend hoher Anteil.
Viren übertrugen sich rasch von Wildvögeln auf Hausgeflügel. Es war nur eine Frage der Zeit, womöglich von wenigen Stunden, bis sämtliche Hausgeflügelhaltungen in der Umgebung von Sparrow Lake gefährdet waren. Millionen von Dollar standen auf dem Spiel, eine ganze Industrie.
Er sah auf die Uhr und griff zum Telefon. Dan ging nicht ran. Peter trommelte mit den Fingern auf dem Arbeitstisch und wartete auf den Piepton. «Peter hier. Ruf mich an.»
Mit einem zischenden Laut öffnete sich die Tür in seinem Rücken.
«Morgen», sagte Shazia.
Peter drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr herum. «Du hast doch sorgfältig gearbeitet, oder? Dir ist gestern nichts ausgelaufen oder so?»
«Wieso?» Sie trat zu ihm und beugte sich über den Bildschirm. Er rief die Diagramme auf, damit sie es selber sehen konnte. Sie sog die Luft ein. «Influenzaviren?»
Er stand auf. «Ich mache die Aliquots fertig.» Gestern hatte Shazia das auf sich genommen. «Und du präparierst die roten Blutkörperchen.»
Sie machte ihm Platz. Ihre Miene war besorgt. Kein Wunder. Die Infektion der Blauflügelenten kam einer Katastrophe gleich. Keiner von ihnen legte Wert darauf, es mit einem solchen Virus aufzunehmen.
Er zog einen Laborkittel und Handschuhe über. Dann suchte er aus dem Gefrierschrank einige Proben heraus und trug sie zur Sicherheitswerkbank. Dreißig Minuten bei Raumtemperatur sollten reichen, um sie aufzutauen. Er holte frische Pipetten und Platten und stellte sie neben die Aliquots.
«Welche Antiseren willst du testen?», fragte Shazia.
«Wir nehmen H1, h1, H5 und H7.» Er wollte erst die üblichsten Subtypen testen und sich weitere nur dann vornehmen, wenn dabei nichts herauskam. Er zog die Glasfläschchen zu sich heran und nahm auf dem Hocker Platz. Sie mussten schnell arbeiten und hatten keine Zeit, die Wirksamkeit des Virus zu neutralisieren. Er würde eben achtgeben müssen.
Er platzierte vier dünne, flexible Platten mit zylinderförmigen Mulden unter dem klaren Kunststoffdeckel der Werkbank. Dann versah er sie mit Etiketten und reihte sie vor sich auf. Mit einer Pipette füllte er hundert Milliliter der Originalprobe in jede der 32 Vertiefungen der ersten Platte und wiederholte den Vorgang noch dreimal. Für jede Platte nahm er eine neue Pipette, sobald er fertig war, deckte er die Platten ab und stellte sie beiseite.
Eigentlich gab es keinen Anlass, die Luft anzuhalten. Schließlich war er durch die Werkbank geschützt. Er trug Handschuhe, und seine Hand war ruhig. Er hatte keine Röhre umgekippt und auch nichts verschüttet. Trotzdem atmete er erleichtert auf, als er die Proben ohne Zwischenfälle portioniert hatte.
Als Nächstes träufelte er hundert Milliliter des H1-Antiserums in jede Mulde auf der ersten Platte. Er deckte die Platte zu und nahm sich die nächste vor. Hier füllte er die Mulden mit h1. Als er mit der vierten und letzten Platte fertig war, lehnte er sich zurück. Eine Stunde würde es dauern, bis die Antikörper die Antigene erkannten. Er würde sich so lange gedulden müssen. Für das menschliche Auge waren die entscheidenden Vorgänge in den kleinen Mulden unsichtbar. Mit welcher Variante der Vogelgrippe hatten sie es hier zu tun?
Er drehte den Kopf nach allen Seiten. Wie lange war er in die Arbeit vertieft gewesen? Er sah auf die Uhr an der Wand und konnte kaum glauben, dass es schon fast Mittag war.
Das Telefon klingelte. Shazia ging ran und hielt Peter den Hörer hin. «Dan.»
Peter klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter und wusch sich am Waschbecken die Hände. «Wir haben es mit Vogelgrippeviren zu tun. Und so, wie die Blauflügelenten darauf reagiert haben, sind sie hochpathogen.» Vielleicht sollte er die experimentelle RT-PCR-Technik anwenden, von der er gelesen hatte. «Ich teste gerade die Subtypen.» Schweigen. «Dan?»
«Ja, ich bin da. Hast du Lust auf eine Spritztour?»
Eher nicht. «Das ist nicht dein Ernst.» Aber Dan machte normalerweise keine Scherze. «Wieso?»
«Mir ist gerade noch ein Vogelsterben angezeigt worden.»
Das konnte nicht sein. Peter hatte noch nie von zwei solchen Fällen in so rascher Folge gehört. «Wo?»
«Dreißig Meilen nördlich vom Sparrow Lake. Ein Jagdhüttenbesitzer hat angerufen.»
Das Seminar am Nachmittag würde er ausfallen lassen. Die Arbeit im Labor konnte Shazia fertig machen. «Ich komme sofort. Gib mir die Adresse, dann suche ich mir die Strecke auf MapQuest raus.»
«Gut. Und Peter? Bring deine Tasche mit.»
Peter holperte mit seinem Pick-up über die Schotterstraße. Das Rauschen im Radio war kaum zu verstehen.
«… aktuelle … Durchzug … die Unfähigkeit …»
Das wenige, was er verstand, wurde in dringlichem Ton vorgetragen. Worüber regte sich der Sprecher so auf? Ein neues Gesetz, über das der Kongress abzustimmen hatte? Stiegen die Zinsen ins Uferlose?
Er langte zum Radio, um einen anderen Sender einzustellen, drückte nervtötende Musik und Gerede weg und blieb schließlich bei einem alten Song von den Eagles hängen.
Zu beiden Seiten der Straße breiteten sich strohfarbene Felder aus. Der Horizont war von Kiefern gesäumt. Durch das offene Wagenfenster drang der Geruch von Gras und Kuhdung. Hinter der nächsten Kurve standen rechts schwere Angusrinder auf einer Weide. Eine Kuh trottete an den Zaun, um zuzusehen, wie er vorbeifuhr, und ihr Euter schlenkerte im Gehen hin und her.
Dann kam die Abzweigung, ein ungepflasterter Feldweg im hohen Gras. Er bremste und nahm die zweite Einfahrt. Nirgends markierte ein Schild die schmale Straße. Die Hinterreifen drehten durch, dass der Schotter spritzte, fassten dann aber doch.
Auf dem Beifahrersitz piepste es leise. In seiner Lederjacke. Er wühlte nach seinem Handy und klappte es auf. Shazia.
«Was gibt’s?»
«… den? … fertig …»
«Moment, bleib dran. Ich habe nichts verstanden.»
Nach der nächsten Kurve war ihre Stimme ebenso laut und deutlich zu hören wie ihre Aufregung. «Es ist H5.»
Okay. Dann wussten sie jetzt, mit welchem Hämagglutinin sie es zu tun hatten. Aber das war erst die halbe Miete. «Dann kannst du dich an die Bestimmung der Neuraminidase-Subtypen machen.
«Soll ich eine Sendung an die NVSL vorbereiten?»
Ob es noch zu früh war, das nationale Veterinäramt zu alarmieren? Sofort würde sich ein riesiges offizielles Räderwerk in Gang setzen. Peter sagte nichts, aber er wollte vorher selbst noch einige Tests machen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder die Blauflügelenten im Wasser treiben. Und jetzt war er unterwegs zum nächsten toten Schwarm. «Ja, mach das», sagte er zu Shazia. «Es kann nicht schaden, vorbereitet zu sein.»
Peter lenkte auf die Böschung und hielt hinter zwei Fahrzeugen der Naturschutzbehörde FWS und einem privaten Pick-up. Daneben standen zwei Männer in Khaki und redeten miteinander. Der kleinere drehte sich zu ihm um, und Peter erkannte Dan.
«Tag, Peter.» Er streckte die Hand aus. «Schön, dass du’s einrichten konntest.»
Peter schüttelte ihm die Hand. «Du hast Verstärkung mitgebracht?»
«Du wirst sehen, warum.» Dan deutete auf den Mann neben sich. «Das ist Special Agent Monroe. Mike, das ist Peter Brooks, einer unserer Veterinärmediziner. Wir kennen uns seit einer Ewigkeit.»
Mike Monroe gab ihm ebenfalls die Hand. «Wie ich höre, haben Sie gestern schon einen toten Vogelschwarm gefunden.»
«Habe gerade erfahren, es ist H5», sagte Peter. «Wonach sieht es hier aus?»
«Der Schnelltest zeigt an, dass es sich um Influenza handelt. Wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber Herrgott», Dan rieb sich den Nacken und verzog das Gesicht, «was sollte es sonst sein, wenn die Enten so schnell daran zugrunde gehen? Komm mit, ich zeig’s dir.»
Der Pfad führte durch den Wald. Die Kiefern verströmten ihren intensiven Geruch, in den Wipfeln brach sich das Sonnenlicht. «Wunderschön», sagte Peter.
«Ja. Eines unserer beliebtesten Anglerreviere.» Dan blieb stehen. «Wir sollten unsere Sachen überziehen.»
Peter stellte seine Tasche ab. Ein neues Paar Handschuhe, eine frische Maske und seine alte Schutzbrille mit den verkratzten Kunststoffgläsern.
«Ich habe überall nachgefragt.» Dan setzte ebenfalls eine Schutzbrille auf. «Sonst wurden keine ungewöhnlichen Vorfälle gemeldet.»
Das war eine gute Nachricht. «Was ist mit den Geflügelfarmen?»
«Ich habe sicherheitshalber alle im Umkreis von dreißig Meilen alarmiert.» Dans Latexhandschuhe klatschten, als er sie überstreifte.
Peter konnte sich nicht vorstellen, was für finanzielle Folgen das haben würde. Es musste in die Millionen gehen, auf jeden Fall. Er war genauso überrascht gewesen wie die meisten anderen, als er erfahren hatte, dass die USA der weltgrößte Geflügelproduzent war.
«Haben die Züchter denn irgendwelche Erkrankungen erwähnt?» Sie traten aus dem Wald auf sandigen Boden. Hier roch es nicht mehr so intensiv, und ihre Schritte klangen auf der weichen Erde gedämpft. «Sie wissen schließlich am besten …»
Peter verstummte. Er blieb stehen und starrte auf den Anblick, der sich seinen Augen bot.
Am Ufer lagen dicht an dicht Abertausende Vögel. Noch nie hatte er so viele von ihnen auf einmal gesehen, vor allem nicht so reglos. Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein, und doch … Das Grauen von Qinghai hatte seinen Weg hierhergefunden, mitten nach Ohio.
Bis auf seinen keuchenden Atem war alles um ihn herum still.
Blindlings lief er zum Wasser. Er blieb stehen und sah sie sich an. Stumpfe verklumpte Federn, offene Schnäbel, kleine Füße, die sich im Rhythmus der Wellen bewegten.
Es waren Grün-und Blauflügelenten, Stockenten, Löffelenten, Spießenten, alle lagen sie durcheinander. Ein Mittelsäger, halb im Wasser, halb am Strand, sah mit seiner zottigen Federhaube, dem langen spitzen Schnabel und den großen Schwimmfüßen so komisch aus wie eh und je. Peter ging in die Hocke. Mittelsäger waren die ersten Enten, die er als Junge zu bestimmen gelernt hatte.
«Hast du es schon gemeldet?», fragte er Dan. Sein Stimme war belegt, er räusperte sich.
«Ganz nach oben.»
Peter stand auf. «Dann bin ich überrascht, dass die Medien noch nicht da sind.»
«Die kommen», erwiderte Dan grimmig.
Ein Stück von ihnen entfernt knieten zwei Männer mit weißen Schutzanzügen im Sand. Entschlossen arbeiteten sie sich voran, hoben einen Vogel nach dem anderen hoch, nahmen Abstriche und verstauten die Proberöhrchen. «Wie viele Proben nehmt ihr?»
«Für jede Vogelart mindestens drei. Nasal und kloakal.»
«Sobald ich wieder im Labor bin, setze ich sie an.» Er würde Studenten aus anderen Projekten abziehen müssen. Scheiße, er würde so viele Kollegen wie möglich zu Hilfe holen.
Hinter ihnen rief jemand nach ihnen: «Dan.»
Mike Monroe kam aus dem Wald auf sie zu, in so großer Eile, dass er beinahe über die eigenen Füße stolperte.