Kapitel 3
Charna blickte Seraphia einen Augenblick hinterher. Sie sah aus, als würde sie ihre Robe vermissen.
Sie wird sich noch dran gewöhnen. Verstecken muss sie wahrlich nichts. Wenn ich mich nicht täusche, ist sie genau der richtige Lockvogel für Faunus.
Die Hohepriesterin streckte die Hand aus. Sie zog sich an mächtigen Energiebündeln aus den Wäldern von Garak Pan. Ihr Ziel lag am anderen Ende Iidrashs. Mit einem Aufblitzen erschien sie in der Wüste Sa‘Ilak. Die Sonne warf Charnas harten Schatten über den heißen Sand. Sie atmete auf. Die Wälder hatten ihr noch nie zugesagt, die Wüste hingegen gefiel ihr. Hier war es heiß, trocken und einsam. Auch wenn sie gerade nicht allein war, mochte sie das Gefühl, das ihr die Wüste gab, sobald sie ihre Zehen in den Sand grub und den Blick in die Ferne schweifen ließ. Sa‘Ilak war ein überschaubarer, geordneter und klarer Ort, mit einfachen Regeln. So ganz anders als ihr Leben.
Sie drehte sich herum und genoss das Licht der Abendsonnen auf ihrem Gesicht und ihrer Haut. Die Dünen waren hier flach und hart. Das Skelett eines Ki‘Ral lag vierzig Schritt neben ihr halb begraben vom Sand. Ein zusammengeflicktes, verblichen blaues Zeltdach spannte sich über seine enormen Rippen. Eine vermummte Gestalt trat daraus hervor. Sie war in schwarzes Tuch gehüllt und ihre Augen blitzten aus dem dunkelhäutigen Gesicht. Charna schlenderte hinüber. Die Gestalt verneigte sich tief und ehrerbietig, schien zu wachsen und sich zu verändern, als sie den Kopf wieder erhob.
»Seid willkommen, meine Herrscherin!«
»Du neckst mich erneut, Mehmood. Du spielst mit deinem Leben, weißt du das?«
Der Mann starrte sie an. Seine Augen verrieten ihn. Sie sah das Lachen darin und lachte selbst laut los. Mehmood zog das Tuch von seinem Gesicht. Seine schwarze Haut betonte das blitzende Weiß seiner Zähne.
»Ich hatte mit Euch gerechnet, doch nicht so bald«, sagte er und bat sie in sein Zelt. »Tee?«
»Wir müssen das verschieben. Die Sidaji sterben.«
Mehmood sah sie erschrocken an. »Die Heiler aus Asla? Ich hatte gehört, dass sie …«
»Das Mittel konnte den Tod nicht verhindern.«
»Dann müssen wir den Tee in der Tat verschieben«, sagte Mehmood.
»Ich muss zu Seral. Ich brauche seine Hilfe. Kabal braucht seine Hilfe.«
»Er wartet bereits auf euch?«
Charna schüttelte den Kopf. »Es war keine Zeit.«
Mehmood musterte sie ernst und zweifelnd. »Seid Ihr sicher, dass Ihr …«
Ihr Blick schnitt ihm das Wort ab und Mehmood schritt eilig in die Wüste hinaus, die Sonne im Rücken. Charna folgte ihm. Er blieb nach hundert Schritt stehen und warf die Arme in die Höhe. Die heiße Wüstenluft flirrte über dem Sand. Der gesamte Horizont verschwamm. Ein Rumoren und Poltern in der Erde setzte ein, bis sie die Vibrationen in den Füßen spürte. Der Sand spritzte unvermittelt wie kochendes Öl in den Himmel und ein titanischer Riss tat sich im Boden vor ihnen auf, keine fünf Schritt von ihrem Standpunkt entfernt. Es war, als ob Kabal vor ihnen in zwei Teile zerbrechen wollte. Ein gewaltiges Donnern ließ die Wüste erzittern.
»Wir holen den Tee nach, Mehmood«, schrie Charna.
»Meine Gebete begleiten Euch, Hohepriesterin!«, rief Mehmood schwitzend. Er hielt die Arme immer noch ausgestreckt und nickte Charna vor Anstrengung zitternd zu. Sie lächelte zurück und sprang in den Namenlosen Abgrund. Die Finsternis griff augenblicklich nach ihr und zerrte sie fort vom Licht. Der Riss schloss sich tosend, der Lärm war markerschütternd. Die Wände rückten näher und Charna beschleunigte ihren Fall, indem sie einen Machtstrang herbeirief und sich von ihm nach unten reißen ließ. Sand und Felsbrocken fielen neben ihr in die Tiefe, doch sie wurde bald schneller und raste ausweichend an ihnen vorbei. Über ihr schloss sich der Spalt. Sie war nun weit genug hinabgestürzt, um in einer der zahllosen Höhlen des Namenlosen Abgrunds angelangt zu sein. Sie verlangsamte ihren Sturz, bis sie mit gemächlichem Tempo vor einer steilen Felswand hinabglitt. Fahles Licht drang aus einer weiten Höhle zu dem Sandberg vor, der sich zu ihren Füßen gebildet hatte. Der feine Sand würde sie verschlucken, sollte sie versuchen, darauf zu landen. Sie änderte die Richtung ihres Fluges und stieß tiefer in die gigantische Höhle vor, die sich ihren Blicken darbot.
Dies ist Serals Reich. Endlich.
L‘Ishaan hatte vor ihm hier geherrscht. Und obwohl er Charnas Mutter Sarinaca die Treue geschworen hatte, bestritt er ihre Herrschaft über Iidrash, bis Seral ihm den Garaus gemacht hatte.
Charna drang im Flug weiter vor. Der Höhlenboden lag steinig und unwegsam zehn Schritt unter ihr, doch die Decke wölbte sich hundert Schritt über ihr in die Höhe. Phosphoreszierenden Flechten bildeten die einzige Lichtquelle. Sie wuchsen um feuchte Bereiche an den Wänden und neben flachen Teichen, die sich in Felssenken gebildet hatten. Charnas Augen durchdrangen auch die tiefste Dunkelheit, und so sah sie hier genug.
Der Namenlose Abgrund war ein Ort, den sie nicht begriff. Sie war nun nicht mehr auf Kabal, so viel wusste sie zu sagen. Dennoch war dieser Ort mit ihrer Heimatwelt auf untrennbare Weise verbunden. Die Spalte in der Wüste Sa‘Ilak war nur der Übergang gewesen, der sie hierher geführt hatte.
Sie erreichte das Ende der Höhle und gewahrte einen Durchgang, der von breiten Säulen flankiert wurde. Gläserne Laternen hingen daneben, deren kugelförmigen Behälter mit einer grünleuchtenden Flüssigkeit gefüllt waren.
Warum ist dieser Ort jedes Mal anders, wenn ich hierher komme? Oder liegt es daran, dass Seral mich diesmal nicht begleitet?
Charna ließ sich zu Boden sinken. Ihre nackten Fußsohlen berührten den kalten und feuchten Boden. Ein Rinnsal eiskalten Wassers floss neben ihr durch den Torbogen. Dahinter war ein Tunnel, dessen Ende sie nicht sehen konnte und der beständig abwärts führte. Die Wände waren von Erzadern durchzogen. In regelmäßigen Abständen hingen Laternen wie jene am Eingang an den Wänden und warfen ihr blasses, unheimliches Licht gegen das nasse Gestein. Charna folgte den lang gezogenen Biegungen eine geraume Zeit. Eine der gläsernen Lampen lag zerbrochen auf dem Weg vor ihr. Die selbstleuchtende Flüssigkeit war den Tunnelboden hinab gelaufen. Ein grünlich glimmender Streifen begleitete sie eine Weile und an einer Stelle war ein Fußabdruck darin zu erkennen. Etwas war denselben Weg gekommen wie sie, doch hatte es große Pfoten gehabt.
Schließlich machte der Tunnel einen scharfen Knick und endete abrupt vor einem Tor. Das Metall seiner Gitterstäbe war grün angelaufen, aber stabil und in gutem Zustand. Ein Schloss sicherte den Durchgang. Charna wollte mit einer Handbewegung das Hindernis hinwegfegen, aber sie besann sich eines Besseren. Dieser Ort hatte seine eigenen Gesetze und es war ratsam, ihnen zu folgen. Sie berührte das kalte Metall der Klinke. Das Schloss war nicht verriegelt und sie konnte das Tor in seinen quietschenden Angeln öffnen. Sie verschloss es hinter sich und folgte dem Gang, der nun stärker bearbeitet war. Die Laternen hingen dichter bei einander und der Boden verlief nahezu waagerecht.
Nach einem Rechtsbogen endete der Stollen vor einem runden Ausgang, der grob in die Wand gehauen worden war. Charna betrat eine leere Halle. Kolossale grüne und schwarze Fliesen bedeckten den schmutzigen Boden in regelmäßigem Muster. Dreihundert Schritt über ihrem Kopf spannte sich die verputzte Gewölbedecke. Eine Tür, so gewaltig groß, dass sie fast bis zur Decke reichte, war am anderen Ende der Halle zu erkennen. Sie war nur angelehnt, ein Lichtschimmer fiel durch den Spalt hindurch. An der linken, weit entfernten Wand war ein Konstrukt zu erkennen, das siebzig Schritt in die Höhe ragte.
Verdammt, das ist ein Tisch!
Charna sah sich um und entdeckte weitere Bauten, die sich als riesenhafte Möbelstücke entpuppten. Eine hölzerne Truhe mit gewölbtem Deckel, groß wie ein Haus, stand zu ihrer Linken. Ein Schemel mit einer gespannten Sitzfläche aus einem Stück Leder, das so dick war wie ein Oberschenkel, ragte in die Höhe wie ein Turm. Unter der Decke hing eine Öllampe aus Ton, ausladend wie ein Boot.
Die Hohepriesterin fühlte sich klein und verletzlich. Sie wollte instinktiv in die Höhe steigen, doch sie schien ihre Fähigkeit zur Levitation verloren zu haben. Sie probierte, ein Feuer in ihrer Hand aufsteigen zu lassen. Nichts geschah. Sie rief ihre Aura-Sicht herbei, aber ihre Sicht blieb unverändert.
Das ist eines der Spielchen, welche dieser Ort mit einem treibt. Ich muss Ruhe bewahren.
Die Hohepriesterin atmete tief und ruhig durch, ließ die letzten Minuten Revue passieren, bis sie wieder in der Gegenwart angelangt war. Sie sah sich um.
Das Tor war ein erster Test. Ich habe auf meine Kräfte verzichtet, aber ich wusste, dass ich sie jederzeit zur Verfügung habe. Hier haben mich meine Kräfte verlassen. Was bleibt ist mein Körper und mein Verstand. Dieser Raum ist ein Rätsel. Ich muss es lösen!
Sie schritt voran und erschrak. Ein Steinchen hatte sich in ihre Fußsohle gedrückt. Ihr Pentacut war zwar an Ort und Stelle, doch als sie es mit den Fingerspitzen berührte, spürte sie, dass seine Macht nicht vorhanden war.
Aufgepasst! Ich bin möglicherweise verletzlich an diesem Ort!
Charna lief vorsichtig zwischen den Steinchen und dem Unrat auf dem Boden in Richtung der gewaltigen Tür. Die vollkommen ungewohnten Schmerzen an ihren Fußsohlen irritierten sie. Gerade erst hatte sie ein paar Schritte getan, als ein Rascheln ihre Aufmerksamkeit forderte. Sie wurde sich ihrer Hilflosigkeit bewusst und auch der Tatsache, dass sie keine Waffe mit sich führte. Sie sah zur Truhe hinüber. In das grobe Holz war ein Loch hinein genagt, gerade groß genug, dass sie hindurchschlüpfen konnte.
Ich soll mich verkriechen? Ha!
Das Rascheln ertönte erneut und in den Schatten unter dem Tisch rührte sich etwas. Zwei Augen glitzerten in der Dunkelheit. Etwas sehr Großes regte sich im Halbdunkel. Instinktiv griff Charna auf ihre Mächte zurück, aber wo sonst das vertraute Summen starker Energien herrschte, war nur Stille um sie.
Das Spielchen, das dieser Ort mit mir treibt, gefällt mir nicht!
Ihr Herz setzte eine Schrecksekunde aus, dann hämmerte es laut in ihrer Brust. Die Angst und Hilflosigkeit Sterblicher war der Hohepriesterin unbekannt. Sie musste eine Panik kontrollieren, die sie nicht unterdrücken konnte.
Weg! Nur weg!
Sofort rannte sie los. Sie versuchte zu hören, was hinter ihr war, doch das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass sie beinahe taub war. Nie zuvor hatte sie ihren Körper als so menschlich und verletzlich empfunden. Ihre Muskeln, schwach wie die eines gewöhnlichen Menschen, quittierten die ungewohnte Anforderung mit Schmerz und Zähigkeit. Die Truhe war noch unendlich weit weg, der Weg dahin mit Dreck und Unrat übersät, der ihr die Fußsohlen aufriss und sie stolpern ließ. Sie atmete schwer, konnte nicht genug Luft in ihre Lungen pumpen. Stiche in ihrer Seite ließen sie aufschreien.
Es ist dein Körper, du dumme Pute. Lauf! LAUF!
Mit purer Willenskraft befahl sie ihren Beinen, schneller zu sein. Sie sprang das letzte Stück auf den runden Fuß der Truhe hinauf. Das rissige und trockene Holz bot ihren Fingern Halt. Sie stöhnte, als zwei ihrer Fingernägel abrissen, statt sich wie gewohnt in das Material zu bohren. Mit zitternden Armen zog sie sich viel zu langsam höher. Ein quiekendes Geräusch hinter ihr ließ sie ängstlich aufschreien. Sie sah hektisch über die Schulter und erkannte eine Ratte, die sich ihr schnüffelnd näherte, riesenhaft wie ein Büffel. Das Tier schien sich noch nicht entschieden zu haben, ob die Hohepriesterin ein essbarer Happen war oder nicht. Charna befürchtete jedoch, dass das Ungetüm jeden Augenblick zuschnappen könnte. Sie sah eine hohe Kante über sich aufragen und zog sich mit einem Ruck hinauf, der ihr die Haut an den Ellenbogen und Knien aufriss und einen stechenden Schmerz in ihren Schulterblättern hervorrief. Sie kletterte ungeschickt auf den Vorsprung und drehte sich um. Die Ratte näherte sich. Charna schob sich zur Seite und fiel durch das gezackte Loch in die Truhe. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihr Bein und ließ sie laut aufschreien. Klebriges, heißes Blut sickerte aus ihrer Wade und sie sah ungläubig auf einen langen, dicken Holzsplitter, der in ihrem Unterschenkel steckte. Sie riss das Holz heraus und verlor nach einem weiteren Jammerlaut beinahe das Bewusstsein. Ihr Herz hämmerte von der Anstrengung und dem Adrenalinrausch und pumpte das Blut aus der Wunde. Ihr wurde schwindlig.
Es kratzte an dem Loch und ein Schatten fiel darüber. Charna roch den stinkenden Atem der Ratte, die mit nagenden Zähnen rasch die kleine Öffnung vergrößerte, durch die sie in die Truhe gelangt war. Sie schob sich zwischen Staub und Dreck tiefer in die Dunkelheit. Ihr fehlte die Kraft, um sich zu erheben und eine Welle der Übelkeit überkam sie. Ihr Kopf knallte gegen etwas Hartes und sie drehte sich tastend herum. In der Finsternis und inmitten von Unrat war es unmöglich, irgendetwas zu erkennen.
Es wurde schlagartig heller.
Die Ratte riss das trockene Holz fort und ein Spalt klaffte auf. Jetzt steckte sie ihren Kopf hinein und Charna sah fast nichts mehr, als der Schatten des Untiers über sie fiel. Sie zog ihre schmerzenden Beine instinktiv an sich und entging knapp den Zähnen der Ratte, als diese nach ihr schnappte. Dann riss das Monstrum plötzlich den Kopf zurück. Ruckartig. Ein Fauchen aus einem gewaltigen Leib erklang außerhalb der Truhe.
Eine Katze?
Kampfgeräusche und ein reißender laut. Die Ratte quiekte mitleiderregend.
Es war ihr Todesschrei.
Charna hörte die Schritte der Katze, die sich von der Truhe entfernte. Sie riss das Tuch von ihrer Hüfte und wickelte einen Druckverband um die blutende Wade. Der Schmerz drohte sie zu überwältigen, und ihr wurde erneut so übel, dass sie den Wein auf der Zunge schmeckte, den sie vor dem Aufbruch getrunken hatte. Sie schluckte schwer und schloss die Augen, zwang sich mit purer Willenskraft dazu, die Übelkeit zu verdrängen. Allmählich kam sie wieder zu Atem. Als das Adrenalin schwand, fühlte sie sich schwach und müde. Ihr wurde kalt und sie fing an zu zittern. Ihre rechte Hand fiel auf einen harten Gegenstand. Es war eine Nähnadel aus Metall.
Charna lachte.
Es kostete sie viel Kraft, aber sie konnte nicht anders. Sie hielt die Nadel hoch und entdeckte, dass sie das ovale Nadelöhr als Griff benutzen konnte. Das Zittern hörte allmählich auf und ihr Druckverband schien die Blutung zu mildern. Elend und hilflos, wie sie sich fühlte, ließ sich sie dennoch nicht so leicht unterkriegen.
Du bist Charna, Hohepriesterin des Ordens vom Brennenden Blut. STEH AUF!
Mit einem Jammerlaut stemmte Charna sich auf und hinkte mit einem Bein in die Dunkelheit, bis sie Halt an der Wand fand. Ihr Atem ging schwer und das Schwindelgefühl kehrte zurück. Sie lehnte den Kopf an das Holz und sammelte ihre Kraft. Die Wunde in ihrer Wade schmerzte, doch sie humpelte weiter, die Nadel mit sich schleifend.
Ich bin unbesiegbar, denn ich schwinge ich die heilige Nähnadel …
Sie lachte erneut und stöhnte auf, als sie einen Schritt zur Seite tat. Vorsichtig tastete sie sich an dem Vorsprung entlang, an dem sie sich den Kopf gestoßen hatte und entdeckte, dass es sich um einen Gegenstand handelte, der in der Truhe lag. Was es war, wusste sie nicht.
Normalerweise hätte sie auch in dieser Dunkelheit sehen können. Sie umrundete den Gegenstand und hatte den Eindruck, dass es ein Topf oder ein Gefäß sein musste. Aus einer Ritze im trockenen Holz der Truhenwände fiel endlich etwas Licht herein. Sie schob sich weiter und drückte sich an einem Stück Stoff vorbei, das hart war wie ein Segel. Als sie auf der anderen Seite ankam, war sie voller Staub und hustete. Vor ihr lag ein offener Bereich, in den sie hineinhinkte, um die verzierten Metallplatten zu untersuchen, die dort lagen.
Scheiße.
Münzen in der Größe von Tellern bedeckten den Truhenboden, mit Prägungen, die ihr Profil zeigten. Charna überlegte, was sie nun tun sollte. Wenn dies wirklich ein Rätsel war, dann fragte sie sich, ob sie lange genug überlebte, um es zu lösen.
Ein Lärm von außerhalb der Truhe war zu hören. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, dass es sich um das Quietschen eines gigantischen Türscharniers handelte. Jemand betrat das Zimmer. Laut dröhnten die Schritte und ließen den Truhenboden leicht erzittern, während sie sich näherten. Charna sah sich ängstlich um, doch sie war zu weit außerhalb einer Deckung. Unvermittelt erschütterte ein Poltern und Knarren die Truhe. Staub fiel herab, Licht flutete den Boden, auf dem Charna stand. Sie starrte in das Gesicht eines Riesen und fühlte sich wie ein Insekt.
»Was zum Henker?«, sagte der Riese. Der Mann sah mit deutlichem Widerwillen auf sie herab. Er griff nach unten und zog sich einen alten Schuh vom Fuß. Charna fühlte sich seltsam und blickte an sich herunter. Sie war ein Käfer geworden!
Das kann nicht gut gehen!
Sie versuchte zu krabbeln und war schnell wie der Wind. Die Sandale flog brausend herab und knallte so heftig auf den Boden der Truhe, dass die Münzen und alles andere umherflogen. Charna wurde in die Luft gewirbelt und ein Instinkt ließ sie ihre Flügel ausbreiten.
Ich kann fliegen!
Sie schwirrte nach oben und wich der erneut heransausenden Sandale aus, die die Luft so sehr verwirbelte, dass sie Mühe hatte, ihren Kurs zu halten.
Wann hört dieser Irrsinn endlich auf?
Charna flog dem Licht an der Decke des Raums entgegen und schoss daran vorbei, als der Mann mit seinem Schuh erneut nach ihr ausholte und nur knapp die Öllampe verfehlte. Er fluchte laut.
»Verdammte Käfer! Ich hasse Käfer!«
Charna steuerte die Decke an und fand daran Halt. Sie hing über Kopf und hatte einen seltsamen Eindruck des Raumes unter sich. Der Mann schien sie nicht mehr zu sehen und winkte ab. Er zog sich seinen schäbigen Schuh über und sammelte die Münzen aus der Truhe auf. Mit einem letzten Blick zur Decke verließ er den Raum.
Warum bin ich jetzt ein Käfer?
Charna überlegte fieberhaft. Der Schmerz war aus ihrem Bein gewichen und sie fühlte sich nicht mehr so schwach.
Womöglich habe ich die Fähigkeit, mich zu verwandeln?
Mit einem Gedankenbefehl versuchte sie, ihre Form zu verändern. Sie war nun eine Spinne. Ihre Augen überblickten das gesamte Zimmer. Der Eindruck war etwas verwirrend, aber sie gewöhnte sich schnell daran.
Das Rätsel ist der Größenmaßstab! Mein Körper ist klein und seiner Kraft beraubt, aber ich kann jede andere Form annehmen, die meiner Größe entspricht. Warum geschieht das alles? Soll ich daraus etwas lernen?
Charna hing reglos an der Decke und überdachte ihre Situation. Hier in dieser Illusion des Namenlosen Abgrunds und auch zurück auf Kabal, wo Probleme einer größeren Ordnung auf sie warteten. Sie erkannte, dass sie sich zu sehr auf ihre Macht und ihren Einfluss verlassen hatte. Sie musste ihre Kräfte geschickter und weiser einsetzen als zuvor. Den Kampf um die Vorherrschaft auf Kabal konnte sie nicht im rohen Kräftemessen gewinnen. Sie musste sich anpassen und vielseitig sein, wenn sie der überlegenen Macht der Frostreiche nicht unterliegen wollte.
Der Mann kehrte in das Zimmer zurück und blieb direkt unter ihr stehen. Er kratzte sich ausgiebig am Kopf und helle Schuppen fielen im Licht der Öllampe flirrend auf seine Schultern.
Charna folgte einem Impuls und ließ sich an einem Faden herab. Sie landete auf seinem Rücken und ignorierte die vertrockneten Reste der Kopfhaut, die den Stoff bedeckten. Sie verkrallte sich mit ihren acht Klauen in der groben Faser seiner Jacke und wartete ab. Der Riese wühlte noch einmal in der Truhe herum, schimpfte leise vor sich hin und verließ das Zimmer durch die einzige Tür. Der andere Raum war größer und hatte ebenfalls eine Tür an seinem Ende, die mit einem schweren Balken gesichert war. Charna war sich sicher, dass es sich um eine Außentür handelte. Sie sprang vom Rücken des Mannes herab und ließ sich an einem Faden zum Boden hinab. Wie ein geölter Blitz lief sie in eine Ecke des Zimmers und erklomm die Wand. Sie sah sich um, was ihr in ihrer Spinnengestalt einfacher erschien, als je zuvor. Es war ein Raum mit Ofen und Bett, auch hier kein Fenster, nur die eine Tür am gegenüberliegenden Ende. Charna fühlte stärker als zuvor das absurde Element dieses Trugbildes. Sie wusste unversehens, dass sie nur die Tür passieren musste, um diese Vorstellung zu beenden.
Bis zur nächsten Ecke des Zimmers rannte sie an der Wand entlang und ihre acht Beine trugen sie leichtfüßig auf der Mauer voran, obwohl die Schwerkraft sie hinabzerren wollte. Sie erreichte ohne Zwischenfall die Tür, während der Riese ein Essen auf einem alten Ofen zubereitete. Der Geruch ranzigen Fetts war ekelerregend.
Sie ließ sich zu Boden fallen und lief zur untersten Kante der Tür. Um eine Ritze oder einen Spalt zu finden, der sie hindurch lassen konnte, flitzte sie schnell daran entlang. Als sie endlich eine Fuge entdeckte, war diese nicht hoch genug für ihren Spinnenleib. Sie verwandelte sich in eine Schabe, aber sie war nicht ausreichend flach. Sie probierte einen platten Wurm, doch der Platz reichte nicht aus. Sie wählte erneut die Spinnenform und lief die Kanten der Tür ab. Kein Einschnitt war breit genug, sie hindurch zu lassen.
Das ist nicht fair!
Sie betrachtete die Tür. Hier war nur ein schwerer Holzriegel, kein Schlüsselloch, durch das sie eventuell hindurchgepasst hätte.
Es muss eine Alternative geben! Ich denke nicht kreativ genug innerhalb meiner Möglichkeiten.
Sie beobachtete den riesenhaften Mann. Wenn sie es schaffte, ihn dazu zu bringen, die Tür zu öffnen, dann war sie in Freiheit und würde dieses leidige Spielchen beendet haben. Sie konnte auch warten, bis er den Raum verließ, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie die Initiative ergreifen musste oder ewig hier verharrte.
Sie verwandelte sich in eine Hornisse.
Sie flog in die andere Ecke des Zimmers und näherte sich dem Mann surrend. Er riss die Augen auf und rannte zur Tür, öffnete sie und ergriff ein Tuch vom Tisch. Er wedelte damit und scheuchte sie mit respektvollem Abstand hinaus. Charna flog in die Höhle und entfernte sich rasch von dem Riesen. Sie flog, bis sie ihn aus den Augen verloren hatte. Das Fliegen selbst ging in einen angenehmen Schwebezustand über, der sie alles vergessen ließ. Als ein grauer Nebel vor ihren Augen auftrat, schwand ihr das Bewusstsein.
Charna erwachte in einem Zimmer mit niedriger Gewölbedecke. Sie lag auf dem Boden, der ihr seltsam vertraut erschien. Schwarze und grüne Fliesen, kaum handtellergroß, breiteten sich schmutzig und kalt unter ihr aus. Sie war voller Staub und Dreck, ihr weißes Hüftuch war um ihre Wade gewickelt und blutig. Sie nahm es ab. Ein winziger roter Einstich an ihrer Wade juckte wie ein Insektenstich. Die Wunde schloss sich sofort und ihre abgebrochenen Fingernägel wuchsen augenblicklich nach, so schwarz, wie sie von Geburt an gewesen waren. Die Kratzer und Schürfwunden an ihren Knien und Ellbogen verheilten.
Charna schüttelte den Kopf und lachte dann. Sie erhob sich und hatte das erste Mal in ihrem Leben Schmerzen in den Muskeln. Ihre regenerativen Kräfte sorgten dafür, dass die Ursache für die Beschwerden sofort beseitigt wurde, doch sie erinnerte sich an den Anlass und überprüfte sich. Sie spürte ihre magischen Reserven, sah die Einzelheiten des Zimmers in der Dunkelheit. Das Pentacut strahlte seine Macht aus und schützte ihren Körper wie ein undurchdringlicher Panzer.
Als ob das alles nie passiert wäre. Dennoch ist das Tuch blutig und meine Muskeln schmerzen. Was ist das nur für ein Ort, an dem du lebst, Seral?
Sie sah sich um. Vor ihr war eine Tür, die fast bis zu Decke reichte. Zu ihren Füßen lag ein Haufen Scherben und eine rostige Kette, deren Glieder das Gewicht der Lampe nicht mehr gehalten hatten. Ein kleiner Tisch, vermodert und dem Zusammenbrechen nahe, stand an einer Wand. Gegenüber war eine Truhe zu sehen. Charna öffnete sie und fand inmitten allerlei Gerümpels eine rostige Nähnadel mit einem feinen Nadelöhr. Sie nahm die Nadel an sich und stach sie sorgsam in das Tuch, das sie sich wieder um die Hüften geschlungen hatte. In der Wand hinter ihr war ein Mauseloch.
Die Tür öffnete sich knarrend, als Charna die Klinke betätigte. Dahinter war ein Raum mit einem verrosteten Ofen und einem zusammengebrochenen Bett. Ein Skelett lag darin. Charna lachte, als eine Spinne aus dem Augapfel kroch.
»Mach‘s gut! Und vielen Dank!«
Sie verließ den Raum durch die Tür, die nun offen stand. Dahinter war eine Höhle, so gewaltig, dass sich Wolken am »Himmel« bildeten. Ein Meer und ein weißer Strand waren in hundert Schritt Entfernung sichtbar. Am Horizont kreuzte ein Segelschiff den Wind. Charna drehte sich um und hinter ihr lag der Ausgang des Tunnels, der sie zuvor herab geführt hatte. Gläserne Laternen glühten in der Dunkelheit. Jede Spur von dem Raum, den sie soeben durchschritten hatte, war verschwunden. Sie überprüfte das Tuch um ihre Hüften und fand die Nähnadel, doch sie hatte sich verändert.
Sie glitzerte golden.
Charna schüttelte den Kopf und musterte ihre Umgebung. Sie wechselte in die Aura-Sicht und analysierte die Energieströme, die hier vorhanden waren. Sie sah die statische Kraft der Felsen hinter sich, die fließende Energie des Meeres vor sich. Hoch oben in der Luft zuckte die Macht des Blitzes durch die Wolken.
Sie rief ein Feuer in ihrer Hand herbei und ließ es wieder verschwinden.
Alles schien real.
Ich verlasse mich schon wieder nur auf meine magischen Kräfte. Ich habe andere Sinne, ich muss sie gebrauchen!
Sie sog den Geruch der Meeresbrise auf, lauschte der Brandung. Ein Gefühl wie Heimweh überkam sie, als sie den Strand betrat. Der Sand kitzelte an ihren Zehen und sie trat ins Wasser, das kalt und nass ihre Knöchel und Waden umspülte. Die Brise kühlte ihre Haut. Empfindungen, die Charna immer seltener zugelassen hatte, durchfluteten sie. Sie schloss die Lider und atmete tief und ruhig, jeden Atemzug schmeckend. Sie lauschte den Wogen und verlor sich im Mantra ihres rhythmischen Rauschens. Nach einer Weile öffnete sie die Augen. Ein fernes Licht am Himmel, das keine Sonne war, aber ebenso hell schien, glitzerte strahlend weiß auf den dunkelgrünen Wellen. Charna hob eine große Muschel auf und bewunderte die gedrehte Form des Gehäuses, das Schimmern des Perlmutts im Inneren, das Muster der Pastellfarben, die in Hundert Abstufungen von Apricot und Elfenbein filigrane Mäander bildeten. Sie betastete die rauen Vorsprünge und das glatte Innenleben. Sich wie ein Kind fühlend, das die Welt entdeckte, lächelte sie bei dem Gefühl unter ihren Fingerspitzen.
»Deine Anreise war länger als üblich.« Die tiefe Stimme ertönte leise hinter der Hohepriesterin.
Sie erschrak, doch sie ließ es sich nicht anmerken. »Was ist das für eine Welt, in der du lebst, Seral? Ich begreife sie nicht, aber sie lässt mich Dinge begreifen. Ich weiß nicht, was hier Wirklichkeit ist und was nicht.«
Sie drehte sich um, die Muschel in ihren Händen. Groß und schlank, mehr drahtig als muskulös, stand Seral vor ihr. Seine perlweiße Haut war von feinen Mustern durchsetzt und kontrastierte mit seinen schwarzen, federbesetzten Schwingen. Die grünen Augen, die Charna ruhig musterten waren beinahe normal.
»Dies ist die Welt des Unbewussten. In ihr wird dein Innerstes nach außen gekehrt, wenn du es zulässt. Du hast viele Probleme zu bewältigen und du kennst die Lösungen noch nicht. Das Unbewusste in dir weist dir den Weg, den dein Verstand beschreiten muss.«
Charna spürte, dass etwas im Inneren der Muschel war und sie ließ es in ihre Hand fallen. Eine schwarze Perle, schimmernd, groß und perfekt lag in ihrer Handfläche.
»Was ist das?«, fragte Charna überrascht.
»Ein Symbol.«
»Ein Fremdkörper drang in die Muschel, die Perle schließt ihn ein …«, überlegte Charna gedankenverloren.
»Ist es Zweifel oder Gewissheit? Du lässt beides nicht zu. Deine Mutter …«
»SCHWEIG!« Die Stimme der Hohepriesterin schallte mächtig über das Höhlenmeer. Ihre Augen flammten wütend auf und die Muschel in ihrer Hand verglühte zu Asche, bevor sie es merkte.
Seral musterte sie ruhig.
»Es ist dein Unbewusstes, was zu dir spricht.«
»Aber es ist deine Interpretation. Sie ist nicht tot.«
»Bin ich hier?«
Charna stolperte zurück, als Seral plötzlich verschwunden war. Sie schaute auf die verkohlte Muschel in ihrer Hand und ließ sich auf die Knie fallen. Der Schmerz des Verlustes, den sie seit so vielen Jahren leugnete, brannte aus den Tiefen ihrer Seele heraus und ebnete sich seinen feurigen Weg in ihre Kehle. Sie schrie ihn hinaus und brennende Tränen liefen, Magmaströmen gleich, über ihre Wangen. Eine Flut des Elends brach aus ihr hervor. Die Tochter der Göttin des Feuers und des Drachenherrschers von Krain hatte keine Tränen aus Wasser zu verschwenden. Ihre Gefühle, unkontrolliert und gewaltig, veränderten das Gefüge ihrer Welt und verbrannten sie.
Der Strand fing Feuer.
Der Sand verwandelte sich in Glas.
Die Wellen verdampften in dem Inferno, dass die Höhle verzehrte und Nebel stieg auf, der Charna allmählich einhüllte.
Eine Ewigkeit später hob sie den Kopf. Das Rauschen des Meeres war fort, die Flammen erloschen. Sie saß in einem hellen Burghof. Kunstwerke, Skulpturen und Rosen belebten den kleinen Innenhof, der aus uraltem Mauerwerk bestand und ihr vertraut war. Zwei Schmetterlinge flogen an ihr vorbei, flatterten im sanften Sonnenlicht umher. Treppen und Türen, Fenster und Balkone säumten die Türme und Mauern von Serals Burg. Dies war endlich der Ort, den sie die ganze Zeit gesucht hatte. Charna fühlte sich erschöpft und unendlich leer.
Bin ich wahrhaftig hier?
Eine Tür flog auf. Seral kam heraus und lachte sie freundlich an. Dann sah er ihren körperlichen Zustand, den Staub, die Asche und ihren Blick.
»Dein Weg hierher war diesmal keine vergnügliche Reise, nehme ich an?«
»Bist du real?«, flüsterte sie schwach.
»Ich hatte dich davor gewarnt, unvorbereitet in den Namenlosen Abgrund zu reisen«, sagte Seral.
»Das nächste Mal sende ich dir die vereinbarte Nachricht, damit du mich am Eingang abholst, wie das letzte Mal«, sagte Charna mit rauer und leiser Stimme. Sie erhob sich und Seral trat zu ihr. Sie sahen sich in die Augen und er schloss sie endlich in die Arme. Charna begrub ihr Gesicht in seiner Brust. Sie blieben lange Zeit so stehen und er strich über ihr Haar, ohne etwas zu sagen. Schließlich schob er sie sanft von sich und küsste sie zärtlich auf den Mund. Sie erwiderte den Kuss erst zurückhaltend, dann inniger. Seral fuhr mit der Hand sanft über ihren Nacken.
Kabal kann noch etwas warten!
Seral hob sie vom Boden auf und schwang sich in die Luft. Er verließ den Innenhof und stieg rasch höher. Sie flogen durch eine kolossale Höhle. An der Decke glimmte eine kleine Sonne und warf ihr freundliches, warmes Licht über eine abwechslungsreiche Landschaft, die wie eine Miniaturwelt aussah. Auf minimalstem Raum waren die unterschiedlichsten Klimata und Terrains zu sehen.
»Du sagtest mir, du liebst die Wüste, nicht wahr?«, fragte Seral und sie nickte lächelnd.
Real oder nicht, ich liebe Dich, Seral.
Seral steuerte einen Landstrich an, dessen gelber Sand in weichen Dünen wogte. Mitten darin bettete sich eine grüne Oase mit Palmen und einem kleinen See klaren Wassers, an dessen Ufer Seral landete. Er behielt Charna auf den Armen und stieg in das warme Wasser hinein. Er gab ihr einen Kuss und ließ sie hineinplumpsen.
»Wird Zeit, dass du sauber wirst. Du siehst unmöglich aus!«, sagte Seral lachend und spritzte ihr Wasser ins Gesicht.
Charna spielte Entsetzen. Sie alberten herum und tauchten unter. Seral jagte sie unter Wasser und fing sie ein. Weder er noch sie brauchten Luft zum Atmen und so trieben sie ihr infantiles Spielchen unterhalb der Wasseroberfläche weiter, bis aus den Albernheiten Zärtlichkeiten wurden. Charna überflutete ein unbändiges Verlangen nach mehr und zog Seral mit sich an das Ufer, wo etwas flaches Gras eine kleine Wiese gebildet hatte.
Sie ließ ihr Hüfttuch fallen und glitt an Serals Gestalt herab. Sie wickelte sein schwarzes Lendentuch ab, warf es beiseite und verwöhnte ihn mit einer Hingabe, die sie selbst erregte. Seral hob sie vom Boden auf und Charna klammerte ihre Beine um seine Hüfte. Stückchenweise ließ er sie herabsinken und bestimmte dann den Rhythmus. Sie küssten sich intensiv dabei, bis er sie schließlich ins Gras legte. Charna ließ sich gehen und stöhnte laut auf, als er erneut in sie drang. Sie dachte nicht mehr an die Sorgen der Gegenwart, verlor den Sinn für die Zeit und genoss jede Sekunde ihrer Begierde. Sie erreichte mit einem Aufschrei den Höhepunkt. Nach der Anspannung der letzten Stunden war das eine unvergleichliche Erlösung.
Seral zog sie lächelnd mit sich ins Gras, doch sie ließ nicht locker, wollte zurückgeben, was sie erhalten hatte und setzte sich auf ihn. Die Hohepriesterin ließ ihre Hüfte kreisen, bis er sich stöhnend unter ihr aufbäumte. Leise lachend zerrte er sie zu sich und küsste sie, als sie nebeneinanderlagen. Charna fuhr mit den Fingern über die Linien auf seiner Brust. Er spielte mit ihren Strähnen und legte eine seiner Schwingen um sie.
»Du bist aus einem bestimmten Grund zu mir gekommen. Und es war nicht das Verlangen nach dem, was wir gerade gemacht haben, was dich hergeführt hat.«
»Bist du dir da so sicher?« Charna tippte mit den Fingerspitzen langsam an seiner Brust hinab. »Es war gewiss nicht das letzte Mal …«, sagte sie und biss sich leicht auf die Unterlippe, als sie ihre Hand über seinen muskulösen Unterleib gleiten ließ, bis ihre Finger festen Halt fanden.
»Du gieriges Biest!«
Charna lachte leise. »Ruh dich aus, du hast genug geleistet für heute«, sagte sie sanft und legte ihren Kopf auf seinen Bauch. Sie hingen beide still ihren Gedanken nach, atmeten im Gleichklang. Seral war so entspannt, dass er nach kurzer Zeit einschlief. Sie genoss seine Nähe, das ruhige Auf und Ab seiner glatten Brust, den kräftigen Schlag seines Herzens. Als er wieder erwachte, war sie jedoch unweigerlich mit den Gedanken bei Kabal und bei ihren aktuellen Problemen angelangt.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Seral und streichelte ihren Rücken.
»Die Sidaji sterben. Ich brauche deine Fähigkeiten und die offizielle Unterstützung des Namenlosen Abgrunds.«
Seral überdachte eine Weile schweigend ihre Worte, bevor er antwortete. »Mein Reich existiert außerhalb Kabals, aber es ist untrennbar mit ihm verbunden. Jenara und ich sind seit Urzeiten befeindet und sie hasst mich dafür, dass ich nun über den Namenlosen Abgrund gebiete. Dich und mich verbindet mehr als eine Zweckgemeinschaft oder die Loyalität Verbündeter im Kampf und mein Herz schreit danach, nicht von deiner Seite zu weichen, egal was kommt. Dennoch kann ich dir im Moment am Besten dienen, wenn ich hier im Namenlosen Abgrund verbleibe. Meine Position ist noch schwach und es gibt Herausforderer, die meine Stellung anzweifeln. Würde ich den Namenlosen Abgrund in dieser Phase verlassen, könnte ich die Kontrolle verlieren. Das würde deine Machtstellung letztlich auch schwächen. Meine Unterstützung ist dir aber sicher.«
Charna küsste ihn. »Ich danke dir. Für alles.«
Seral lächelte sie an. »Was hast du vor?«
»Wir werden ein Treffen mit Jenara und den Vertretern der Frostreiche bei den Sidaji vereinbaren. Ich möchte einen Friedensvertrag schließen, solange noch ein Sidaji am Leben ist.«
»Darauf wird sie sich niemals einlassen.«
»Ich muss es zumindest versuchen.«
»Ich gebe dir einen Botschafter als Vertreter mit. Jenara wird begreifen, dass ich auf deiner Seite stehe. Das könnte dir bei den Verhandlungen nützen.«
Seral überlegte einen Augenblick. »Mehmood wird dich begleiten. Jenara weiß, dass er den Zugang zum Namenlosen Abgrund kontrolliert. Wenn er dich begleitet, wird sie meine Herrschaft hier nicht mehr anzweifeln.«
Charna nickte und streichelte Serals Wange. »Ich hatte gehofft, wir könnten mehr Zeit miteinander verbringen.«
Seral küsste sie. »Wir werden mehr Zeit miteinander verbringen.«
Charna erhob sich und zog Seral lachend auf die Füße.
Er ergriff ihr Tuch und zuckte zurück. »Au. Was ist das?« Seral schaute die goldene Nadel in dem zerschundenen Stoff an und legte die Stirn in Falten. Ein Blutstropfen erschien auf seinem Zeigefinger. »Gib gut darauf Acht. Solche Manifestationen sind selten, kostbar und mächtig, wenn man mit ihnen umzugehen weiß.«
Charna dachte an die schwarze Perle. Sie tauchte unvermittelt in ihrer Hand auf und sie zuckte zusammen.
»Was hast du da?« Seral begutachtete die Perle in ihrer Hand.
»Ich habe sie aus einer Muschel. Du warst da und sprachst mit mir.«
Seral lächelte. »Das war ich nicht. Dein Unbewusstes hat zu dir gesprochen und meine Erscheinung als Form gewählt.« Er gab ihr einen Kuss. »Die Perle steht für etwas Bedeutendes in dir, deinem Leben, deinen Gefühlen. Sie erscheint in deiner Hand, wenn du an diese wichtige Sache denkst. Sie ruht in dir, solange du sie ignorierst. Aber sie ist stets da. Sie wird erst dann verloren gehen, wenn du dich dem gestellt hast, was sie repräsentiert.«
Charna starrte auf das schwarze, glitzernde Ding in ihrer Hand und fühlte sein unverhältnismäßiges Gewicht, das sie zu Boden drückte. Seral strich eine Strähne aus ihrem Gesicht und sie sah auf. Die Perle verschwand. Er ergriff Charnas Hand und sie folgte ihm in die Luft, als er sich vom Boden abstieß. Er steuerte direkt auf die kleine Sonne zu, die an der Decke der Höhle hing. Als das Licht schmerzhaft grell zu werden drohte, nahm Charna eine Verzerrung des Raum-Zeit-Kontinuums wahr. Sie waren zurück auf Kabal. Auf eine Weise, die sie nicht begriff, hatte Seral eine Teleportation bewirkt. Obols Sichel hing am Himmel, die Sterne glitzerten im Mantel der Nacht. Serals Flügel wirbelten durch den Wind, der über der Wüste Sa‘Ilak wehte. Sie waren zweihundert Schritt über dem Sandboden. Charna erkannte ein Tierskelett, das mit einem blassblauen Zelttuch bespannt war. Mehmoods Unterkunft. Seral ließ sich auf den Grund herab und zog Charna mit sich. Sie landeten vor Mehmoods Zelt, der bereits herauskam und sich lächelnd verneigte.
»Tee?«, fragte er aufmunternd.
Charna lächelte schief und schüttelte den Kopf.
»Ein anderes Mal. Vielen Dank«, sagte Seral.
Mehmood stöhnte. »Ihr habt keine Ahnung, wie langweilig es hier draußen ist, oder?«
»Ich sorge für ein bisschen Abwechslung. Ich möchte, dass du die Hohepriesterin zu den Sidaji begleitest«, sagte Seral und Mehmood warf Charna einen ernsten Blick zu.
»Ich verstehe. Das kann nur bedeuten, das du Jenara eine Botschaft senden willst«, sagte Mehmood mit einem Nicken in Richtung Seral und verneigte sich dann vor Charna. Die Geste und sein Ausdruck waren feierlich.
»Meine Loyalität ist Euch sicher, Hohepriesterin.«
Charna verneigte sich ebenfalls. »Ich danke Euch, Mehmood.«
»Ihr brecht am Besten sofort auf. Wer weiß, wie lange die Sidaji noch durchhalten«, sagte Seral.
Charna stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Nach einer halben Minute hüstelte Mehmood indigniert. Seral und Charna lösten sich widerwillig voneinander.
»Hoffentlich bis bald!«, sagte sie leise und Seral lächelte, als er ihr zum Abschied über die Wange streichelte. Er sprang in die Luft und flog mit kräftigen Flügelschlägen in Richtung Mond, bis er nicht mehr zu sehen war.
»Lasst mich schnell ein paar Sachen packen«, sagte Mehmood und verschwand in sein Zelt.
Charna schlenderte einige Schritte durch den immer noch warmen Wüstensand. Die Luft war bereits abgekühlt. Die Reise in den Namenlosen Abgrund war ganz anders verlaufen, als sie gedacht hatte. Sie zupfte die glitzernde Nadel aus ihrem Hüfttuch. Sie wollte unbedingt, dass die Friedensverhandlungen mit den Frostreichen glückten. Doch sie war nicht bereit, die Souveränität Iidrashs preiszugeben. Sie war entschlossen, dafür zu kämpfen. Und sie wusste nun, dass sie ungewöhnliche Mittel und Raffinesse stumpfer Kraft und Direktheit vorziehen musste, wenn es zu einer Auseinandersetzung, gleich welcher Art kommen sollte. Sie schob die Nadel zurück in den Stoff. Sie wollte nicht daran denken, dass sie allmählich die Hoffnung verließ, ihre Mutter lebend zu finden. Doch die schwarze Perle erschien in ihrer Handfläche und erinnerte sie unerbittlich an die Gefühle, mit denen sie sich auseinandersetzen musste.
»Ich bin soweit!«, sagte Mehmood, kam aus dem Zelt und trug eine große Tasche über der Schulter. Ein silberner Dolch mit imposanten Ausmaßen steckte in seinem Gürtel.
Charna trat zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Bereit für einen Sprung?«
Mehmood nickte und hielt sein Gepäck fest. Charna rief einen Machtstrang herbei und ließ sie direkt in die Wohnetage im Tempel von Idrak springen. Sie erschienen unvermittelt und in einem Lichtblitz im Flur zwischen den Türen. Eine anwesende Priesterin erschrak sich heftig, sammelte sich jedoch augenblicklich, als sie die Hohepriesterin erkannte.
»Such bitte ein Quartier für unseren Gast. Irgendwo hier in der Nähe, ja?«
Die Priesterin nickte.
»Sind Cendrine und Seraphia schon zurück?«
»Ich weiß es nicht, Hohepriesterin.«
»Finde es heraus und erstatte Bericht in meinen Gemächern! Sende Serals Botschafter eine Adeptin.«
Mehmood grinste.
Charna warf ihm einen warnenden Blick zu und er verschluckte sein Grinsen eilig. »Wir sehen uns morgen früh.«
Mehmood verneigte sich und folgte der Priesterin. Zahllose Probleme fielen Charna ein, als sie in Richtung ihrer Gemächer eilte. Neben einer leeren Zimmerflucht bot sich die Lösung eines kleineren Problems an. Sie öffnete die Tür und begutachtete die Räumlichkeiten.
Das dürfte Seraphia gefallen. Und ich brauche sie jetzt hier in meiner Nähe. Ich muss ihren Aufstieg beschleunigen, damit die Macht der Dunklen Flamme dem Orden in diesen schweren Zeiten beistehen kann. Ich werde Seraphia zur Zeremonienmeisterin ernennen, dann gehört sie offiziell zum Inneren Kreis.
Sie hielt eine der Adeptinnen auf, die im Flur einen Stapel Handtücher trug, und gab ihr die Anweisung, Seraphias persönliche Dinge aus dem unteren Tempelbezirk hierher bringen zu lassen. Im Anschluss daran suchte sie ihre eigenen Gemächer auf.
Erst ein Bad, dann was Nahrhaftes und danach ein paar Stunden Schlaf. Hm, den Schlaf vergess ich mal lieber.