Kapitel 6
Charna teleportierte sich in die tiefen Kammern unter dem Berg Idrak. Kaum einer seiner Bewohner kannte die präzise aus dem Gestein geschnittenen Kammern und Hallen aus der Frühzeit Kabals. Unter einer Kuppel, größer als das Innere Sanctum im Tempel, ruhten sechs titanische Zylinder. Fünf von ihnen waren so alt, dass ihre Metallhaut bunt schillernd verfärbt war. Einer jedoch glänzte wie frisch poliert und warf Charnas Spiegelbild zurück. Charna sah die toten Wächter der Tempelgarde und das ermordete Wartungspersonal von Minagaar in der Halle verstreut liegen. Ihre Augen waren aus den Höhlen getreten und hatten ihre gesichert mit Blut überströmt.
Gift, womöglich aus der Belüftungsanlage.
Am Fuß des haushohen Zylinders vom neuen Reaktor, an einem Pult, dessen Oberfläche ein bernsteinfarben leuchtendes Bedienfeld projizierte, stand eine Frau in einem zerrissenen Umhang. Ein Summen ertönte aus dem Inneren des MA-Reaktors, das sich zu einem ohrenbetäubenden Brummen steigerte, das Mark und Bein durchdrang. Die Frau sah zu Charna herauf und warf etwas in ihren Mund. Sie lachte schrill, bevor Blasen und Schaum aus ihren Lippen traten. Sie sackte vornüber und blieb reglos liegen.
Das Brummen wurde lauter, verfiel in einen langsamen Rhythmus. Der Zylinder erhielt Risse.
Zu spät. Ich bin zu spät gekommen …
Charna dachte an ihre Kindheit zurück. Sie erinnerte sich an den Tag, als ihre Mutter sie das erste Mal von Kabal fortführte, auf eine Welt namens Tiou‘Kal, deren Bewohner vor langer Zeit verstorben waren.
Sarinaca deaktivierte das Portal. »Siehst du, Charna? So einfach reist man durch ein Portal.«
»Warum können wir manche Welten nicht bereisen? Das ist doof. Ich will alle sehen! Nicht nur ein paar wenige!«
Sarinaca drückte den Kopf ihrer Tochter an ihren Bauch und lachte.
»Eines Tages wird das möglich sein, meine kleine Nana. Ich werde dafür sorgen, ich verspreche es dir! Heute musst du aber noch ein bisschen was lernen, bevor wir uns setzen und essen.«
Sarinaca stellte den Korb beiseite. Charna wollte allein mit ihr sein, keine Diener, Priesterinnen und Wächter. Nur sie zwei. Sie hatten diesen Tag viele Male verschoben, doch jetzt war es endlich so weit. Eine gute Gelegenheit, Charna etwas beizubringen, das ihr keiner sonst zeigen konnte.
»Erkennst du den Turm da hinten?«
Sie nickte.
»Was enthält er?«
Charna legte die Hände auf die Augen und drehte ihren linken Fuß unruhig auf den Zehen. Ihre dünnen Knie schlackerten dabei. Sarinaca seufzte.
Ist sie noch zu jung? Nein. Ich kann nicht länger warten. Mit jedem Tag rückt mein Schicksal näher. Ich kann meine Tochter nicht unvorbereitet zurücklassen. Niemand sonst kann ihr diese Lektion erteilen.
Charna ließ ihre kleinen Hände auf ihren Augen ruhen und sprach. Sie warf bei jedem Wort den Kopf von links nach rechts. »In seinen Tiefen brennt ein Feuer. Ich kann es fühlen. Es ist sehr, sehr, sehr heiß!«
»Sehr gut! Jetzt halte die Augen geschlossen, strecke deine Hände aus - gut so! - und erfühle das Feuer. Hast du es?«
Charna nickte viele Male. Sie hatte aufgehört zu zappeln und schien konzentriert. »Ich halte es! Es brennt in meinen Händen!«
Wir befinden uns einen Fußmarsch von wenigstens einer Stunde entfernt von dem Reaktor. Ihre Fähigkeiten sind gut entwickelt. Ich sollte testen, wie gut.
»Nun lasse es langsam ausgehen!«
Charnas Stirn warf sich in viele kleine Falten. Ihre Hände zitterten und ihre Lippen bebten. »Ich kann nicht.«
»Ganz ruhig, Nana. Du schaffst das schon!«
»Es geht nicht!«
Ein gewaltiger Blitz blendete sie. Der Turm explodierte und eine Druckwelle breitete sich rasend schnell aus. Sarinaca erhob die Hand und stoppte den Vorgang. Innerhalb von wenigen Sekunden fiel die Druckwelle in sich zusammen.
Charna ließ den Kopf hängen. Sarinaca beugte sich zu ihr herab und küsste sie auf die Stirn. »Wir wiederholen das mein kleines Teufelchen! Jetzt essen wir - nur wir zwei!«
»Jaaa!«
Charna warf die Arme in die Luft und vergaß den Vorfall.
Sarinaca nicht.
Es war ihr letztes Mahl allein und das letzte Mal, dass sie ihre Tochter unterrichtete. In den folgenden Jahrzehnten wurde Charna schnell erwachsen. Meister ihrer Fächer lehrten sie und Cendrine nahm Charna mit ins Kloster der Flammengrube, wo sie auf ihre Rolle als Hohepriesterin vorbereitet wurde. Sarinaca kehrte immer seltener zurück nach Kabal - ihr fehlte die Zeit. Sie kämpfte an Ihadruns Seite gegen die Subrada, die Sektor für Sektor vordrangen und unaufhaltsam schienen.
Sie dachte mehr als einmal an die alten Reaktoren unter Kabal. Cendrine riet ihr, sie abzuschalten und so geschah es. Charnas Lektion musste warten, bis sie wieder Zeit dafür hatten.
Charna hob die Hände und erfühlte die unbändige Energie im Reaktor. Der Prozess der Umwandlung war außer Kontrolle geraten. Die Subrada-Spionin hatte ganze Arbeit geleistet.
Ich kann das nicht! Aber ich darf es nicht unversucht lassen, zu viele Leben hängen davon ab. Dies ist mein Fehler, ich hätte keinen neuen Reaktor errichten lassen sollen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Mit einem Aufblitzen barst der Zylinder und Charna schrie auf. Sie spürte das Brennen der Energie auf der Haut. Die Strahlung fraß sich durch ihr Pentacut und ließ es zu Tropfen zerschmelzen, die in der Hitze verdampften. Die Blutrubine darin verpufften zu roten Staubwolken. Ihre Finger gingen in Flammen auf.
Sie schrie in Todesqual auf, ließ aber nicht von ihrem Bemühen ab, die Explosion zu bändigen.
Ich werde verbrennen.