Kabal in Flammen

Kapitel 1

Tojantur - die Stadt unter dem Eis und das Heiligtum der Gottkaiserin der Völker der Frostreiche. Seraphia folgte der Hohepriesterin in die uralten Anlagen, die einst vollständig von Eis begraben waren und deren Erbauer vor langer Zeit vom Antlitz Kabals verschwunden waren. Vor ihnen lag ein breiter Korridor, in den Charna ohne zu zögern hineinging. Seraphia fühlte sich weit unsicherer in dieser fremdartigen Umgebung und hielt kurz inne, als sich das schwere Tor hinter ihnen schloss. Charna setzte sich die Kapuze ihrer weißen Jacke auf, wickelte den Schal um und vermummte sich so gut es ging. Sie wollten vermeiden, sofort erkannt zu werden und die Hohepriesterin hatte sie angewiesen zu schweigen, denn die Hochsprache der Völker der Frostreiche beherrschte Seraphia nicht. Charna hingegen war hier aufgewachsen und konnte sich unauffällig mit den Einwohnern verständigen. Sie vermummte sich also ebenfalls so gut sie konnte und vergrub ihre Finger dankbar in dem dicken Wolfspelz, der den Kragen des grauen Mantels umsäumte, den Charna ihr gegeben hatte. Ihr Pentacut schützte ihren Körper vor Unterkühlung und Frostbeulen, bewahrte sie aber nicht vor den Sinneseindrücken. Die Kälte fraß sich einer ätzenden Säure gleich in ihre Knochen und ließ sie erzittern.

»Hier ist kein Mensch. Treffen wir bald auf jemanden?«

Charna seufzte. »Unmöglich ist es nicht, daher müssen wir vorsichtig sein, auch wenn es noch Stunden dauern mag, bevor wir jemandem begegnen. Wir sind ganz tief in den Eingeweiden der Stadt unter dem Eis. Hier unten lebt niemand.«

Ihre Schritte verhallten in Echos, die schrill und falsch in ihren Ohren klangen. Die kalte, klare Luft veränderte den Klang aller Geräusche, die harten Wände aus Stein, Metall und Eis warfen selbst ein sanft geflüstertes Wort in Tönen zurück, die wie zersplittertes Eis durch die Luft geschleudert wurden. Dies war kein Ort, um entspannte Gespräche zu führen und sie setzten ihren Weg schweigend und aufmerksam fort. Der Korridor brachte sie unter einer hohen Decke, an der in regelmäßigen Abständen Schalen mit leuchtenden Kristallen hingen, in eine kreisrunde Halle. In der Mitte ragte eine Stele auf, verziert mit Schriftzeichen, die Seraphia nicht lesen konnte. Sie hielten kurz inne und in der Stille hörte sie das kaum vernehmbare Knacken und Bersten des Eises, das auf Boden und Wänden wucherte wie Moos auf einem Felsen. Es machte sie unruhig. Auf der gegenüberliegenden Seite traten sie in einen kleinen Gang, der weiter geradeaus und dann in ein turmartiges Treppenhaus führte. Um eine leise Gangart bemüht, stiegen sie die breiten Treppen langsam hinauf, von einer Pfütze trüben Kristalllichts zur nächsten. Vorsichtig betraten sie den Boden im darüberliegenden Stockwerk. Seraphia machte sich Gedanken über die Architektur dieses eigenartigen Ortes. Sie konnte nicht sagen, ob die Hallen und Korridore aus dem Stein getrieben und allmählich unter dem Eis begraben worden waren, oder ob das viele Metall der Streben und Stützen, Kuppeln und Schwellen nicht viel mehr der Ursprung der Konstruktion war, die zwischen den ausgehöhlten Fundamenten des Gebirges entstanden war. Erst danach mochte das ganze Eis hier eingedrungen sein, lange bevor Tojantur wiederentdeckt wurde. Charna hatte davon gesprochen, dass Ihadrun, der Vater Jenaras, Tojantur unter dem Eis gefunden hatte und es freilegen ließ. Doch dies mochte vor so langer Zeit passiert sein, dass Seraphia keinen Sinn darin sah, den Zeitpunkt in Erfahrung zu bringen. Dieser Ort war da und wirkte genauso unvergänglich wie die Gänge und Säle Idraks. Nur war es hier tot und ausgestorben, wo in Idrak das Leben pulsierte.

»Pass auf!«, flüsterte Charna.

Seraphia blickte auf und erkannte eine Gruppe von Menschen, die ihnen entgegenkam. Sie war aufgeregt, es waren die ersten Bewohner Grandtals, die sie in ihrer Heimat sehen würde. Unter all der Kleidung war es jedoch schwer, Mann und Frau zu unterscheiden, abgesehen von einem offensichtlich magisch begabten Mann, dessen Initiation ihn mit der Muskulatur eines mächtigen Wesens ausgestattet hatte. Ein weißer Pelz wuchs auf seinen hellhäutigen Armen und Schultern und sein Kopf erinnerte an einen Bären. Er trug einen Speer mit silberner Spitze und brüniertes Kettengeflecht auf seinem Oberkörper und an seinen imposanten Beinen. Ein Kilt in schwarz-grünem Muster schimmerte durch die Ketten hindurch, ein breiter Ledergurt auf seiner Brust war mit einer filigran geschnitzten Scheibe aus Elfenbein oder ähnlichem Material verziert und zeigte eine Tatze mit scharfen Krallen. Er hielt den Arm hoch, als er Charna und Seraphia erkannte. Das Gefolge aus wenigstens dreißig Menschen kam zu einem abrupten Halt. Seraphia sah Rucksäcke, Taschen und Waffen. Frauen, Kinder und Halbwüchsige wurden von kräftigen Männern mit Speeren und Schilden umrundet. Der Bärenmann trat langsam und mit großer Bedachtsamkeit vor. Die Hohepriesterin schwieg und wartete ab, bis er auf Speerlänge herangekommen war. Seine lange Schnauze wies ein beeindruckendes Paar Nüstern auf und er schnüffelte neugierig. Dann richtete er sein Wort an Charna. Seraphia verstand kein Wort der rauen Sprache, die seiner Kehle entstieg wie die letzten Nachwirkungen einer Lungenentzündung. Die Hohepriesterin antwortete, doch ihre melodiöse Stimme war an die harten Laute dieser Sprache verschwendet. Das Gespräch dauerte nur eine Minute, dann winkte der Bärenmann seine Gefolgschaft heran.

Charna bedeutete ihr wortlos, beiseitezutreten und Seraphia kam der Aufforderung sofort nach. Der Bärenmann stellte sich wachsamen Blickes vor Seraphia und Charna, während der Tross an ihnen vorbeizog. Die hellblauen, verweinten Augen eines Kindes musterten Seraphia neugierig, doch der Rest der Leute ignorierte sie vollständig. Sie eilten schweigsam vorüber, die Hände der Männer krampfhaft um die Schäfte der Speere geschlossen, sodass ihnen die Knöchel weiß hervortraten. Seraphia blickte auf Verwundungen und zerrissene Kleidung, Schmauchspuren und getrocknetes Blut. Sie sah auf, als sie den durchdringenden Blick des Bärenmanns auf sich ruhen spürte. Sie hatte Angst, dass ihre Tarnung aufflog, gemahnte sich jedoch zur Ruhe und ließ etwas von der Kälte dieses Ortes in ihr Gemüt dringen, in der Hoffnung, er würde seinen Blick von ihr wenden.

Charna sprach flüsternd zu ihm und er wandte sich von Seraphia ab, antwortete ihr mit leiser Stimme, die so tief war, dass sie mehr wie ein Brummen klang und beinahe körperlich spürbar war. Seraphia erschrak, als sie die Hochsprache Iidrashs vernahm.

Er sprach mit starkem Akzent und großer Mühe, da er die Sprache nur schlecht beherrschte. »Du bist zu falsches Zeit auf falsches Ort, Sumi.«

Charna hob ihre Brille und wickelte den Schal ab.

Der Bärenmann brummte, es klang wie ein verhaltenes Lachen. »Deine Duft ich nie vergessen werde. Deine Begleiterin furchtlos ist und kruchtha! Aber nach Ärger sie riecht. Annehmen ich, du seien nicht zum Vergnügen hier, so wie früher?«

Charna lächelte. »Ich habe mich immer gefragt, ob du noch lebst, Uskai, oder ob dir die Trontiks deinen Dickschädel abgebissen haben. Komm her!«

Charna fiel dem riesenhaften Bärenmann um den Hals und er drückte sie einen langen Moment an sich, seine Nüstern geweitet, während die Füße der Hohepriesterin einen halben Schritt über dem Boden baumelten. Er setzte sie behutsam ab und ließ seinen Kopf in Richtung der Leute zucken.

»Ich nie vergessen habe dich, Sumi«, sagte er leise, bevor er lauter fortfuhr. »Wenn letzte Gruppe von … Sjidrug … Flüchtlingen hinausgebracht habe ich, ich zurück komme. Ich versiegeln werde Tore zu den Tiefen, damit Gorak-Krieger uns nicht folgen. Dann ich die Leute hoch in den Norden bringen lasse.«

Seraphia sah verblüfft auf. »Goraks Krieger sind hier?«

Uskai sah sie an und schnüffelte. »Jenara-Sjödra und Tjolfin in … Ügdra-Sill … Heiligtum gegen abtrünnige Sjögadrun und Gorak-Krieger kämpfen, aber sie verlieren werden. Gorak sich mit Königin von Frostturm verbündet und Grandtal ganz überrannt. Geplant von langer Hand. Wira schickt Anhänger nach Tojantur während Sidaji-Krise. Alles … infiltriert und zuschlugen gestern Nacht. Keine Chance für uns.«

Charna stemmte die Fäuste in die Hüften und fluchte. »Die Situation ist verfahrener, als ich geahnt hatte. Aber möglicherweise gereicht uns dies zum Vorteil.« Sie ging einige Schritte auf und ab. »Wir werden ihr zur Hilfe eilen.«

Seraphia warf Charna einen intensiven Blick zu. »Wem? Jenara?«, fragte sie fassungslos.

Charna hob die Hand. »Vertrau mir! Wir können es uns nicht leisten, sie zu verlieren. Wir brauchen sie, wenn wir Wira und Gorak vernichtet haben.«

»Ihr gegen Gorak und Wira kämpft?«, brummte Uskai verwundert.

»Was hast du gedacht?«, fragte Charna.

»Jeder hier denken, Wira unterworfen Orden und zwingen, durch Gefangennahme von Abbadis … Abtin- Äbtissin. Alle glauben, Umsturz durch Orden von Brennende Blut unterstützt und Wira Befehle dir geben tut. Munkelt man, du und Wira Cendrine verraten haben, um Macht in Iidrash und Orden bekommen ganz. In Ratssaal man häufig sprechen von Zwist zwischen dir und Äbtissin von Flammengrube.« Uskai schnaubte. »Lange wir uns nicht gesehen haben, Sumi, aber ich wissen ganz sicher, dass diese … idrigelenur…niederträchtigen Lügen nicht Wahrheit.«

Charna schüttelte den Kopf. »Politik!«

Uskai strich der Hohepriesterin mit einem gewaltigen krallenbewehrten Finger über die Wange und Charna lächelte, als er sprach.

»Ich riechen keinen Verrat, Sumi. Du seien immer noch mein kleiner Feuerteufel. Wissen ich, dass Männer und Frauen von Rat … verfault. Sie dich kennen nicht.«

»Machtgierige Lügner, sie reden mit gespaltener Zunge und verdrehen jedes Wort, bis es keinen Sinn mehr macht.«

Uskai brummte zustimmend. »Ich dich zu Ügdra-Sill bringen. Weg geheim dorthin. Ich dich jedoch um Eid bitten müssen.«

Charna sah den Flüchtlingen hinterher, die beinahe außer Sichtweite waren. »Willst du ihnen nicht helfen?«

»Sie draußen treffen auf Tuskaniim und … Werwölfe. Tuskaniim schwören Jenara Treue und helfen. Lager dort, wo sie aufgenommen, bevor in Norden fliehen. Ich alles tun, für Rettung von Jenara-Sjödra.«

Charna nickte mit ernstem Blick. Uskais Loyalität war eindeutig. Seraphia wusste nicht, ob sie dem Bärenmann so vertrauen würde, wie Charna dies tat. Womöglich rannten sie geradewegs in eine Falle Jenaras, wenn sie Uskai folgten.

Eine größere List ist gefragt. Wir folgen diesem Bär von einem Mann und ich werde ihn im Auge behalten. Wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht, werde ich ihn auf seinem eigenen Speer braten wie einen Hasen am Spieß.

Seraphia erschrak ein wenig angesichts der kalten Klarheit ihrer Gedanken, doch dann atmete sie tief ein und erkannte, dass sie gut daran tat, ihr Vertrauen nicht leichtfertig zu verschenken. So weit es sie anging, war dies Feindesland. Sie hatte keine alten Freunde hier und erwartete auch keinen warmen Empfang.

Einer der Männer aus der Gruppe der Flüchtlinge näherte sich und blieb mit einigem Abstand zu ihnen stehen. Seraphia und Charna achteten darauf, dass er ihre Gesichter nicht erkannte, denn ihre dunklere Haut, ihr schwarzes Haar und der goldene Schmuck des Pentacuts zeigten ihre Herkunft überdeutlich. Uskai nickte ihm zu und wandte sich noch einmal an Charna. Diesmal sprach er in der Hochsprache der Völker der Frostreiche, wie sie beinahe überall in Grandtal gesprochen wurde. Danach folgte er dem Flüchtling und war bald außer Sicht.

»Wir werden uns mit ihm an einem Ort treffen, der uns beiden bekannt ist, nachdem er die Flüchtlinge zu den Tuskaniim gebracht hat.«

Seraphia erinnerte sich mit einem Schaudern an die Werwölfe und versuchte sich vorzustellen, wie die Frauen, diese Tuskaniim wohl aussehen mochten und was die Flüchtlinge hoch im Norden erwartete.

»Ich werde einen genauen Blick auf Uskai werfen. Wenn er etwas Verräterisches tut, dann …«

»Bleib ruhig, Sera! Der Mann ist vertrauenswürdig.«

»Sicher?«

Charna schwieg überlegend und sah zur Seite, bevor sie leise sprach. »Es schadet nicht, die Augen offen zu halten. Aber bitte füge ihm keinen Schaden zu, wenn du nicht sicher bist, ob er etwas … im Schilde führt. Ich kann es mir jedoch nicht vorstellen. Gleichgültig. Wir werden schneller zu Jenara kommen und die Situation ausnutzen.«

Die Hohepriesterin setzte die Kapuze auf und vermummte sich mit dem Schal. Die Brille ließ sie auf der Stirn. Sie wies mit der Hand den Weg und Seraphia folgte ihr den Korridor hinab, bis sie an eine seitliche Treppe kamen, über die sie das Stockwerk verließen. Die Treppe war relativ schmal und führte auf kurzen Stufen und in engen Windungen hinab. Tiefer und tiefer bohrte sich die Spirale in die Erde, bis sie unvermittelt vor einer verschlossenen Tür standen. Charna erhob die Hand und ein mechanisches Geräusch ertönte aus dem Inneren der Tür, dann öffnete sie sich mit einem Summen. Eissplitter brachen von ihrer Oberfläche und fielen auf den Boden. Vor ihnen lag ein Tunnel aus Eis, der in natürlich aussehenden Windungen noch weiter hinabführte.

»Müssen wir nicht nach oben?«

»Wir warten hier unten, bis Uskai uns abholt. Wir sparen damit eine Menge Zeit. Darüber hinaus ist das Risiko, in seiner Gesellschaft angehalten und als Eindringlinge entlarvt zu werden, gleich null.«

Seraphia atmete ein. »Nun gut. Wo sind wir hier?«

»Dies sind Gänge von Eiswürmern, seit langer Zeit verlassen. Wir sind gleich da.«

Sie erreichten eine Viertelstunde später einen prunkvoll verzierten Durchgang, der in eine weite Halle führte. Ein See mit smaragdgrünem Wasser lag im Zentrum unter einer eisigen Kuppel, von der zahllose Eiszapfen herabhingen, manche so mächtig wie ausgewachsene Bäume. Ein Leuchten drang aus dem Wasser und etwas Nebel oder Wasserdampf stieg von seiner Oberfläche auf. Am Rande der Höhle waren Terrassen und Laubengänge angelegt, etliche vom Eis erdrückt oder vom Zahn der Zeit zu malerischen Ruinen zernagt. Der Ort strahlte immer noch eine ansteckende Gelassenheit und Ruhe aus. Seraphia glaubte, eine Wärme zu spüren, die vom Wasser ausstrahlte.

»Ein warmer Quellsee? Hier? Wie kann das sein?«

»Tief unten, auf seinem Grund ruht eine Maschine, die das Wasser erwärmt. Ich hatte angenommen, sie wäre inzwischen zerstört«, sagte Charna mit einem Lächeln und ließ den Blick durch den Raum gleiten.

Seraphia lächelte. »Schöne Erinnerungen?«

Charna lachte leise. »Ja. Das ist so lange her. Hier trafen Uskai und ich das erste Mal aufeinander. Er war noch ein junger Mann, kaum ein Jahr nach seiner Initiation. Er war ein Tollpatsch und todunglücklich. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, mir beim Baden zuzusehen.«

Seraphia zog die Augenbrauen hoch. »Ein Spanner?«

»Ein einsamer junger Mann. Wir wurden Freunde, nachdem ich ihn deswegen verprügelt hatte.« Charna lachte laut und ihre Stimme warf laute Echos. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Danach verstanden wir uns … erheblich besser.«

»Ich verstehe.«

»Wir haben uns über viele Jahre hinweg immer wieder hier getroffen und sind heimlich in die Tiefen hinabgetaucht. Wir verbrachten Tage da unten, wo die Räume und Hallen überschwemmt sind. Dort sind womöglich mehr Geheimnisse vergraben, als mir bewusst ist.«

Seraphia trat an das seichte Ufer des Sees und versuchte, in seine Tiefe hinabzublicken. Ihr Blick viel durch glasklares Wasser.

»Wie lange taucht man bis zum Grund?«

»Stundenlang. Ein Ort, den wir eines Tages besuchen sollten.«

Seraphia lächelte. »Eines Tages …«

Sie umrundeten schweigend den See, hielten schließlich an einer uralten Steinbank an und setzten sich darauf.

Charna seufzte. »Es ist gut drei Stunden her, dass wir mit Uskai gesprochen haben. Es wird unter Umständen noch einen halben Tag dauern, bis er zurück ist. Wir sollten es uns gemütlich machen.«

Seraphia zog die Stirn kraus, als sie sich an den dunklen Traum erinnerte, durch den sie Kujaans Erinnerungen erlebt hatte. Die Macht der Dunklen Flamme war still gewesen, seit sie den Traum mit Charna erneut durchlebt hatte, doch sie hörte ein leises Flüstern, wenn sie einen Moment abgelenkt war, oder ihre Gedanken ziellos dahintrieben. Sie wusste, dass ihr eigener Kampf mit dieser schrecklichen Macht noch nicht überstanden war. Ihre größte Prüfung stand ihr noch bevor. Sie spürte eine warme Hand auf ihrer verkrampften Faust und zuckte zusammen.

»Ich bin bei dir, Sera. Hab kein Angst! Wir werden das gemeinsam durchstehen«, sagte Charna und lächelte sie warmherzig an. Sie schien ihre Gedanken zu lesen.

Seraphia nickte und biss sich auf die Unterlippe. Tränen verließen ihre Augen, bevor sie ihre Selbstkontrolle zurückerlangte. Charna strich sie fort und zog Seraphia zu sich. Sie klammerte sich an der Hohepriesterin fest und schluchzte unkontrolliert. Es war, als hätte sie eine Tür aufgestoßen, die seit einigen Stunden verschlossen war. Hinter dieser Tür herrschte ein verwirrendes Dickicht aus Licht und Schatten und im Zwielicht dazwischen lauerte der Wahnsinn.

Seraphia versuchte, sich zu zusammenzureißen. »Ich jammere wie ein Kleinkind … tut mir leid!«, murmelte sie mit gedämpfter Stimme in den Pelz an Charnas Jacke.

»Ist schon gut, mein Engel.«

»Schade, dass du ihr Gesicht nicht sehen kannst. Sie verdreht die Augen … was bist du nur für ein jämmerliches Häufchen Dreck!«

Seraphia zuckte zurück und stand auf, wischte sich mit einer ruckartigen Bewegung die Tränen aus dem Gesicht. Charna sah sie verblüfft an und erhob sich ebenfalls.

»Was ist? Hast du etwas gespürt? Ist mir etwas entgangen?«

Die Hohepriesterin, verstand ihr Verhalten falsch und wirkte alarmiert, sah sich in der Halle um, einen angespannten Blick auf den einzigen Zugang werfend, als ob sie einen Angriff erwartete. Seraphia wandte sich ab und warf sich die Kapuze des Mantels über den Kopf.

»So ist es richtig. Verbirg nur deine hässlichen schwarzen Augen … wenn sie dich so sähe, würde sie dich bei lebendigem Leibe zu einem Haufen Asche verbrennen!«

Charna trat näher. »Sera, was ist los?«

»Lass mich!«, sagte sie mit dunkler Stimme und Charna zuckte zurück.

Sei still, du Biest! Ich bin deine Worte leid! Charna hat mehr Verständnis für mich, als du jemals haben könntest! Sie würde mir niemals etwas antun!

»Glaubst du das wirklich? Du bist noch dümmer, als jeder denkt! Kein Wunder, dass sie alle so ein leichtes Spiel mit dir haben!«

»Sei still! Halt den Mund! Ich will dich nicht mehr sprechen hören, hast du mich verstanden, du Teufel!«

Charna zuckte zusammen und trat ein paar Schritte zurück, als Seraphia sie anschrie. Ihr Blick fiel auf Seraphias schwarze Augen und wurde zunehmend besorgter.

Was habe ich gesagt?

Ein Lachen verhallte in ihrem Kopf und ließ zitternd auf die Knie sinken. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen und brach in Tränen aus. Es dauerte nur einen Moment, dann spürte sie die warmen Hände der Hohepriesterin an ihren Schläfen. Ihre Stimme war leise, aber eindringlich.

»Sieh mich an, Sera!«

Seraphia schüttelte vehement den Kopf und ließ sich gänzlich auf den Boden sinken. Sie schrie ihre Wut und ihre Scham in ihre Hände und spürte ihre heißen Tränen auf den Handflächen brennen.

Meine Tränen brennen! Sie brennen tatsächlich!

»Du wirst verbrennen! Hier und jetzt in einer lodernden Feuersbrunst zu einem Haufen Asche verglühen! Ein Windhauch und nichts verbleibt von deiner kümmerlichen Existenz!«

Die Flammen in ihren Händen wuchsen empor und sie riss entsetzt die Arme hoch.

»Seraphia! Hör mich!«

Es war die Stimme der Hohepriesterin, die jetzt in ihrem Kopf widerhallte und Seraphia wurde mit einem Ruck aus ihrer Panik gerissen. Sie blickte in Charnas rote Augen, die kraftvoll leuchteten.

»Du bist deine eigene Königin, die Herrscherin deiner Gedanken! Niemand ist dir übergeordnet in deiner Domäne. Übernimm die Kontrolle! Atme langsam ein und aus …«

Seraphia beruhigte sich mit jedem Atemzug ein bisschen mehr. Die Angst davor, die schreckliche Stimme der Dunklen Flamme zu hören, die Stimme, die ihre eigene war und den dunkelsten, widerwärtigsten Teil ihres Wesens repräsentierte, blieb jedoch.

Sie atmete noch einmal tief ein und hielt die Hände der Hohepriesterin umklammert, während sie ihre Worte in Gedanken wie eine Litanei wiederholte.

»Meine arme Sera, wie kann ich nur die Bürde von dir nehmen?«

Seraphia schüttelte langsam den Kopf. »Ich darf nicht schwach werden! Ich muss weiterkämpfen!«

Charna drückte sie an sich. »Denk immer an das, was ich dir gesagt habe und vergiss nicht, dass du nicht allein bist!«

Seraphia nickte. Sie spürte den Stich eines Zweifels in ihrem Herzen und hasste sich selbst dafür.

»Eines Tages … wird sie dich verraten!«

Das Lachen hallte schrill in Seraphias Gedanken und sie biss sich auf die Unterlippe, bis sie ihr Blut schmeckte. Eine große Müdigkeit überfiel sie jäh und das Letzte, was sie spürte, waren die Arme der Hohepriesterin, die sie aufnahmen und auf die steinerne Bank betteten. Sie versank in einen tiefen und traumlosen Schlaf, den sie dringend nötig hatte.

-

Charna betrachtete das ausgemergelte Gesicht Seraphias und streichelte ihre Stirn. Ihr Schlafzauber wirkte zum Glück.

Du musst mehr ertragen, als man dir hätte zumuten dürfen. Ich werde Cendrine dafür zur Verantwortung ziehen.

Sie zog ihre Lederjacke aus, faltete sie zusammen und legte sie Seraphia vorsichtig als Kissen unter den Kopf.

Es wird noch dauern, bis Uskai zurückkommt. Ich hätte an etwas zu essen denken können. Ich vergesse Jahr um Jahr mehr, was es heißt, ein Mensch zu sein. War ich jemals ein Mensch? Was bin ich überhaupt? Ich höre die Stimmen der Kraindrachen in meinem Kopf, solange ich denken kann. Doch die Ereignisse bei der Schlacht im Sumpfreich der Sidaji und meine Verwandlung haben etwas bewirkt, das ich nicht verstehe … nur fühle. Es gibt keine Worte dafür.

Charna trat an den See und starrte durch den Wasserdampf. Sie dachte an Seral und spürte ein Verlangen nach seiner Nähe. Dies war jedoch nicht der Augenblick, um schwach zu werden. Sie musste konzentriert bleiben, ihre Gedanken auf die Gegenwart und die anliegenden Probleme richten. Jenara mochte die letzten Fragmente des Wissens hüten, das ihr in dieser Situation fehlte. Wer waren diese Subrada? Was hatte Seraphias Bericht von Thanasis Erzählung zu bedeuten? Hatte ihre Mutter ein Unrecht begangen und das Feuer gestohlen, dass Kabal zu dem gemacht hatte, was es heute war? Was war das Feuer denn tatsächlich? Natürlich kannte sie als Hohepriesterin alle Lektionen und Lehrsätze, Gebete und religiösen Texte. Doch es gab eine tiefere Wahrheit, eine Realität hinter dieser geheimnisvollen Macht, die ihr Leben bestimmte. Es mochte entscheidend sein, dass sie erfuhr, was das Feuer in Wirklichkeit war, statt es einfach als gegeben hinzunehmen. Jenara war ein Schritt auf dem Weg zu dieser Erkenntnis. Illusionen über die Haltung Jenaras machte sie sich jedoch nicht. Ihr Konflikt konnte nicht an einem Tag beigelegt werden und brauchte mehr Worte und Taten, als in der knappen Zeit, die sie haben würden, möglich waren. Charna wurde ungeduldig, als sie daran dachte, dass sich ihre Patentante in Gefahr befinden mochte. Doch selbst Gorak mit seinen Kriegern und den abtrünnigen Sjögadrun musste sich vorsehen. Jenara und die Tjolfin waren mächtige Gegner und äußerst gefährlich. Geduld lohnte sich, wenn Uskai sie zu Jenara führen konnte. Sie vermieden so unsinnige Auseinandersetzungen auf dem Weg zu ihr und seine Fürsprache konnte Jenara offen für das Angebot machen, was sie ihr unterbreiten würde.

Asyl.

Eine rechtmäßige Herrscherin der Frostreiche in der Sicherheit von Idraks ewigen Mauern war besser, als eine Gottkaiserin, die im Kampf starb. Herrscher wurden niemals Märtyrer, sie wurden gestürzt und in Geschichtsbücher verdammt. Gorak und Wira durfte es nicht erlaubt werden, einen Rechtsanspruch auf den Thron in Tojantur zu erheben. Die Gewalt, mit der das teuflische Duo die Frostreiche peinigte, würde große Teile der Bevölkerung auf eine Rückkehr Jenaras hoffen lassen. Sie brauchten diese Unterstützung, wenn sie nach dem Sieg über die Usurpatoren Stabilität zurück nach Grandtal bringen wollten. Doch das lag noch in weiter Zukunft. Jetzt mussten die Maschinenwächter besiegt und alles getan werden, um die Bedrohung durch die Subrada abzuschätzen.

Charna spazierte unter den Eiszapfen an der Höhlendecke und am Ufer des Sees entlang. Sie grübelte über die vielen Verwicklungen nach, die Jenara und sie entfremdet hatten. Alles ließ sich auf ihre Mutter, Sarinaca, zurückführen. Ihr jähes Verschwinden hatte ganz Kabal in eine Krise gestürzt, deren Nachwirkungen bis heute anhielten und die Zukunft der Welt formten. Jenara hatte sich nie mit Cendrine verstanden, sehr wohl aber mit Sarinaca. Charna hob den Unterarm und spreizte gedankenverloren die Finger. Sie erspürte die fließende Entität des Wassers und formte es unbewusst nach ihrem Willen. Aus dem See wuchs eine Form, die unnatürlich schnell zu Eis erstarrte und die Gestalt ihrer Mutter annahm. Überlebensgroß und perfekt in jeglicher Hinsicht lächelte Sarinaca auf ihre Tochter herab. Doch es war nur ein lebloses Abbild, eine tote Statue. Charna ließ die Hand sinken und beobachte, wie das Eis ins Wasser zurücksank, wieder eins mit ihm wurde.

»Du vermisst sie, nicht wahr?«

Uskais Stimme erklang in der Hochsprache der Frostreiche neben ihr. Sie hatte seine Präsenz bereits gespürt, als er die Tunnel der Eiswürmer durchquerte. Er war gerannt und schien immer noch ein wenig außer Atem zu sein.

»Du hast dich beeilt. Lass uns deine Bemühungen ehren und keine Sekunde verschwenden. Jenara braucht unsere Hilfe und ich brauche Jenara. Lass uns Seraphia holen.«

»Wer ist deine schöne Begleiterin?«

Charna warf Uskai einen Blick zu. »Hast du inzwischen nicht wenigstens eine Frau geheiratet, du alter Schwerenöter?«

Uskai schwieg und blieb stehen. Charna drehte sich um, als der ungewöhnlich große Mann seinen Bärenschädel zur Seite neigte.

»Du hast es nie verstanden, oder?«

»Was meinst du?«

»Sieh das Zeichen auf meiner Brust an und sage mir, was es bedeutet!«

Charna musterte das Symbol der Bärentatze mit den scharfen Krallen. »Ich kenne das Symbol irgendwoher, doch ich weiß nichts über seine Bedeutung.«

Uskai seufzte. »Die Ärunumir. Männern von meiner Gestalt wird es gestattet, dem Orden beizutreten. Einem Ordensbruder ist es jedoch nicht erlaubt, eine Ehe oder ähnlich feste Beziehungen zu führen.«

»Die Ärunumir … ich erinnere mich. Euer Orden ist hochangesehen. Du hast es weit gebracht!«

Uskai sah sie eine Weile an. »Ja, in der Tat. Ich bin Führer meines Ordens geworden. Die meisten von uns fielen in den Gemetzeln der letzten Tage.« Uskai sah Charna in die Augen. »Als du fort warst … ich hatte nichts mehr. Ich wollte keine Frau außer dir.«

Charna schluckte. »Ich habe jahrelang an unsere gemeinsame Zeit gedacht. Ich konnte dich nie vergessen. Ich wäre zurückgekehrt. Doch eines Tages …«

Sie schwiegen länger, als erträglich war.

»Das Leben geht weiter. Ich freue mich, wieder mit dir zu sprechen. Bist du verheiratet?«

Charna lächelte. »Nein. Aber ich bin nicht allein.«

Uskai seufzte. »Das habe ich mir gedacht. Ich habe oft an dich gedacht, Sumi.«

Charna trat zu ihm und streckte sich. Sie streichelte Uskai über die Wange. »In kalter Nacht …«

»… und dunkler Höhl`, willst du meine Gefährtin sein? Du hast den Schwur nicht vergessen?«

»Niemals. Doch wir sind nicht mehr, wer wir waren, Uskai.«

Er nickte und lächelte, was eine Reihe scharfer Zähne entblößte. »Lass uns diesen Wahnsinn überleben, damit wir uns weiterhin an unsere gemeinsame Zeit erinnern können.«

Charna ergriff kurz seine Hand und lächelte, bevor sie ihren Weg zu der Bank fortsetzte, auf der Seraphia ruhte. Sie fühlte sich unwohl. Sie hatte Uskai nie vergessen, doch er war Teil einer Vergangenheit, die sie nur noch als solche sah und nicht erneut durchleben wollte. Als sie sich nicht mehr sehen konnten, hatte sie oftmals mit dem Gedanken gespielt, den Orden und Iidrash hinter sich zu lassen. Seinetwegen. Irgendwann hatte sie diese Impulse als töricht und kindisch verworfen. Sie ahnte, dass seine Gefühle in den letzten zwei Jahrhunderten beständiger gewesen waren. Sie hatte oft vermutet, dass er bereits als alter Mann gestorben sei. Sie schämte sich dafür, war er doch offensichtlich bei vollen Kräften und noch fern von seinen Zwielichtjahren. Ihre Gefühle ließen sie unsicher werden und riefen Zweifel wach. Es rührte sie zutiefst, dass er immer noch an ihr hing. Doch sie hatten als Paar keine Zukunft, nur eine Vergangenheit. Seral war jetzt der Partner ihrer Wahl und sie hatte ihm ihr Herz geschenkt.

Ich muss sachlich bleiben. Diese Sentimentalitäten sind nicht gut. Jetzt ist nicht die Zeit für Gefühle.

Sie bückte sich zu Seraphia und schüttelte sie sanft aus dem Schlaf. »Wach auf, Sera!«

Seraphia blinzelte einen tiefen Schlummer fort und setzte sich benommen auf. Uskai hatte einen Trinkschlauch von seinem Gürtel genommen.

»Met?«

Seraphia musterte den Trinkschlauch. »Was ist Met?«

»Ihr keinen Met in Iidrash haben?«, fragte Uskai in der Hochsprache Iidrashs.

»Die Importe sind rar geworden, seit dem Krieg mit den Frostreichen«, sagte Charna und reichte Seraphia den Beutel, nachdem sie selbst einen Schluck genommen hatte.

Seraphia trank vorsichtig und nahm dann noch einen kräftigen Schluck. »Besser als Wein!«

»Ich immer sagen!«, grunzte Uskai. »Bis trinken zu viel«, sein Lachen war tief und leise.

Charna zog Seraphia auf die Beine. »Hoch mit dir! Wir müssen Jenara vor Gorak retten. Ich habe beschlossen, ihr Asyl zu gewähren. Sie darf in diesem Kampf nicht fallen. Sie kann offiziell im Exil von Idrak aus herrschen, bis sie nach Tojantur zurückkehrt.«

Charna musterte Seraphia eindringlich. »Wie geht es dir?«

»Besser. Es ist still … im Moment.«

»Gut. Bleib in meiner Nähe!«

»Ich Heilmittel besorgen kann auf Weg«, sagte Uskai.

»Das einzige Heilmittel gegen … meinen Zustand wollen wir besser vermeiden, wenn wir zu Jenara vordringen«, sagte Seraphia und ging zum Höhlenausgang voraus.

»Was meint sie damit?«, fragte Uskai in seiner Muttersprache.

Charna sah ihr besorgt hinterher und antwortete ihm in derselben Sprache. »Sie meint den Tod, Uskai. Und das gefällt mir nicht.«

Sie hatten Seraphia bald eingeholt. Charnas ehemaliger Geliebter ging jetzt voran und führte sie durch die Eiswurmtunnel zurück zu der gewundenen Treppe. Sie erreichten den Ort, wo sie sich getroffen hatten und gingen in die Richtung, aus der Uskai mit den Flüchtlingen gekommen war.

»Wir Korridoren folgen, bis kommen zu Abgrund. Alte Brücke noch intakt ist und auf Seite gegenüber Riss in Eis von Steilwand. Er führen hoch. Hoffen ich, ihr gute Kletterinnen.«

Charna lachte leise. »Sorge dich nicht darum, ich hab gelernt zu fliegen. Wie geht es danach weiter?«

Uskai lachte, weil er Charnas Worte für einen Scherz hielt. »Wir erreichen Zugang zu Brücke. Alter Tunnel uns in Nähe Ügdra-Sill bringen, wo Jenara-Sjödra warten.«

In den Gängen und Fluren auf ihrem Weg hörte Charna das Knacken des Eises und fühlte die kalte Luft in den Lungen. Sie roch Uskai und Erinnerungen an ihre Jugend kehrten mit gemischten Gefühlen zurück. Sie hatte Jenara dafür gehasst, dass sie ihr die Rückkehr in die Frostreiche unmöglich gemacht hatte. Uskai musste es ähnlich ergangen sein. Doch in dieser Situation waren sie beide von Neuem vereint, um ausgerechnet ihr zur Hilfe zu eilen, eventuell sogar das Leben zu retten. Sie hätte gern darüber gelacht, aber sie konnte einfach nicht.

Sie erreichten das Ende des letzten Korridors und standen vor einer breiten Terrasse, der eine filigrane Brücke aus Metall entsprang. In einem kühnen Bogen dehnte sie sich über einen Abgrund, der durch eine Spalte im Eis entstanden war. Sie näherten sich vorsichtig der Brücke, den Schatten der Pfeiler und Säulen ausnutzend, die am Ende der Terrasse zum Abgrund hin errichtet worden waren. Charna ließ ihren Blick schweifen. Sie kannte diesen Ort. Das obere Ende wölbte sich in großer Höhe über ihnen und war nur ein schmaler Schlitz, die meiste Zeit des Jahres von frischem Schnee und Eis überdeckt. Unter ihnen fielen die eisigen Felswände in die Finsternis des Gebirges hinab.

Uskai wies in die Höhe und sprach in seiner Muttersprache. »Da oben, wo der Vorsprung zu sehen ist. Was jetzt von Eis umhüllt ist, gehörte ursprünglich zu der Brücke, die ich erwähnte. Der Rest ist in den Abgrund gestürzt.«

Charna nickte, winkte Seraphia heran und schlang einen Arm um ihre Hüfte.

»Nun komm schon, alter Brummbär!«, sagte Charna lachend, als sie Uskais verständnisloses Gesicht sah. »Wir wollen keine Zeit verlieren!« Uskai trat näher und Charna reichte ihm ihre Hand. »Halt dich am Besten an meinem Arm fest!«

Sobald Uskai zupackte, erhob sich Charna in die Luft, das Gewicht des Bärenmannes und Seraphia trug sie problemlos mit. Sie schoss nach oben auf die Öffnung zu, während Uskai unwillig grunzte, als sie sich über der Finsternis des Abgrundes bewegten.

»Du kannst fliegen? Du kannst fliegen! Ich glaube es nicht!«, rief er verblüfft und hielt krampfhaft an Charnas Arm fest.

Sie erreichten den Brückenrest und landeten auf der kleinen Terrasse dahinter. Sie schlichen sich sofort zum Korridor, der sie in die Nähe des Heiligtums bringen würde. Ein massives Gitter neueren Datums versperrte den Weg. Charna bog zwei der Streben mit einem telekinetischen Befehl auseinander. Das Geräusch des sich verwindenden Metalls echote den Gang hinauf. Sie warteten eine Weile, bevor sie weitergingen, da sie halb erwarteten, jemand würde der Ursache des Lärms nachforschen. Doch andere Geräusche drangen nun zu ihnen. Sie eilten voran und ihre Schritte hallten zwischen den vereisten Wänden, die auch hier aus Metall und Stein bestanden. Von der Kälte zersprengte Statuen und Urnen säumten den Gang. Die Lampen über ihnen funktionierten nicht und der Korridor war in ein trübes Dämmerlicht getaucht, das zur Hälfte aus dem Abgrund hinter ihnen und aus einer erleuchteten Halle vor einem breiten Durchgang stammte, aus der es immerfort hell aufblitzte.

Charna erhob sich in die Luft und näherte sich der Halle unter der Decke, während Seraphia und Uskai sich im Schatten links und rechts heranschlichen. Erstickte Schmerzensschreie aus den rauen Kehlen erschöpfter Frauen wechselten sich mit den unmissverständlichen Geräuschen der Anwendung magischer Kräfte ab. Es fand ein Kampf stand, doch die metallischen Klänge und spröden Kriegsschreie, die mit dem blutigen Handwerk von Goraks Kriegern einhergingen, fehlten gänzlich. Der Singsang der alten nordischen Sprachen ertönte aus den heiseren Kehlen von Eishexen.

»Wartet!«, flüsterte Charna und schwebte unter der Decke tiefer in die Halle, in der gigantische Statuen die Wände säumten. Im Zentrum, auf einer erhöhten Plattform, welche nur über Stege erreichbar war, die einen gähnenden Abgrund überbrückten, erhob sich der große Kristall Tojanturs. Mehr einem Baum gleichend, der sich aus abertausenden verzweigter, glasklarer Kristallarme gebildet hatte, erhob er sich im Licht eines breiten Strahls, der aus einem kunstvoll gearbeiteten Schacht über der Plattform fiel. Jenara stand auf einem der Stege über dem Abgrund und hielt die Hände von sich gestreckt, einen Schutzschild über sich wirkend, während mehrere Eishexen ununterbrochen von allen Seiten attackierten. Eistrahlen und Tentakel aus Kristall, geschleuderte Eiszapfen und gleißende Blitzstrahlen schossen aus den erhobenen Händen der Tjolfin, während diese einen gemeinsamen Singsang intonierten, der wie ein unheilvolles Gebet von den Wänden zurückschallte. Jenara würde den Angriffen nicht mehr lange standhalten können.

Verrat! Jenara ist von den Tjolfin verraten worden! Nicht von allen, wie es scheint, eine von ihnen ist tot, neun kämpfen gegen sie und zwei verstecken sich hinter der Statue von Ihadrun.

Charna gelang es ohne Probleme, unbemerkt von den Kämpfenden zu den beiden versteckten Tjolfin vorzudringen, die sich beinahe zu Tode erschraken, als sie Charna erkannten. Sie erhoben reflexartig die Hände, doch Charna legte einen Finger an den Mund.

Sie flüsterte. »Haben die anderen Tjolfin Jenara verraten?«

Eine rothaarige Eishexe mit dem Gesicht eines Mädchens und den Augen einer weisen Frau antworte mit beißender Stimme. »Seid Ihr gekommen, um die Vollendung Eures Werkes zu betrachten?«

»Sei nicht töricht! Ich bin hier, um mit Jenara zu sprechen! Uskai ist mit mir gekommen. Helft mir gegen die Verräterinnen, dann ist genug Zeit zum Reden!«

Die beiden Tjolfin warfen sich einen Blick zu und nickten. Eine von ihnen hatte offenbar einen Unterarm verloren, doch die Wunde war kauterisiert.

»Kannst du kämpfen?«, fragte Charna mit einem Blick auf die Verstümmelung.

Die blonde Eishexe, deren Gesicht von blauen, pulsierenden Adern überzogen war, nickte schmerzverzerrt und zeigte grimmig ihre blutigen Zähne. »Bis zum Tod!«

»Dann los!«

Charna lugte um eine Ecke, gab Uskai und Seraphia ein Zeichen und entließ einen Feuerstrahl auf diejenige Eishexe, die ihr am nächsten war. Der rotleuchtende Strahl erfasste die zierliche Gestalt und warf sie mit Gewalt gegen Jenaras Schild. Sie prallte mit einem grellen Funkenschlag ab. Sofort war sie wieder auf den Beinen und schleuderte Charna zwei nadelfeine Eisstrahlen entgegen. Charna wich so schnell aus, dass sie zu einem verschwommenen Schemen wurde. Die Steinstatue, die Jenaras Vater in einer mehr als zehn Schritt hohen Form verkörperte, wurde von den Strahlen auf Höhe der Knie zerteilt. Nur eine Schrecksekunde hielt sie noch, dann kippte sie vornüber und fiel laut krachend auf den erbebenden Steinboden.

In dieser Sekunde reagierten auch die übrigen Tjolfin. Eine stürzte sich auf Seraphia und Uskai, zwei traten ihren ehemaligen Schwestern gegenüber und zu Charnas Gegnerin gesellten sich weitere der abtrünnigen Eishexen. Die Halle erbebte unter den Energien, die sie jetzt unfreiwillig beherbergte. Die Macht der Elemente wurde entfesselt, schlug mit Feuer und Eis auf die Mauern und Streben, die Jahrhunderte alten Skulpturen und Fresken ein, die das innerste Heiligtum Tojanturs schmückten. Seraphia entließ mächtige Feuerstrahlen glühender Vernichtung, die jedoch von den Tjolfin wirkungslos abprallten. Sie verließ sich allein auf ihre Fähigkeiten als Priesterin des Ordens. Die Macht der Dunklen Flamme ließ unangerührt und hatte damit keine Chance. Der Gegenangriff schleuderte sie durch die Halle und gegen eine Statue. Charna schrie entsetzt auf. Sie bezahlte sofort den Preis für die Ablenkung ihrer Konzentration und wurde von zwei mächtigen Tentakeln aus schneidenden Strängen tödlich kalter Kristalle gepackt. Die Magie war mächtig, verbiss sich mit rasiermesserscharfen Klingen in ihre Haut. Ihr Pentacut erglühte augenblicklich, bis es Funken schlug.

»GENUG!«

Die Halle erzitterte.

Ihre Stimme trug die Macht der Hohepriesterin des Ordens vom Brennenden Blut mit sich. Die Eistentakel zersprangen mit einem lauten Klirren in tausend Splitter und Charna schoss durch die Luft. Sie ergriff eine der Tjolfin und rammte sie mit Gewalt in den steinernen Boden. Fliesen zerbrachen, Bruchstücke wurden aufgeworfen. Ein paar gefährliche Risse bildeten sich und eine der Brücken zu der Plattform mit Jenara und dem Kristallbaum sackte ab. Ein Bersten und Krachen erschütterte die Halle.

Doch die mächtige Eishexe war noch am Leben!

Sie packte Charnas Arm und versuchte, die Hand der Hohepriesterin von ihrer Kehle zu entfernen.

Charna öffnete den Mund.

Sie entließ den Atem der Kraindrachen und verbrannte die Hexe. Ihre Kleidung verglühte auf der Stelle und Charnas Feueratem ließ die Haut der Tjolfin zuerst rot werden, dann warfen sich Blasen auf. Die Eishexe schlug scheinbar unbeeindruckt von ihrem nahenden Ende gegen Charnas Gesicht, ihre Fäuste hieben mit Macht auf den Kiefer der Hohepriesterin ein und der Feueratem wurde abgelenkt. Charna packte die Arme der Eishexe und schleuderte sie quer durch den Raum, wo sie in die Wand krachte und in dem entstandenen Loch steckenblieb. Immer noch lebendig und bei Bewusstsein, kämpfte sich die halbverkohlte Hexe schwer verletzt aus dem Loch hervor. Sie spuckte aus, intonierte krächzend eine Anrufung und ließ die Macht der Elemente in ihre geballten Fäuste preschen.

Zähes Biest!

Charna wandte sich besorgt um ihre Gefährten um, und sah im letzten Augenblick, wie sich Uskai auf eine Tjolfin stürzte, die den Bärenmann beinahe beiläufig zur Seite warf. Er wurde zurück in den Korridor geschleudert und war außer Sicht. Seraphia blieb bewusstlos, doch Charna blieb keine Sekunde länger, um sich um ihre Begleiter zu sorgen, denn sofort wurde sie von Neuem angegriffen. Zwei Eishexen nahmen sie ins Kreuzfeuer und ließen Eiszapfen aus dem Boden wachsen, wo Charna stand. Sie sprang reflexartig in die Luft und erkannte ihre Fehler. Die dritte Tjolfin, die sich von Charnas Angriff erholt hatte, ließ einen gewaltigen Blitz aus ihren Händen schießen, der sie mitten in die Brust traf. Sie wurde von der Macht seiner Energie quer durch die Halle geschleudert und prallte gegen die bronzene Statue einer alten Frau. Die Hitze des Blitzes zerschmolz die Bronze augenblicklich und ließ sie über Charnas Körper spritzen. Ihre linke Seite wurde beinahe vollständig von dem glühenden und flüssigen Metall bedeckt. Zum ersten Mal seit ihrem Kampf mit den Ugroth-Giganten spürte Charna Todesangst. Ihr Pentacut glühte funkensprühend auf und einer der Blutrubine zersprang in einer lautlosen Explosion. Eine karminrote Wolke aus dem Staub des einzigartigen Juwels stieg vor ihren Augen auf.

Schmerzen ließen sie unfreiwillig aufkreischen.

Doch ihr Schrei ging in dem Lärm zweier Blitzstrahlen unter, die unvermittelt von links und rechts auf sie einschlugen und mehr von dem zerschmelzenden Metall auf sie tropfen ließen.

Dies ist nicht mein Todestag!

Charna schüttelte das flüssige Metall ab, erhob sich in die Luft und schrie ihre Wut hinaus. Ihr Körper veränderte sich. Flammen hüllten sie ein und ihr Bewusstsein erweiterte sich. Für einen Augenblick hielt die Zeit an, verharrten Blitze in der Luft, setzte Stille ein. Es war, als ob sie eine auf Leinwand gebannte Szenerie betrachtete. Unter ihr standen drei Tjolfin und schleuderten Blitze auf sie. Jenara wehrte sich gegen weitere der Verräterinnen und hatte eine von ihnen verwunden können, ohne ihren Schild fallen zu lassen. Die treuen Tjolfin kämpften gegen ihre beiden Schwestern und keine Seite gewann die Oberhand.

Charnas Herz schlug und pumpte das Brennende Blut durch ihre Adern. Die Macht ihrer Drachengestalt erhob sich. Ihr Feuerdrachenleib reckte sich imposant über die drei Eishexen empor, die sich dennoch unerschrocken weiterhin mit ihrer ganzen Macht auf sie warfen. Charna stürzte vor und schnappte die Erste der Tjolfin. Ihre flammenden Zähne schlugen in den Leib der schreienden Eishexe und zermalmten sie innerhalb eines Lidschlags. Als sie den zerschundenen Körper hinabschlang und dieser flammend in ihrem Leib zerging, fielen die übrigen Tjolfin einen Augenblick zurück. Charna zögerte keine Sekunde und verbrannte eine weitere ihrer Gegnerinnen mit einem feurigen Strahl, der gewaltig aus ihrem Drachenschlund schoss und ein Loch in den Boden brannte, nichts als glühende Asche von der Hexe übriglassend. Jenara hatte Gelegenheit zu einem Vorstoß und zerteilte eine Tjolfin vom Scheitel bis zum Schritt mit einer gläsernen Klinge, die in ihrer Hand erschienen war. Die zappelnden Hälften kippten auseinander und waren bald reglos.

Jenara warf Charna einen Blick stummer Verständigung zu.

Sie zerfetzte eine weitere Gegnerin mit den Klauen, warf die Überreste auf die Tjolfin, die noch kämpften, und ließ ihren Feuerstrahl auf sie schießen. Die Eishexen, die von ihrem Angriff auf Jenara geschwächt waren, hatten keine Chance zur Gegenwehr und gingen schreiend in Flammen auf oder wurden von den Attacken der beiden Tjolfin, die Jenara die Treue hielten, zurückgeworfen. Die letzten Gegnerinnen erstarrten inmitten der Froststrahlen aus Jenaras Händen zu Eis. Charna zerbrach ihre gefrorenen Körper mit den Klauen in tausend Bruchstücke, die in einem Scherbenregen auf den Boden niedergingen.

Die Verräterinnen waren besiegt.

Mit einem Aufglühen verwandelte Charna sich zurück in ihre normale Gestalt. Sie eilte sofort zu Seraphia und half ihr auf. Ihre Kleidung war zerrissen, doch das Pentacut hatte sie vor größerem Schaden bewahrt.

»Uskai! Ich muss mich um ihn kümmern!«, rief sie und rannte zurück in den Korridor.

Der Bärenmann lag in einer Pfütze seines dunklen Blutes am Boden einer umgefallenen Statue. Der Hieb der Tjolfin hatte ihn auf den steinernen Speer der Statue gespießt, der ihm steil aus dem Unterleib ragte. Die Verwundung war tödlich, doch er atmete noch und sog die Luft röchelnd ein.

»Sumi, mein Herz! Deinen Duft vergesse ich nicht. In kalter Nacht …«

»… und dunkler Höhl`, willst du mein Gefährte sein?«

Charna sprach die Worte schluchzend und versuchte verzweifelt, einen Heilzauber zu wirken, doch Uskais Essenz war bereits aus seinem Körper gewichen.

NeinNeinNeinNein! Bleib bei mir Uskai! Geh nicht fort, geh nicht …

Ihre Gedanken verloren sich in Schmerzen, die ihre Kehle zuschnürten und sie schwach und elend machten.

Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter.

Jenara sprach leise. »Er ist fort, Charna.«

Zorn flammte in ihr auf und sie schlug Jenaras Hand fort. Doch sie riss sich zusammen, bevor sie ihr Wort an sie richtete. »Welch Ironie des Schicksals! Ausgerechnet Uskai und ich eilen zu deiner Rettung, nur damit er den Tod dabei findet.«

Jenara sah auf Uskai hinab und kniete sich neben ihn. Ihre Hand legte sich auf seine Augen und schloss sie sanft. »Dieser Kampf hat bereits zu viele Opfer gekostet. Ohne deine Hilfe hätten mich die Verräterinnen heute besiegt. Ich habe mich in dir getäuscht Charna. Ich habe mich in so vielen Dingen geirrt. Ich weiß nicht mehr, was ich noch tun soll. Die Frostreiche fallen unter Goraks Geißel und hinter allem steht Wira. Ich habe ihr nie getraut, dennoch hat sie mich mit Intrigen und … politischem Kalkül ruiniert. Goraks Männer werden bald hier eintreffen, die Sjögadrun stehen größtenteils hinter ihm oder werden in seine Dienste gezwungen. Die Kristallesche wird Wira in die Hände fallen, die Macht Tojanturs wird ihr gehören. Ich bin am Ende.«

Charna wandte sich von Uskais Leichnam ab. Sie musste klar denken. »Was hat es mit dem Kristallbaum auf sich? Ich habe das Ding bisher nur für eine Dekoration gehalten.«

Jenara richtete sich auf. »Ihadrun und die Kristallesche kommunizierten miteinander. Er bezog seine Macht aus ihr und damit aus Tojanturs Tiefen, in denen mehr Geheimnisse verborgen liegen, als irgendjemand sagen kann. Seit mein Vater fort ist, spricht Ügdra-Sill zu mir.«

»Dann frag dieses Ding doch! Vielleicht ist es nicht notwendig, es hier zu beschützen.«

»Was sollte ich denn anstelle dessen tun? Flüchten?«

»Herrschen sollst du! Und zwar von Idrak aus. Wir müssen verhindern, dass du im Kampf gegen Wira fällst. Du musst hierher zurückkehren, wenn wir Gorak und Wira besiegt haben.«

Jenara musterte Charna. »Du willst mir helfen?«

»Jede andere Entscheidung wäre falsch, so verlockend ich es auch fände, dich die Früchte deiner Entscheidungen kosten zu lassen.« Charna fletschte die Zähne. »Aber wir müssen Kabal zusammenhalten. Die Maschinenwächter sind erwacht. Die Subrada lauern in der Finsternis zwischen den Welten und der nächste Verräter mag nicht fern sein.«

Jenara zuckte zusammen. »Was ist mit den Subrada?«

»Ich hoffte, du könntest uns das sagen. Wir nehmen an, dass meine Mutter und dein Vater in diesem Augenblick gegen sie kämpfen.«

»Er lebt? Und Sarinaca auch?«

»Ja. Kukulkan hat sie aufgespürt.«

Jenara warf die Stirn in Falten. »Der Gott der Sidaji ist nicht bei Sinnen.«

»Du irrst dich erneut! Ich rate dir dazu, aus deinen bisherigen Fehlern zu lernen und mir zu glauben. Und lerne schnell! Kukulkan ist auf dem Weg in die Flammengrube. Er wird uns im Kampf gegen die Maschinenwächter mit neuen Maschinen unterstützen.«

»Du willst zulassen, dass er noch mehr von diesen Monstern erschafft?«

»Wir müssen Feuer mit Feuer bekämpfen, das ist unsere einzige Hoffnung. Und spar dir deine Kritik. Es sind über zwölftausend von den alten Maschinenwächtern erwacht und ich habe die Befürchtung, das ist nur ein Teil der Streitmacht, die noch unter der Erde ruht.«

Jenara wurde blass. »Kabal wird untergehen. Die Frostreiche sind in den Händen von Wahnsinnigen, die Maschinenwächter erwachen und du sprichst von den Subrada.«

»Wer sind sie?«

Jenara schüttelte schwach den Kopf. »Sie werden unser Untergang sein. Wir sind am Ende.«

Charna gab Jenara eine Ohrfeige. Das Geräusch hallte wie ein Peitschenhieb zwischen den Wänden des Korridors. Jenara zuckte zusammen und hielt sich die Wange.

»Hör auf damit! Du bist die Gottkaiserin der Völker der Frostreiche. Benimm dich entsprechend! Ich lasse mir eher deine Anfeindungen gefallen als deine Resignation. Du wirst mit mir kommen! Und von Idrak aus werden wir deine nächsten Schritte planen. Wenn du dich weigerst, werde ich dich bei den Haaren packen und den ganzen Weg hinter mir her schleifen!«

Jenara atmete heftig und sah Charna entgeistert an.

Die beiden treuen Tjolfin kamen nun zu ihnen. Die Verletzte mit dem abgetrennten Arm stützte sich schwer auf ihre Gefährtin und spuckte Blut aus. Sie holte tief Luft und sprach heiser und röchelnd zu Jenara.

»Tut, was sie sagt, meine Gebieterin! Es ist der einzig vernünftige Weg. Wir können heute nicht gewinnen, aber wir dürfen nicht aufgeben! Zerschlagt die Kristallesche! Sie wird eines Tages nachwachsen, aber bis dahin kann Wira ihre Macht nicht nutzen!«

Jenara starrte die Tjolfin entsetzt an. Dann straffte sich ihre Gestalt und sie warf Charna einen ernsten Blick zu.

»Wie können wir die Kristallesche zerstören?«

Jenara rieb sich das Gesicht und zögerte lange, bevor sie antwortete. Die beiden Tjolfin waren nervös und starrten sie ungeduldig an. Die Verletzte verlor schließlich die Geduld.

»Sag es ihr oder ich tue es, verdammt nochmal! Ich bin es leid, deinen Mangel an Entschlussfreudigkeit noch länger zu ertragen!«

Der wütende Ausbruch der Tjolfin ließ Jenara erneut zusammenzucken. Sie ließ die Schultern resigniert hängen und ging zurück in die Halle. Die anderen folgten ihr, als sie vor den Baum trat und sich an seinem Stamm niederkniete. Nach einer Minute richtete sie sich langsam auf und ließ ihre Hand über das Kristall gleiten, dann zog sie sich zurück. Als sie die Plattform verließ, hörten sie einen leisen Laut, wie von einem kleinen Glöckchen aus Glas. Ein Riss bildete sich und ein Ast der Kristallesche knickte ab, fiel zu Boden und zerschellte mit einem lauten Krachen. Dann stürzte der Rest der Kristallesche ins sich zusammen und ein Rumpeln ging durch das Heiligtum Tojanturs.

»Wir müssen fort! Das Eis wird den Ort zurückerobern«, sagte die rothaarige Tjolfin und sah dabei Charna an.

Ich spüre die Blockade nicht mehr. Vermutlich werde ich uns mit einer Teleportation fortbringen können.

Aus dem Korridor, der von der anderen Seite her in das Heiligtum führte, ertönten die Rufe von Soldaten, die in großer Zahl näher rückten.

»Sie kommen!«, rief Seraphia.

Charna hob die Hand und erfasste Seraphia, Jenara, die beiden Tjolfin und den toten Uskai. Durch die Zerstörung der Kristallesche war es Charna möglich, sie direkt von Tojantur nach Idrak zu teleportieren und sie materialisierten in den Hallen der Kranken, wo man sich sofort um die Verletzte Tjolfin kümmerte. Charna machte Anweisungen, den Leib Uskais mit aller Sorgfalt für eine ehrenvolle Bestattung vorzubereiten. Sie musste sich zusammenreißen, bei seinem Anblick nicht in Tränen auszubrechen und versetzte Jenara, die unverletzte Tjolfin und Seraphia augenblicklich in die Halle des Feuers. Sobald sich die Verwirrung des erneuten Ortswechsels gelegt hatte, wies Charna auf die Stühle um den großen Steintisch.

»Ich will alles über die Ereignisse auf Kitaun und die Subrada erfahren! Und zwar jetzt.«

Jenara nahm zögernd Platz. »Wie du wünschst.«

»Zeig mir das Amulett!«, sagte Charna.

Jenara sah sie überrascht an und ihre kalte Fassade zerbrach mit einem Ausdruck der Verletzlichkeit, der Charnas Mitleid hervorrief.

»Ja, ich weiß davon. Du trägst es noch.«

Jenara zog an der Kette um ihren Hals und nahm das Amulett ab, hielt es mit beiden Händen vor sich. »Es war eine große Ehre. Die Anerkennung durch deine Mutter hat meinen Vater sehr stolz gemacht. Sarinaca war wie eine Mutter für mich. Sie war immer für mich da.«

Charna verspürte einen Stich der Eifersucht, den sie überrascht wahrnahm. Doch das Gefühl verging und mit einem Mal spürte sie einen Hauch der Verbindung, die zwischen ihr und Jenara einst gewesen war. Jenara fuhr fort, bevor sich die Stille weiter ausdehnen konnte.

»Wir begegneten den Subrada auf Kitaun nicht zum ersten Mal. Die Bedrohung durch ihr Vorrücken in unseren Sektor existiert seit langer Zeit. Wir nahmen an, dass wir sie auf Kitaun besiegt hatten, doch das war erst der Anfang. Sarinaca und mein Vater kämpften seit Kitaun im Verborgenen gegen sie. Sie haben eine Kopie des Gaar hergestellt, das ihnen die Abschottung von Weltenportalen ermöglichte. Es entstand ein Ring von Welten, die vor der Invasion durch die Subrada sicher sein sollten. Doch es scheint, die Subrada haben einen Weg gefunden, den leeren Raum zwischen den Welten mit Schiffen zu überwinden. So wie die Sidaji hierher gelangt sind. Einzelne Späher und Infiltratoren sind in den letzten Jahren gelegentlich aufgetaucht und von uns eliminiert worden. Mein Vater hat mich in die Hintergründe eingeweiht, kurz bevor er mit Sarinaca aufbrach.

Es dreht sich alles um das Feuer. Deine Mutter stahl es von den Subrada und brachte es nach Kabal. Cendrine half ihr, den Planeten zu verändern und zu dem zu machen, was er heute ist.«

»Also ist es wahr!«, sagte Charna und Seraphia nickte.

»Ihr wusstet davon?«, fragte Jenara und sah Seraphia und Charna überrascht an.

»Wir haben es kürzlich erfahren. Das war der Grund dafür, warum ich dieses Gespräch mit dir gesucht habe. Doch ich musste Gewissheit haben.«

Charna erklärte mit Seraphias Hilfe alles, was vorgefallen war. Jenara hörte schweigend zu und stellte einige präzise Fragen.

Sie strich sich ihre hellblauen Haare aus dem Gesicht. Ihre Niedergeschlagenheit wich einem Ausdruck der Sorge. »Also steht Kabal tatsächlich vor dem Ende. Die Frostreiche sind an Wira und Gorak verloren. Die Maschinenwächter sind allein ausreichend um den ganzen Planeten zu vernichten. Und die Subrada. Wir wissen nicht, ob sie auf dem Weg hierher sind. Doch mit dieser Bedrohung lebe ich schon seit Jahrhunderten. Es mag noch genauso lang dauern, bis sie eine Streitmacht auf den Weg hierher gebracht haben. Das Reisen durch den Weltraum muss mit vielen Gefahren verbunden sein. Wer weiß, ob sie es überhaupt schaffen?«

»Oder sie haben es bereits geschafft und warten nur auf den richtigen Zeitpunkt. So wie ich die Sache sehe, rückt dieser gefährlich nahe. Wir müssen die Maschinenwächter besiegen und die Frostreiche erneut unter deine Herrschaft bringen.«

Jenara starrte Charna an. »Unter meine Herrschaft? Du meinst sicher unter deine?«

»Wann verstehst du es endlich? Kabal muss überleben! Wir können das nur erreichen, wenn wir gemeinsam mit all unserer Kraft an einem Strang ziehen.«

»Das sagst du seit langer Zeit.«

Charnas Augen glühten auf. »Und meine es auch so! Komm endlich zur Vernunft!«

Die Tjolfin wandte sich an Jenara. »Die Hohepriesterin hat recht. Es wird Zeit, alte Überzeugungen zu überdenken. Weder können wir diesem Barbaren und Wira die Frostreiche überlassen, noch können wir die Maschinenwächter alleine besiegen. Und die Subrada waren damals auf Kitaun mächtige Gegner. Das habe ich nicht vergessen. Die anderen waren nicht dabei, sonst hätten sie sich nicht gegen dich gestellt. Es wird Zeit, die Dinge gerade zu rücken.« Die rothaarige Tjolfin erhob sich und zog an einer goldenen Kette. Sie trug ebenfalls eines der Amulette die Sarinaca treuen Anhängern verliehen hatte. Charna sah der Unsterblichen überrascht in die Augen.

»Ich, Gudrion, schwöre dem Orden des Brennenden Blutes die Treue, wie ich es einst gegenüber der Göttin des Feuers tat.«

Charna nickte lächelnd. »Dein Treueschwur wird geehrt werden, Gudrion.« Sie sah Jenara an.

»Dem Orden meine Treue«, sagte Jenara leise und hängte sich die Kette mit dem Amulett um. »Womöglich können wir Kabal retten. Wenn nicht, sterben wir wenigstens nicht wie Feiglinge.«

Eine grimmige Zuversicht war in Jenaras Stimme zurückgekehrt, doch Charna war sich nicht sicher, ob das ausreichte.

»Wir sollten noch an deiner Motivation arbeiten, Tantchen, aber fürs Erste muss es reichen.«

Jenara sah sie verblüfft an. »Das war‘s?«

»Oh nein! Es fängt gerade erst an.«

Das Feuer Kabals
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